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Ein Update der Erinnerungskultur?

Von Andreas Wirthensohn

Wissen

In seiner Streitschrift "Tränen ohne Trauer" fordert Per Leo einen neuen Umgang mit der NS-Vergangenheit.


Per Leo ist von Haus aus Historiker, hat bisher allerdings mit etwas anderen Büchern von sich reden gemacht. In dem autobiographischen "Roman einer Familie" mit dem Titel "Flut und Boden" erzählt er die Geschichte seines Großvaters, der in Diensten des NS-Regimes stand, und thematisiert dabei auch den Umgang der Enkelgeneration (er selbst ist Jahrgang 1972) mit der NS-Vergangenheit. Und in "Mit Rechten reden", einem Leitfaden, den er zusammen mit Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn verfasst hat, plädiert er dafür, konstruktiv mit Rechtsextremen und Rechtspopulisten zu streiten.

Nun legt er eine Streitschrift vor, in der er einen neuen Umgang mit der deutschen NS-Vergangenheit fordert. Sozusagen eine Erinnerungskultur 2.0, die zwei Tatsachen gerecht wird: dass die Zeitzeugen jetzt aussterben und damit die unmittelbare Verbindung zur NS-Zeit abbricht; und dass mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung schon wegen ihrer Herkunft keine Verbindungen mehr zu diesem finsteren Kapitel deutscher Geschichte hat.

Fragwürdig salopp

Tatsächlich gibt es Sätze in diesem Buch, die einem fast den Atem verschlagen. Etwa wenn Per Leo gegen Ende relativ frohgemut verkündet: "Die Lasten des Nationalsozialismus sind weitgehend abgetragen, die Aufträge, die er uns hinterlassen hat, alles in allem erfüllt, die Fragen, die er aufwarf, größtenteils beantwortet. Was bleibt, ist die Macht einer Geschichte, die uns mit einer Fülle von Geschichten umgibt."

Per Leo ist Historiker und Autor.
© Alexa Geisthoevel

Klingt das nicht schwer nach Schlussstrichmentalität, nach einem Wiederaufguss von Martin Walsers "Moralkeule Auschwitz" und der angeblichen "Dauerrepräsentation unserer Schande", die dem Dichter schon 1998 in der Frankfurter Paulskirche furchtbar auf die Nerven gingen? Nicht weniger befremdlich erscheint Per Leos Vorliebe für den Begriff des "Post-Arischen". Sich selbst bezeichnet er als "post-arischen Wurzeldeutschen", den Deutschen bescheinigt er einen "post-arischen Streberzionismus". Soll das witzig sein oder hip klingen?

Wirklich erkenntnisstiftend sind solche terminologischen Spielereien nicht. Man hat den Eindruck, dass hier wie in anderen Fällen die knackige Formulierung wichtiger ist als der Inhalt. Und auch mit der Polemik will es nicht so recht klappen. Wenn er Felix Klein, den Antisemitismusbeauftragten der deutschen Bundesregierung, als "ranghöchsten Anti-Antisemiten im Nachfolgestaat des Dritten Reichs" verhöhnt, dann fragt man sich, ob solche Kritik an Amt und Person nicht etwas arg unter der Gürtellinie ansetzt. Würde Björn Höcke von der AfD auf irgendeinem Marktplatz in Ostdeutschland so etwas sagen, wäre man eher nicht überrascht.

Rituale und Klischees

Andererseits gibt es viele Sätze in diesem Buch, die einen durchaus zu einigem Nachdenken anregen. Etwa wenn Leo gleich mehrfach, als eine Art Leitprinzip für das eigene Vorhaben, den amerikanischen Historiker Peter Novick zitiert: "Will man aus einer Begegnung mit der Vergangenheit wirklich etwas lernen, dann muss diese Vergangenheit in ihrer ganzen Unaufgeräumtheit erscheinen. Wird sie dagegen so lange geformt und ausgeleuchtet, bis sie eine inspirierende Botschaft mitzuteilen hat, wird sie kaum je Erkenntnis stiften."

