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Bundeskanzler für einen Tag

Von Gerhard Strejcek

Reflexionen

Erinnerung an den österreichischen Politiker, der als Kurzzeitkanzler und Langzeit-Experte fungierte.


Mit dem kurzzeitigen Bundeskanzler und nunmehrigen Außenminister Alexander Schallenberg ist bereits der zweite in der Schweizer Hauptstadt geborene Politiker am Ballhausplatz angekommen. Auch Walter Breisky wurde - am 8. Juli 1871 - in Bern geboren. Sein Vater war als Professor für Gynäkologie in die Schweiz an die Universität Basel berufen worden. Bald kehrte die Familie nach Wien zurück, wo Breisky nunmehr bis heute als ephemeres Beispiel eines Ein-Tages-Kanzlers geführt wird.

Der 50-jährige Walter Breisky, der zuvor zwei Jahre als Unterrichts-, Heeres- und Innenminister sowie als Vizekanzler amtiert hatte, musste am 26. Jänner 1922 nach dem Zerbrechen des ersten Kabinetts von Johann Schober kurzfristig die Zügel am Ballhausplatz in die Hand nehmen. Bundespräsident Hainisch betraute ihn auch mit der Fortführung des Innen- und Außenressorts, was eine große Machtfülle bedeutet hätte (hätte sie länger bestanden).

Sturz von Schober

Einige großdeutsche Politiker hatten Kanzler Johann Schober, der ihnen als parteifreier Polizeipräsident von Wien nahestand, gestürzt. Der Grund lag in einer kleinlichen Beurteilung einer wichtigen Geste des Kanzlers, der dem tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Beneš entgegengekommen war und - zur Freude der englischen und französischen Gesandten in Prag - in Lana (tschechisch Lány) am 16. Dezember 1921 ein Abkommen mit der ČSR geschlossen hatte. Der Vertrag ermöglichte dem notleidenden Österreich, vom nördlichen Nachbarn einen 500-Millionen-Kronen-Kredit für Zucker- und Kohlelieferungen zu erhalten, es folgten französische, italienische und britische Kredite.

Schwerer Stand als Unterrichtsminister: Walter Breisky auf einer Aufnahme von Georg Fayer, 1927.
© Georg Fayer, Public domain, via Wikimedia Commons

Diese Stützungen der heimischen Wirtschaft und der schwachen Krone erfolgten in stabilen ausländischen Währungen. Ökonomische Hilfe von außen brauchte das Land dringend, und die ohnehin bereits besiegelten Fakten nach den Friedensverträgen anzuerkennen, bedeutete keinen großen Schritt. Das sahen auch Vertreter der Deutschen in der ČSR so, die sogar zu einem Bankett mit Beneš und Präsident Masaryk erschienen und ihre Zustimmung signalisierten. Staatsrechtslehrer Josef Redlich, der in der südostmährischen Kleinstadt Hodonín/Göding geboren wurde, wo auch Tomáš Masaryk zur Welt kam, nennt in seinen Aufzeichnungen die Politiker Ledebur, Kafka und Medinger, wobei es sich um Bruno Kafka, einen entfernten Verwandten des Autors gehandelt haben dürfte, der den Deutschnationalen nahestand.

Schobers Aktion war auch insofern kein Vorpreschen gegen seine Landsleute in Böhmen und Mähren, weil schon der aus Südmähren stammende Kanzler Karl Renner in einem Geheimvertrag, der militärische Hilfe der ČSR, Rumäniens und Jugoslawiens vorsah, Zugeständnisse eingeräumt hatte. Der anhaltende Widerstand ungarischer Freischärler und die ambivalent-vage Haltung der Regierung Gabor und des Reichsverwesers Admiral Miklos Horthy in der Frage der Übergabe des Burgenlands gemäß den Verträgen von St. Germain und Trianon bestätigten eindrucksvoll, dass sowohl Renner als auch Schober richtig handelten, indem sie das Verhältnis zur Tschechoslowakei normalisierten und verbesserten.

