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Freiheit als Therapie

Von Susanne Schaber

Reflexionen
Einer der Pavillons von San Giovanni, von wo aus die Psychiatrie-Bewegung ihren - buchstäblichen - Ausgang nahm, heute inmitten eines Parks.
© Archivio Comune di Trieste / Archiv Triester Stadtgemeinde

In Triest entwickelte sich in den 1970er Jahren die revolutionäre Idee von der offenen Psychiatrie - und prägt die Stadt bis heute.


Marco Cavallo will raus. Zwei Monate lang hat er in einem Krankenhauspavillon gelebt, den man zur Werkstatt umfunktioniert hat, nun zieht es ihn hinaus in die Welt. Doch ganz so einfach scheint es nicht zu gehen: Marco Cavallo hält sich an keine Norm. Er ist groß, riesengroß, drei Meter hoch und gut sechs Meter lang. Für ein Pferd wie ihn sind menschliche Behausungen nicht gemacht. Was also tun? Die Türstöcke herausreißen, wird kurzerhand beschlossen. Marco muss endlich ins Freie entlassen werden.

Lichtgestalt Basaglia

Am 25. Februar 1973 setzt sich in Pavillon P von San Giovanni, dem Psychiatrischen Krankenhaus von Triest, ein seltsamer Zug in Bewegung. Ein blaues Pferd aus Pappmaschee wird quer durch die Stadt ins Viertel San Vito geschleppt, begleitet von einer lärmenden Schar von Patienten, Ärzten und Sympathisanten und ihren Trommeln, Gesängen und Transparenten: "La libertà è terapeutica". Freiheit ist die Therapie.

Unweit der Kathedrale von San Giusto kommt der Zug zum Stoppen. Hier findet ein Volksfest statt, mit Musik, Sketches und flammenden Reden. Danach zieht man weiter, um in einer Turnhalle zu feiern. An jenem Sonntag im Februar 1973 manifestiert sich auf vitale Weise, dass sich neue Wege auftun: Ein blaues Pferd wird zum Symbol für die Öffnung der Psychiatrie. "Viva Marco Cavallo."

Seit den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gilt der Arzt Franco Basaglia als Lichtgestalt und Triest als Vorreiter einer beispielgebenden Reform. Sie erfasste von dort aus ganz Italien und griff auf viele Länder Europas und Amerikas über. Basaglia war es zu verdanken, dass sich geschlossene Anstalten von Orten der Abschiebung in Laboratorien einer humaneren Gesellschaft verwandelten.

Triest ist eine Stadt mit brüchiger Identität. An der Schnittstelle der deutschen, romanischen und slawischen Kultur gelegen und jahrhundertelang von Wien aus administriert, wurde sie Anfang des 18. Jahrhunderts zum Tor zur Welt, als der Habsburger-Kaiser Karl VI. den Porto Vecchio 1719 zum Freihafen erklärte.

In der Folge gelang es Triest, sich den Zugang zu den Handelsplätzen im vorderen Orient und in Asien zu sichern und von einer ehedem unbedeutenden Kommune zu einer kosmopolitischen Metropole heranzuwachsen. Spätestens 1833, mit der Gründung der Schifffahrtsgesellschaft Österreichischer Lloyd durch sieben Triestiner Versicherungen, löste sie Venedig als Warenumschlagsplatz ab - bis der Erste Weltkrieg alte Ordnungen und Privilegien aufhob. Die Österreicher mussten abziehen, Triest fiel in die Hände der Italiener und sah sich zum unbedeutenden Außenposten eines Landes degradiert, das sich in die Arme Mussolinis warf. Minderheiten, die ehedem friedlich zusammengelebt hatten, wurden fortan unterdrückt.

Vorbild Steinhof, als Stadt in der Stadt: So sah das Areal von San Giovanni um 1908 aus.
© Archivio Comune di Trieste / Archiv Triester Stadtgemeinde

Die Klinik von San Giovanni entstand noch in jenen Tagen, da Triest noch unter österreichischer Verwaltung stand und die Psy-chiatrie eine erste zaghafte Reform durchlief. Die riesigen Schlafsäle, in denen man Patienten bisher zusammengepfercht hatte, sollten kleineren Häusern weichen: eine Stadt in der Stadt, so der Auftrag an den Architekten Ludovico Braidotti. Er orientierte sich an Otto Wagner und dessen Entwürfen für die Psychiatrische Anstalt Steinhof in Wien. Also wurden eine Reihe von Pavillons gebaut, eine Kapelle und ein Theatersaal, eine Wäscherei und eine Gärtnerei, untergebracht auf einem Areal von dreiundzwanzig Hektar.

Triest entdeckt Freud

San Giovanni wurde 1908 eröffnet - zu einem Zeitpunkt, da Triest gerade Sigmund Freud entdeckte. Mit seinem Schüler Edoardo Weiss, der hier 1918 zu praktizieren begann, erfuhr die Psychoanalyse eine Blüte. Sie weckte damals, so der Befund von Claudio Magris, "ein fast schon fieberhaftes kulturelles Interesse und führte zu einem neurotischen, endogam undurchdringlichen Kreislauf zwischen Patienten, Freunden und deren Therapeuten, die untereinander ihre Rollen tauschten". Wer auf sich hielt und es sich leisten konnte, widmete sich der Selbsterfahrung. Die Türen zum weiten Land der Seele schienen in Triest weniger zu klemmen als anderswo, Psychiater hatten in den darauffolgenden Jahrzehnten ordentlich zu tun.

