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Der vergessene Boulevard

Von Peter Payer

Reflexionen
Der Franz-Josefs-Kai um 1900 mit Blickrichtung Schottenring, rechts der Kaipark.
© Payer

Einst konnte man hier das Wien der Zukunft erahnen, dann wurde der Franz-Josefs-Kai vernachlässigt. Eine Ehrenrettung.


Schatten können lang sein. Räumlich wie zeitlich. Im Fall des Wiener Franz-Josefs-Kais trifft beides zu. Einst ein prominenter Abschnitt des verlängerten Ringstraßenareals, wurde der Kai im Lauf der Zeit zur vernachlässigten Kehrseite. Hier die glanzvolle, der Innenstadt zugewandte Vorderseite mit Oper, Rathaus und Burgtheater als Highlights, dort die abgewandte, zum Donaukanal hin orientierte Rückseite. Die Aufmerksamkeiten scheinen klar verteilt, wie nicht zuletzt die schon seit längerem auf Eis liegenden Modernisierungspläne für den Schwedenplatz verdeutlichen.

Dabei hatte alles so prunkvoll begonnen. Schon am 1. Mai 1858, nur wenige Monate, nachdem der Abbruch der Basteien beim Rotenturmtor begonnen hatte, wurde der Franz-Josefs-Kai eröffnet. Anfang und Ende der neuen Straße waren mit Obelisken aus Reisig und Tannenzweigen geschmückt, dazwischen ragte ein Spalier von hohen Masten mit bunten Fahnen und Laubgirlanden in den Himmel. Trotz stürmischen Wetters nahmen mehr als tausend Gäste an der festlichen Zeremonie teil.

Neu- und Umbauten

Bürgermeister, Minister und hohe Würdenträger waren erschienen, und natürlich das Kaiserpaar; es war ein Festakt, dem auch symbolisch besondere Bedeutung zukam, wie das "Fremden-Blatt" berichtete: "Die alten Mauern der Bastei sind gefallen, auf ihren Trümmern dehnt sich wie durch Zaubermacht entstanden, eine neue Straße; aus dem Schutte des alten Wiens sollte die frühere Pracht wieder neu verjüngt erstehen. In dem Augenblick, als Ihre Majestäten der Kaiser und die Kaiserin über die neue Straße fuhren, ward am Müller’schen Gebäude die neue bekränzte Tafel angeschlagen, die den Namen der neuen Straße verkündet; dieselbe heißt von nun an ‚Franz-Josefs-Quai‘."

Erstmals konnte man hier eine Ahnung vom Wien der Zukunft bekommen. Der Anfang zur Verwandlung in eine moderne Metropole von Weltformat war gemacht. Die 1,3 Kilometer lange Straße markierte den Beginn jener polygonalen Raumfigur, die die Altstadt in aller Pracht umschmiegen sollte. Genau sieben Jahre später, ebenfalls am 1. Mai, wurde dann auch die Ringstraße eröffnet. Die "Herzader Groß-Wiens", so der Kunstkritiker Ludwig Hevesi, hatte zu schlagen begonnen.

Die neue Verbindung entlang des Donaukanals erstreckte sich zwischen zwei mächtigen Verteidigungsbauten, der an der Mündung des Wienflusses gelegenen Franz-Josef-Kaserne (1901 abgebrochen) und der Kronprinz-Rudolf-Kaserne (heute Rossauer Kaserne). Der Verkehrsraum erhielt eine großstädtische Infrastruktur: Der Untergrund wurde befestigt und mit Schienen für die Straßenbahn versehen, Bäume wurden beiderseits der Straße gepflanzt, Gaslaternen aufgestellt.

Ein Ansicht aus dem Jahr 1909.
© Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Zahlreiche Neu- und Umbauten begannen die innerstädtische Seite zu prägen, wie das erwähnte Müller’sche Gebäude, eine berühmte Kunstgalerie, die aufgestockt und mit Geschäften, Ateliers und einem Kaffeehaus ausgestattet wurde (1889 abgebrochen). Auf Nr. 37 vollendete Architekt Heinrich Ferstel im Jahr 1862 seinen ersten Wohnbau. Ein bürgerliches Musterhaus, im gotischen Stil gehalten, in expliziter Unterscheidung von aristokratischen Bauten. Das heute noch bestehende Gebäude wirkte auf viele Zeitgenossen befremdlich, wie Friedrich Schindler, der die neuen Gebäude an Ringstraße und Kai inspizierte, festhielt: "Es ist dieß ein Haus ganz im mittelalterlichen Style, wie eine alte Ritterburg, gebaut, mit Söllern für das Burgfräulein, einem Erkerthurm, das Thor im Spitzbogenstyl, die Wände grau, die Fenster ohne Verzierung, alles glatt, es macht einen sonderbaren Eindruk, mitten im Modernen, etwas antikes zu erbliken."