So sah dies auch Walter Breisky, der gerne wieder den Kanzlerstuhl räumte und sich als Vizekanzler in die zweite Reihe zurückzog. Schober gelang es, bereits am 27. Jänner 1922 wieder ein Kabinett aus christlichsozialen Politikern und Beamten zu bilden, das bis Ende Mai hielt. Der verlässliche, noch im k.k. Unterrichtsministerium aufgestiegene Beamte Breisky war wieder im Boot des zweiten Schober-Kabinetts. Für ihn gilt das pauschale Lob des Zeithistorikers Hanns Leo Mikoletzky, der meint, dass Schober eine gute Hand bei der Expertenauswahl bewies.

Soziale Prägung

In den letzten Jahren erschienen einige biografische An- und Aufsätze über den unauffälligen bärtigen Mann, u.a. in der Polizeizeitschrift "Die Öffentliche Sicherheit" und in Beiträgen des Populärhistorikers Georg Markus. So sind Details bekannt geworden, wie der Ex-Politiker als 73-Jähriger ins Fadenkreuz der Nationalsozialisten geriet. Als religiöser Mensch und überzeugter evangelischer Christ konnte Walter Breisky dem NS-System nichts abgewinnen, seine soziale Prägung war humanistisch.

Der Vater, August Breisky, hatte sich als Chirurg mit Schwerpunkt Gynäkologie an der Medizinischen Fakultät einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet und war dann an die Universität des nordschweizerischen Kantons Basel-Stadt berufen worden. Obwohl die Schweizer Bundeshauptstadt Bern nicht gerade in der Nähe liegt, kam Sohn Walter am 8. Juli 1871 unweit des Bundeshauses zur Welt.

Bereits in Schulzeiten lebte Breisky in Wien, er besuchte das Wasagymnasium in der gleichnamigen Gasse, wo auch Stefan Zweig, Friedrich Torberg und Erich Fried ihre Matura absolvierten. Die Familie wohnte in der Währinger Gentzgasse, später zog Breisky dann in die Kolingasse im 9. Bezirk, von wo aus er Parlament, Kanzleramt und Unterrichtsministerium bequem zu Fuß erreichen konnte. Sein Umzug nach Klosterneuburg erfolgte im Jahr 1927, in der Ära seiner Präsidentschaft am Statistischen Zentralamt (1923-1931), die er bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr innehatte.

Den ersten Karriereschritt in die Politik bedeutete die Ernennung zum Leiter des Staatsamtes für Unterricht am 7. Juli 1920, als der in Oberösterreich geborene, in Innsbruck als Professor wirkende Historiker Michael Mayr von der konstituierenden Nationalversammlung zum Leiter der Staatskanzlei und zum Regierungschef gewählt wurde.

Nachfolger Glöckels

Zu Beginn seiner Tätigkeit hatte der neue Unterrichtsminister Breisky eine schwere Aufgabe, musste er doch in die Fußstapfen des Schulreformers Otto Glöckel treten. Von den Sozialdemokraten wurde der Beamten-Minister mit Spott und Hohn empfangen. Der Grund für die Häme lag darin, wie man in Protokollen der Nationalversammlung und in der "Arbeiter-Zeitung" nachlesen kann, dass Breisky zunächst bei parlamentarischen Anfragen ausweichend antworten musste, weil ihm schlicht die Daten zur Beantwortung der Interpellationen fehlten.

Vielleicht war dieses peinigende Erlebnis ein Grund dafür, nach dem Ausscheiden aus der Regierung im Mai 1922 die Leitung des Statistischen Zentralamts anzustreben, die er im Folgejahr erhielt. Auch nach der Pensionierung blieb er der Statistik in einem Fachverein verbunden.

