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Ideale und reale Demokratie

Von Hans Högl

Reflexionen

Eine Rundschau von Athen über England, die USA und Frankreich bis zur Schweiz.


Demokratie ist ein umstrittenes Konzept. Seit der Antike wird diskutiert, ob sie tatsächlich die beste Staatsform sei. Athens Demokratie inspirierte die neuzeitlichen Modelle der "Herrschaft des Volkes", und die ersten davon finden wir in den Stadtstaaten Norditaliens ab dem 10. Jahrhundert: Hier gab es Ämterrotation, Redefreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz.

Die attische Demokratie folgte dagegen keinem Vorbild. Sie entsprang auch nicht einem genialen Kopf, ihr geht keine Theorie voraus, das Wort "Demokratie" begegnet uns auch erst ab 440/430 v. Chr. In ihrer Anfangsphase im 6. Jahrhundert v. Chr. steht ein politischer Traditionsbruch, mit dem Ziel, soziale Spannungen zu lösen: zwischen adeligen Familien mit großen Latifundien und bäuerlichen Pächtern, die unter der Last ihrer Schulden litten.

Das System Athens

Dem Adeligen Solon - die Historikerin Barbara Tuchman preist ihn in "Die Torheit der Regierenden" als den weisesten Politiker der Weltgeschichte - gelang es 594/93 v. Chr., die Situation zu entschärfen. Unter anderem tilgte er per Gesetz die Schuldenlast und politischer Einfluss war nun nicht mehr an die adelige Herkunft geknüpft, sondern an Einkommensklassen, womit reiche Händler und Handwerker aufgewertet wurden.

Alexander Hamilton, auf einem Gemälde von John Trumbull (1805).
© Public domain / via Wikimedia Commons

Nachdem Kleisthenes schließlich die attische Gesellschaft neu organisiert hatte, war Athen im Jahr 508 v. Chr. dann tatsächlich zur Demokratie geworden, wenn auch nicht dem Namen nach: Man sprach von isonomia, was gleiche Rechte, gleiche Teilhabe meint. Der alte Adelsrat wurde an den Rand gedrängt, die politischen Akteure der klassischen Zeit waren die Volksversammlung, der Rat und die Gerichte.

Die Mitglieder des "Rats der 500" und der Gerichte wurden jährlich per Los bestimmt, gewählt wurden nur Finanzbeamte und Heerführer. Die Volksversammlung der berechtigten Bürger (ekklesia) tagte 30 bis 40 Mal im Jahr. Der Ablauf war streng geregelt. Jeder Bürger durfte sich zu Wort melden - aber nur einmal - und jeder durfte einen Antrag stellen. Der "Rat der 500" legte nach einer Prüfung die Gesetzesentwürfe dem Volk vor. Nach (stundenlangen) Debatten wurde per Handheben abgestimmt, wer die Hand nicht hob, zählte zu den Ablehnenden. Enthaltung gab es nicht, und es galt die einfache Mehrheit. Für die Rechtsgültigkeit war ein Quorum von 6.000 abstimmenden Bürgern nötig.

In Athens Demokratie gab es mit Volksversammlung, Rat und Gericht also bereits Ansätze von Gewaltenteilung. Ihre größte historische Leistung lag darin, eine Gesellschaft gleichberechtigter Bürger zu schaffen, sie war jedoch nicht egalitär: Frauen, Fremde und Sklaven hatten keine Partizipationsrechte.

Ein Pionier des modernen Parlamentarismus ist England. Bereits im 13. Jahrhundert entsteht hier ein hochadeliger Kreis als Berater des Königs. Dieser Kreis wird im Laufe der Zeit breiter, trifft sich regelmäßig - und wird Parlament genannt. Die "Glorreiche Revolution" von 1688/89 bahnt den Weg zur konstitutionellen Monarchie und aufgrund der "Bill of Rights" kann der König nur noch mit dem, nicht aber gegen das Parlament regieren. Das Recht auf Widerstand gegen illegitime Herrschaft wird bekräftigt - und dies, während der Sonnenkönig in Versailles sich selbst als Verkörperung des Staates sieht. In der Hoch-Zeit des kontinentalen Absolutismus schuf England die Grundlagen der Demokratie, 100 Jahre vor der Französischen Revolution.

Ein Kind der Revolte

Dennoch ist Jean-Jacques Rousseau unzufrieden mit der parlamentarischen Demokratie Englands und schreibt 1762 im "Gesellschaftsvertrag": Das englische Volk wähnt sich frei zu sein. Doch es täuscht sich. Frei ist es nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in der Knechtschaft.