Letzteres gilt in Leos Augen für die deutsche Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. "Maßlos" nennt er dieses Gedenken, erstarrt in ritualisierten Formeln und einer fehlgeleiteten Opferidentifikation verhaftet, die allein der eigenen Entlastung dient.

Dieses "Gedächtnistheater", wie er es im Anschluss an den Historiker Michal Bodemann nennt, hat viele Facetten: das Holocaustmahnmal in Berlin, das viele Juden ausgesprochen kritisch sehen und das die Deutschen eher für sich selbst, zur eigenen Entlastung gebaut hätten; die inzwischen routinemäßig absolvierten Gedenkfeiern; aber auch in Klischees ertrinkende Fernsehproduktionen wie der Mehrteiler "Unsere Väter, unsere Mütter". Das Geschichtsbewusstsein der meisten Deutschen, so Leo, "hat sich im Wohlfühlquadrat von Täterdämonisierung, Opferidentifikation, Demokratiestolz und Ambivalenzabwehr bequem eingerichtet".

Dreh- und Angelpunkt dieses Gedächtnistheaters ist nach Ansicht Leos der normative Satz von der Singularität des Holocaust. Soll heißen: Die Ermordung der europäischen Juden ist als Menschheitsverbrechen einzigartig, und wer es wagt, den Holocaust zu kontextualisieren oder mit anderen Massenmorden zu vergleichen, der wird sofort der Relativierung und Verharmlosung beschuldigt. "Die Ermordung der europäischen Juden war ein Verbrechen der Maßlosigkeit. Ein Denken, das es erfassen will, ganz gleich mit welchen Mitteln, darf darum nicht selbst maßlos sein. Vielleicht sollten wir in diesem Sinne den Satz von der Singularität des Holocaust nicht in jeder Form, aber immer dann, wenn er ein Bekenntnis fordert, als zu extrem erachten."

Analyse und Polemik

Am stärksten ist Per Leos Buch dort, wo es klug und nüchtern die Aporien der deutschen Erinnerungskultur herausarbeitet: dass der Historikerstreit von 1986 gar keine auf Erkenntnis zielende Debatte unter Fachkollegen war, sondern ein Kampf um Deutungshoheiten, den letztlich ein Philosoph - nämlich Jürgen Habermas - gegen ein paar Historiker - Ernst Nolte & Co. - für sich entschied. Dass Richard von Weizsäckers legendäre Rede von 1985, in der er den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung für die Deutschen markierte, genau damit eine willkommene (und schon seit Kriegsende populäre) Entlastung von den deutschen Verbrechen bot - denn wer befreit wird, muss bekanntlich zuvor unterdrückt (oder zumindest hinterlistig verführt) worden sein, nämlich von Hitler und seiner Nazi-Clique.

Oder dass Bundestagspräsident Philipp Jenninger 1988 wegen einer Gedenkrede zurücktreten musste, die auf eindrucksvolle Weise die subtile Alltäglichkeit des Antisemitismus im Jahr der Reichspogromnacht einzufangen versuchte. Als Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, ein Jahr später beim gleichen Anlass längere Passagen aus Jenningers Rede wortwörtlich übernahm, nahm niemand daran Anstoß.

Wenig überzeugend, ja oft sogar ärgerlich sind hingegen die Passagen, in denen Per Leo polemisch wird, in denen er seine persönlichen Erfahrungen zum Maßstab allgemeiner Betrachtung macht und in denen er reichlich nebulös einen neuen Umgang mit der NS-Vergangenheit postuliert. Hier wird das Buch selbst maßlos und vergisst leider, was es sich als Leitmotiv auf die Fahnen schrieb: nämlich auf Erkenntnis statt auf eine "inspirierende Botschaft" zu setzen.

Per Leo

Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur

Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 252 Seiten, 20,60 Euro.