Interessant erscheint, dass der katholische Kanzler Mayr dem Protestanten Breisky vertraute, denn dieser gehörte auch dem zweiten Kabinett Mayr ab 21. November 1920 an, das nach den Nationalratswahlen vom 17. Oktober gebildet worden war. Mayr wurde Bundeskanzler, Breisky stieg zum Vizekanzler auf, und es gehörten der damaligen Bundesregierung (auch) Experten an. Als Mayr zurücktrat, gehörte Breisky sodann den zwei Kabinetten, die im Juni 1921 und im Jänner 1922 von Johann Schober gebildet wurden, als Minister an.

Erst die Regierung Seipel fand ohne Breiskys Mitwirkung statt: Man ist versucht zu sagen, kein Wunder, denn dem konservativen Prälaten war ein evangelischer Unterrichts- und Kultusminister sicher nicht recht, und in Polizeiangelegenheiten wollte Seipel mit eisernem Besen kehren. Tatsächlich wurde er im Jahr 1924 selbst zum Attentatsopfer, was auch seinem polarisierenden, wenn auch fachkundigen Regierungsstil geschuldet war. Breisky aber wurde vom pädagogisch-staatskirchenrechtlichen Paulus zum datensammelnden Saulus. Die Praxis des "Weglobens" scheint es also schon in der Ersten Republik gegeben zu haben.

Im NS-Fadenkreuz

Eine beunruhigende Wende nahm das Leben des verdienten Beamten im Ruhestand in der NS-Zeit. Bereits über 72 Jahre alt, lebte Breisky mit seiner Gattin in Klosterneuburg unweit des Augustiner Chorherrenstifts am Buchberg. Angeblich wurde er von einer Haushälterin wegen des Abhörens von "Feindsendern" angezeigt oder von einem Bekannten der Angestellten denunziert. Damalige Röhren-Empfänger konnten unschwer BBC London empfangen, was aber unter Strafe gestellt war. Die realistischen Nachrichten von der Landung in der Normandie und der ständig zurückweichenden deutschen Front waren den Nazis ein Dorn im Auge, sorgten sie doch für "Defaitismus" und "Meckerei" in der Bevölkerung.

Es folgte eine Hausdurchsuchung samt Kontrolle durch die Gestapo; dieser Besuch der Polizei in der Wohnung (Buchbergasse 12) ist sogar handschriftlich am Meldezettel dokumentiert, der im Archiv der Stadt Wien zu finden ist; er fand bereits im Februar 1944 statt, weshalb es unwahrscheinlich erscheint, dass Breisky allzu lange in Haft war. Georg Markus schreibt indessen unter dem von Bruno Kreisky inspirierten Titel "Lasst Breisky und sein Team arbeiten!" ("Kurier", 25. 10. 2017), dass sich Breisky einen Tag nach der Entlassung aus der Polizeihaft das Leben nahm, weil er die Scham der Festnahme nicht ertragen hatte; der Suizid ereignete sich allerdings erst im September 1944; vielleicht führte, wie oft, eine Kumulierung negativer bzw. für den Betroffenen deprimierender Ereignisse zu dem Selbstmord. Auch seine Gattin war vor kurzem verstorben.

Zuerst Polizeipräsident, dann zweimal Kanzler: Johann Schober, ca. 1932
© gemeinfrei, via Wikimedia

Nach dem Scheitern der "Walküre" rund um Stauffenberg im Juli 1944 verloren einige Nazi-Gegner kurzfristig die Hoffnung angesichts Hitlers Rachefeldzug gegen alle Widerständler. Der unauffällige Breisky ist als eines der vielen, unspektakulären NS-Opfer und als prägender, konsensualer Politiker der Ersten Republik anzusehen. Sein architektonisch ansprechendes Grabmal aus rotem Ziegel befindet sich am Klosterneuburger Oberen Stadtfriedhof.

Gerhard Strejcek, geboren 1963, ist Professor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und Autor.