Eine Legitimation zur Wahlteilnahme von 1921.
© Kanton Glarus / Public domain / via Wikimedia Commons

Die liberale Demokratie der Neuzeit breitete sich im Zuge von Umbrüchen, (Welt-)Kriegen oder Revolten aus, wie durch die Französische oder davor die Amerikanische Revolution. Zum Krieg in Nordamerika war es gekommen, als sich die 13 britischen Kolonien zu emanzipieren suchten: Die puritanischen Siedler sahen nicht ein, dass im englischen Parlament Gesetze ohne ihre Mitwirkung beschlossen wurden.

Nach dem Sieg der Kolonisten drohten die jungen USA zu zerbrechen. Doch eine Gruppe um den Anwalt Alexander Hamilton plante eine erste Flächendemokratie. Hier zeigt sich ein interessanter Punkt: Es wird keine Utopie entworfen, in der Bürger immer zum Wohle aller handeln. Es wird vielmehr angenommen, dass sie oft von Ehrgeiz, Eigennutz und Habsucht getrieben werden.

So spricht aus der Verfassung der USA eine gehörige Portion Misstrauen gegenüber politischem Missbrauch der Macht. Zwar ist der Präsident nicht nur Staats- und Regierungschef, sondern auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Chef einer der beiden Parteien; er kann auch ein Veto gegen Gesetze einlegen; doch ist seine Macht durch den Kongress und das Oberste Gericht begrenzt. Freiheit vom Staat und Freiheit im Staat sind im Bewusstsein der Bürger sehr wichtig.

Das Experiment Hamiltons glückt: Die Massendemokratie bewährt sich. Allerdings bleibt den indigenen Völkern, den Schwarzen und den Frauen das Wahlrecht noch lange verwehrt (zudem in einigen Staaten auch besitzlosen weißen Männern).

Verbreitung in Wellen

In Frankreich ist die Demokratie ein Kind der Revolution ab 1789. Diese war ohne die Ideen der Aufklärung nicht denkbar. Laut Rousseau sind alle Menschen von Natur aus gleich und moralisch gut, das Volk gibt als Souverän die Gesetze. Rousseaus Ideal war die heimatliche Genfer Stadtrepublik. Ihm schwebte eine Selbstregierung des Volkes vor, er meinte damit allerdings nur die Besitzenden und schloss Frauen und Arme aus.

Mit der Idee von Demokratie ist auch die Nation gegeben - "wie der Schmetterling in der Raupe". Doch der Nationalstaat ist keine Kleinstadt, woran Rousseau dachte. Die Nation ist eine "vorgestellte Gemeinschaft", es sind Menschen, die sich solidarisch erklären, ohne sich gegenseitig zu kennen (so der Politologe Benedict Anderson). Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war denn auch das Motto der Revolution gewesen.

Obgleich Charles Montesquieu schon 1748 die Gewaltenteilung forderte - er lernte sie in London kennen -, blieb sie in der Revolution fast unbeachtet. Die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte im Jahr 1789 besagt, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind. Doch Frauen betraf dies nicht. Das Ende des ersten Revolutionsjahres brachte das Zensuswahlrecht für rund 40 Prozent der Männer, und so kam die Mehrheit der Abgeordneten im Herbst 1791 aus dem gehobenen Bürgertum. 1792 wurde die Französische Republik proklamiert.

Solon, der Gesetzgeber Athens: anonymer Holzschnitt von 1842.
© Public domain / via Wikimedia Commons

Die Demokratisierung erfolgte in Wellen. Für die erste Welle der Verbreitung der Demokratie waren die Revolten von 1830 und 1848 bedeutend. Volkssouveränität meinte hier aber nicht politische Gleichheit, denn die Bürgerrechte bezogen sich bloß auf Männer mit Vermögen, Bildung und ständigem Wohnsitz. 1848 wird das allgemeine Männerwahlrecht in den USA und in der Schweiz eingeführt. Frankreich hatte 1789 das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt, es einige Jahr später aber wieder aufgehoben. Das Frauenwahlrecht wurde in Frankreich erst 1944 realisiert.

England gewährte zunächst nur zwei Prozent der Bevölkerung politische Rechte, dehnte diese in Etappen dann auf breitere Schichten aus. Erst 1918 galt das Wahlrecht für alle Männer und 1928 auch für Frauen. Das Parlament ist das politische Machtzentrum, das Mehrheits-Wahlsystem hat zwei große Parteien zur Folge.