Genau gegenüber wurde der langgezogene Kaipark angelegt, obwohl schmal, doch "recht reizend", so Schindler. Kaffeepavillons, Limonadenhütten, Bänke und Blumenbeete konnte man hier antreffen, ebenso wie die berühmt-berüchtigten "Beserln", Geheimprostituierte, die nachts, auf und ab gehend, ihre Dienste anboten (später sollte "Beserlpark" zum Synonym für kleine Wiener Parks werden).

Dort, wo sich ehemals die Gonzagabastei erstreckte, eröffnete im November 1860 das Treumanntheater. Es war als kultureller Mittelpunkt des Franz-Josefs-Kais gedacht, brannte jedoch schon drei Jahre später vollständig ab. An seiner Stelle entstand 1873, rechtzeitig zur Weltausstellung, das Hotel Métropole. Einer der mondänsten Beherbergungsbetriebe der Stadt, mit vierhundert Zimmern, Bibliothek mit deutschen, französischen, englischen und italienischen Zeitungen, Rauch- und Billardsalon, Frisör, Personenaufzug, Telegrafen-Station und eigenem Landungsplatz für die Dampfschiffe am Donaukanal. Die Adresse Morzinplatz 4 (ab 1888 hieß der Platz vor dem Hotel Morzinplatz, benannt nach dem Ehrenritter des Malteserordens Graf Vinzenz Morzin) sollte später noch eine völlig andere Konnotation bekommen.

Auf höchstem Niveau

Doch noch war es nicht so weit, noch regierte der Glanz. Gegen die Jahrhundertwende zu verbreitete sich das großstädtische Flair mit eindrucksvoller Geschwindigkeit. Prächtige Repräsentationsgebäude entstanden, wie der lange, sechsstöckige Herminenhof, das Hotel Habsburg, aber auch modernste Geschäfts- und Bürohäuser wie der Industriepalast oder der Kai-Palast, Österreichs erstes Bürohochhaus in Stahlbetonbauweise (2001 abgebrochen, heute k47). Auch das Haus Franz-Josefs-Kai 3 war von besonderer Bedeutung: Errichtet 1904 nach Plänen von Julius Goldschläger, fungierte es als Wohn- und Firmensitz der Brüder Schwadron. Diese handelten mit Tonwaren, ihre dekorativen Fliesen waren in unzähligen Eingangshallen und Stiegenhäusern Wiens präsent, ja sind dies bis heute noch, wie ein verdienstvolles Ausstellungs- und Publikationsprojekt von Tina Zickler vor einigen Jahren gezeigt hat. Baukeramik auf höchstem Niveau.

Und wenn wir schon an dieser Stelle sind: Schräg gegenüber eröffnete 1910, direkt am Ufer des Kanals, das von Max Fabiani entworfene Volksbildungshaus Urania, mit eigener Sternwarte und dem sogenannten "Mittagschuss", abgegeben von einer kleinen Kanone, die täglich die genaue Mittagszeit verkündete. Eine würdige Markierung dieser städtebaulich sensiblen Übergangszone zur Ringstraße.

Der Donaukanal selbst war reguliert und befestigt worden. Den Vorkai säumten gesicherte Gehwege, die neu angelegte Stadtbahn sorgte für eine deutlich verbesserte öffentliche Erreichbarkeit. Insgesamt fünf monumental ausgestaltete Brücken überspannten den Fluss im Bereich des Franz-Josefs-Kais, mächtige Verklammerungen mit der gegenüber liegenden Leopoldstadt, deren jüdische Bevölkerung drüben wie herüben das Alltags-, Kultur- und Wirtschaftsleben prägte. Es war das jüdische Großbürgertum, das sich hier - analog zur Ringstraße - etabliert hatte.

Eine Gedenktafel erinnert an der Adresse Franz-Josefs-Kai 37 an den österreichischen Schriftsteller Hermann Broch.

Später berühmt gewordene Persönlichkeiten wurden am Franz-Josefs-Kai geboren, wie Hermann Broch oder Martin Buber; auch der Komponist Erich Wolfgang Korngold wohnte in den 1920er Jahren für einige Zeit auf Nr. 3. Sie alle schätzten die Atmosphäre des mondänen Boulevards, der Zentrum und metropolitane Flusslandschaft auf für Wien einzigartige Weise verband. Bis der Nationalsozialismus all dem ein Ende bereitete.