In Frankreich verlief der Weg zur voll etablierten Demokratie turbulent. Der Parlamentarismus setzte sich erst 1875 wirklich durch. Auf instabile Regierungen nach 1945 folgte 1958 die Gründung der semi-präsidentiellen Fünften Republik mit Charles de Gaulle als Präsident. Anders als in den USA, hat der französische Präsident bei der Gesetzgebung kein Vetorecht. Die zwei Machtzentren der Republik sind der Präsident und die dem Parlament verantwortliche Regierung. Nach dem Mehrheits-Wahlsystem werden der Präsident und das Parlament gewählt. Der Zentralismus wurde durch Regionalisierung abgeschwächt.

Zur zweiten Welle der Demokratisierung kam es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Untergang der Monarchien in Österreich, Deutschland, Russland und der Türkei. Um 1919 gingen viele europäische Länder zum allgemeinen Stimm- und Wahlrecht über oder zumindest zum Männerwahlrecht. In den USA erhielten die Frauen das Stimmrecht 1920.

Eine dritte Demokratisierungswelle erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg und ab den 1970er Jahren (1974 in Portugal, 1975 in Spanien, 1989 in Osteuropa).

Die liberale Demokratie inkludiert die Selbstbestimmung und die Freiheit von willkürlicher Herrschaft. Doch wann gilt ein Staat als demokratisch? Dazu gibt es drei Varianten: die minimalistische, die mittlere und die maximale. Bei der Minimalvariante genügen freie Wahlen und der Regierungswechsel. Bei der maximalen wird auch der Output einer Gesellschaft beachtet, etwa die ökonomische Gleichheit.

Zum mittleren Ansatz gehören eine durch freie und faire Wahlen gewählte Regierung sowie Menschen- und Bürgerrechte (Glaubens-, Meinungs-, Eigentumsfreiheit, das Recht auf persönliche Sicherheit und auf Widerstand bei Unterdrückung). Gewaltenteilung und Rechtsstaat verhindern eine Diktatur. Bürgerforen, Initiativen und direktdemokratische Maßnahmen ergänzen und korrigieren Fehlentwicklungen von repräsentativer Demokratie. Fundamental sind die Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, heute meist Solidarität genannt. Wer all diese Ideale zu realisieren sucht, stößt auf Widersprüche, die eine Balance verlangen.

"Ist denn das Demokratie?" Nach diesem Seufzer folgt meistens der Hinweis auf die Schweiz. Skizzieren wir also die zentralen Merkmale der Schweizer Demokratie, die sich als ein Mix von repräsentativer und direkter Demokratie erweist.

Die vielgestaltige Schweiz sucht den Ausgleich zwischen Bundes- und Kantons-Interessen, zwischen Sprach- und konfessionellen Gruppen und politischen Parteien. Es gibt 26 Kantone, vier Sprachgruppen und zwei Hauptkonfessionen (Reformierte und Katholiken). Nicht ein Regierungschef oder eine Regierungschefin steuert das Land, sondern sieben Bundesrätinnen und -räte - aus verschiedenen Parteien - tun das gemeinsam. Mit dieser "Zauberformel" von 1959 wird Kontinuität gewahrt. Die Bundesräte entsprechen unseren Ministern. Je ein Bundesrat amtiert je für ein Jahr als Bundespräsident, als Primus inter pares, gewählt vom Parlament.

Abstimmung durch Handerheben in der Landsgemeinde in Appenzell 1966.
© P. Gugelmann / CC BY-SA 4.0 / https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0 / via Wikimedia Commons

Das Schweizer Parlament hat zwei Kammern: den Nationalrat und den Ständerat, der die Kantone vertritt. Jedes vierte Jahr finden Parlamentswahlen statt, das Ergebnis legt den parteilichen Anteil der Nationalräte fest. Die Wahltermine sind auf 20 Jahre hin bekannt. Der Sitz des Parlaments ist in Bern; die Bezeichnung "Hauptstadt" wird allerdings vermieden.

Seit 1971 haben auch Schweizerinnen das Wahlrecht. Ein Fünftel der Bewohner (Zugewanderte) sind ohne Bürgerrecht und national ohne Wahlrecht, dürfen aber in einzelnen Kantonen und in 600 Kommunen mitbestimmen.

Abstimmungskultur

Die Bundesverfassung von 1848 ist bis heute die Basis des Schweizer Demokratie-Modells. Die Elemente der direkten Demokratie wurden kontinuierlich ausgebaut - durchaus nicht ohne Konflikte. Heute kann die Schweizer Bevölkerung regelmäßig abstimmen. Zu differenzieren ist dabei zwischen der Initiative und dem Referendum. Dieses ist ein Veto und erlaubt Widerstand gegen Entscheidungen, interveniert also am Ende eines politischen Prozesses.

Die Initiative hingegen erlaubt Impulse, um neue Probleme auf die Agenda zu setzten. Jede und jeder Stimmberechtigte kann eine Volksinitiative starten, muss dafür aber 100.000 Unterschriften sammeln, während 18 Monaten. Das Parlament prüft, ob die Initiative völkerrechtskonform ist. Meist geht einer Volksinitiative eine lange Diskussion voraus, bis zur Abstimmung kann es mehrere Jahre dauern. Um zum Gesetz zu werden, braucht die Volksinitiative sowohl die Mehrheit der landesweit abgegebenen Stimmen als auch die Mehrheit der Kantone.

Erhebt die Hand und stimmt ab! Dies ist - wie schon in Athen - der traditionelle Weg für die Stimmabgabe. Doch die meisten Wähler nützen inzwischen die Briefwahl. Nur noch selten, wie in Appenzell, findet die Wahl mit Handheben in der Landsversammlung statt.

In der Regel wird pro Jahr zehnmal abgestimmt: kommunal, kantonal, national und bei Initiativen oder Referenden. Die meisten nehmen nur selektiv daran teil - wobei die intensive soziale Kontrolle im "Dörfli" nonkonformes Verhalten erschwert. Nur ein Drittel der Berechtigten beteiligt sich an allen lokalen, regionalen und nationalen Abstimmungen. 50 Prozent nehmen an nationalen Wahlen teil. Knapp 10 Prozent enthalten sich immer und beteiligen sich an gar keiner Wahl; es ist auch niemand zur Teilnahme verpflichtet.

Schweizer sehen ihr Land in vieler Hinsicht als Vorbild, und 66 Prozent der Schweizer - auch jene, die bei Abstimmungen verlieren - sind mit ihrer Demokratie zufrieden: ein höherer Wert als anderswo. Jedenfalls gilt die Demokratie weltweit als die legitime Regierungsform schlechthin, selbst Autokratien schmücken sich mit dieser Bezeichnung.

Doch kann sie immer und überall umgesetzt werden? Demokratien entwickelten sich über Generationen und setzen Individualität und Bildung voraus. Darum sind demokratische Modelle nur mit Vorbehalt auf anders verfasste Gesellschaften übertragbar: Kann etwa die Demokratie einer im Islam verankerten afghanischen Gesellschaft aufgepfropft werden?

Nötige Anpassungen

Und gibt es einen Punkt, an dem der Bogen überspannt wird? Athens Demokratie kannte die Wahl per Los, aber Finanzfachleute und Strategen wurden nach ihrer Kompetenz gewählt. Auch die Beteiligungsquote an Wahlen in der Schweiz zeigt Grenzen auf. Dem Unbehagen an der real gelebten Demokratie, wie es mancherorts geäußert wird, möchten die Autoren des Büchleins "Weil Demokratie sich ändern muss" starke NGOs, Bürgerräte und die Realisierung des UN-Grundrechtes der Informationsfreiheit entgegensetzen. Neben Transparenz (wie in Schweden) und Partizipation braucht es die Rechenschaftspflicht gegen Missbrauch der Macht. Reife Demokratien achten zudem nicht nur auf die Mehrheit von Stimmen, sondern auch auf den Schutz von Minderheiten.

Für Österreich könnten einige Elemente des Schweizer Modells übernommen werden, keinesfalls aber sechs bis acht Wahlen pro Jahr. Mehr Partizipation ist wünschenswert und möglich: kommunal, in Kleingruppen und Organisationen. Auch zeigt sich immer wieder, wie sehr Demokratie durch ein Übermaß an Parteien- und Medieneinfluss gefährdet ist. Und auch die globale Wirtschaft entzieht sich meistens demokratisch legitimierten Kontrollen.

Lassen wir Winston Churchill das letzte Wort: Wer hat gesagt, dass Demokratie perfekt sein muss - und kann?

Literaturhinweise:

Hanspeter Kriesi, Lars Müller (Hrsg.): Herausforderung Demokratie (Zürich 2013)

Hans-Joachim Lauth (Hrsg.):
Politische Systeme im Vergleich (München 2014)

Weil Demokratie sich ändern muss: Im Gespräch mit Paul Nolte, Helen Darbishire, Christoph Möllers (2014)

Die Geschichte der Demokratie. Wie Volksherrschaften entstehen – und wie sie scheitern. Geo Epoche Nr. 110 (2021)


Hans Högl ist emeritierter Hochschulprofessor, Medien- und Bildungssoziologe, dissertierte beim Politologen Heinrich Schneider (Wien) und ist zivilgesellschaftlich engagiert.