Die Vertreibung und Ermordung der Menschen, die "Arisierung" der Geschäfte, Betriebe und Wohnungen hinterließ tiefe Spuren. Zum stadtbekannten Zentrum des Schreckens geriet das Hotel Métropole, das zur größten Gestapo-Leitstelle des "Dritten Reiches" umfunktioniert wurde. Fast 900 Mitarbeiter versahen hier ihren Dienst. Die jüdischen Besitzer des Hotels wurden enteignet, die ehemals eleganten Zimmer mutierten zu Gefängniszellen, in den schalldichten Kellerräumlichkeiten wurde, unbemerkt von außen, verhört und gefoltert. Mehr als 11.000 von der Gestapo angelegte Karteikarten sollten sich später über die Insassen finden. Immer wieder kam es vor, dass sich einige von ihnen aus den oberen Stockwerken in die Tiefe stürzten, um der grausamen Behandlung zu entgehen.

Auch auf der Straße nahmen die Misshandlungen zu. Passanten wurden als "Judensau" beschimpft, Erwachsene wie Kinder "verschwanden" aus dem Stadtbild, wie sich Ilse Aichinger, die gemeinsam mit ihrer Mutter in einer Wohnung in der Nähe des Kais überlebte, erinnerte: "Ich erinnere mich an zwei Kinder, die eine zeitlang immer die Marc-Aurelstraße hinauf- und hinuntergelaufen waren, dünne Kinder in dunkelblauen Mänteln mit den gelben Sternen daran. Es war eine Art Spiel von ihnen, der Weg zur Gestapo hinunter war ihr Spielplatz. Dann sah ich sie nicht mehr. Offenbar war ich nicht zu Hause gewesen oder hatte nicht hinübergeschaut, während sie geholt wurden. Ich erinnere mich an ihre Blicke, an ihr etwas ängstliches Lächeln." Für Aichinger gehörte der Kai "zur Insel hinüber, zu ihren Ängsten, nicht zu ihren Hoffnungen".

Urbanes Potential

Erst die Bombardierungen im Frühjahr 1945 bereiteten dem Terror ein Ende. Die Gestapo-Zentrale wurde zerstört, ebenso die Brücken und zahlreiche andere Gebäude entlang des Kais. Die schwer beschädigte Häuserzeile am Schweden- und Morzinplatz wurde nicht wieder aufgebaut; an der Ecke zum Schottenring entstand der Ringturm, bis heute eine architektonische Ikone der Nachkriegszeit.

Der Franz-Josefs-Kai (Blickrichtung Schwedenplatz) im Jahr 1979.
© TARS631 via Wikimedia Commons

Wo einst das Métropole stand, wurde der Leopold-Figl-Hof errichtet, ein Versuch, den Ort zumindest ansatzweise neu zu codieren. Ohne die Vergangenheit zu verleugnen, denn in einem Steinfries am untersten Balkon des Hauses wird durchaus an die Gräueltaten an diesem Ort erinnert, und an der Rückseite des Baublocks in der Salztorgasse befindet sich ebenfalls ein Gedenkraum. Auch am Morzinplatz wurde bereits 1951 ein Gedenkstein aufgestellt, den der Bildhauer Leopold Grausam später in sein Mahnmal für die Opfer des Faschismus integrierte.

Die Aufgeladenheit dieses Ortes strahlt auf den gesamten Kai aus. Ab den 1960er Jahren starteten Initiativen zur kulturellen Belebung mit Kleinbühnen (Theater der Courage, Komödie am Kai, Theater am Schwedenplatz) und Musiklokalen (Jazzland) - doch es ist kein einfaches Pflaster, wie der gescheiterte Plan zur Verlegung des Wien Museums auf den Morzinplatz jüngst gezeigt hat. Auch am anderen Ende bietet sich ein tristes Bild. Hier steht nahe dem Schottenring, umtost vom Verkehr, eine Skulptur des bedeutsamen US-Architekten Philip Johnson. Lieblos abgestellt auf einer Restfläche, als welche der gesamte Franz-Josefs-Kai wohl vielfach imaginiert wird.

Bleibt zu hoffen, dass sich dies bald ändern wird und das urbane Potential dieser Randzone endlich wieder gebührende Aufmerksamkeit erfährt.

Peter Payer ist Historiker, Stadtforscher und Kurator im Technischen Museum Wien.