Als Franco Basaglia 1971 die Leitung von San Giovanni übernimmt, spürt er, wie sehr die Stadt mit sich und ihrem Schicksal hadert. Die glorreiche Vergangenheit ist ein Schemen, die Erinnerungen an den Faschismus und die Nachkriegsjahre, da man um seinen Status und die völkerrechtliche Anerkennung der Grenze zu Jugoslawien kämpfte, unvergessen. Ein Gefühl der Lähmung hat die Menschen befallen, dazu die Sorge, nur eine winzige Figur auf dem Schachbrett der Mächtigen zu sein.

Tristes Triest

"Triest ist eine Abstellkammer der Zeit, jenes großen Trödlers, unter dessen Händen die Lorbeerkränze zu dürrem Laub werden und der Ruhm zu Plunder", so Claudio Magris weiter. "Es ist eine Stadt am Rande, in der man verstehen lernt, dass das an den Rand Gedrängte, das Verdrängte und das Relikt die Hüter der Wahrheit und der Geschichte sind, einer Geschichte des Elends, der Auszehrung, der Finsternis."

Das Triest jener Tage ist grau und trist. Tagsüber kommen die Busse aus Istrien oder Zagreb und plündern die Geschäfte, doch abends ziehen die Touristen wieder ab. Die Paläste, Zeugen einstiger Pracht, wirken verlassen, die Häuser in den engen Gassen feucht und düster.

Franco Basaglia (1924-1980).
© MLucan, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia

Eine Stimmung, die den Boden bildet für das Wirken Basaglias. 1924 in Venedig geboren, hat er in Padua studiert, geforscht und gelehrt, ehe es ihn 1961 in die Praxis zog. Die Klinik von Gorizia, fünfzig Kilometer nördlich von Triest, schien ihm dafür der richtige Ort. Die Zustände im Spital erschütterten ihn. Ein Kerker, in dem die Patienten stumm vor sich hinvegetierten, in Zwangsjacken eingeschnürt und medikamentös sediert. Unruhige wurden über Wochen und Monate in Käfigen arretiert. Elektroschocks dienten der Bestrafung unangepasster Kranker.

Basaglias Befund war klar und scharf. Die Psychiatrie, so erklärte er, habe sich von der Justiz ins-trumentalisieren lassen und füge sich deren Direktiven. Beide arbeiteten daran, all jene Menschen, die nicht dem System entsprechen, zu kriminalisieren und wegzusperren. Medizinische Untersuchungen entpuppten sich als Mittel der Repression, Diagnosen als Urteile, häufig lebenslänglich: Die Patienten würden in Unmündigkeit und Ohnmacht geschickt und damit in ein Gefängnis.

Schon in Gorizia entwarf Basaglia erste Behandlungsmodelle, um Hierarchien zu sprengen und den Kranken zu neuer Selbstbestimmung zu verhelfen. In Triest, wo er gut tausend Patienten interniert vorfindet, entwickelt Basaglia sein Konzept kontinuierlich weiter: Er schafft Schocktherapien ab, schränkt die medikamentöse Sedierung ein oder hebt sie ganz auf. Gleichzeitig ermuntert er die Kranken, ihre Zimmer zu verlassen und sich frühere Lebensräume zurückzuerobern.

Regelmäßige Stationsversammlungen, an denen auch die Patienten teilnehmen, lassen andere Formen der Kommunikation entstehen. Eigeninitiative wird gefördert, der Arzt als alleinige Autorität in Frage gestellt. Auf diese Weise transformieren sich die einstigen Machtverhältnisse. Eine Demokratisierung der Psychiatrie setzt ein. Kooperativen entstehen, mit regulären Arbeitsverträgen und einer gerechten Entlohnung.

Ihnen folgen betreute Wohngemeinschaften, einige in den Pavillons der weitläufigen Anlage, die meisten in anderen Stadtvierteln. Parallel dazu lädt man die Bevölkerung ein, San Giovanni zu erkunden, bei Konzerten, Lesungen oder Theaterabenden.

Im Jänner 1973 zieht eine Gruppe von Künstlern nach San Giovanni, um zwei Monate lang mit ihnen zu arbeiten. Ein Atelier, offen für jede Form kreativen Ausdrucks, könnte die Patienten aus der Apathie reißen, so die Überlegung. Doch wie schafft man es, möglichst viele von ihnen anzusprechen und zum Mitmachen zu motivieren? Vielleicht mit Hilfe einer Identifikationsfigur, so einer der Vorschläge. Die Wahl fällt auf Marco Cavallo, einen alten Gaul. Ihn hatte man vor jenen Karren gespannt, auf dem die Wäsche durch das Anstaltsgelände transportiert wurde. Als er geschlachtet werden sollte, hatte sich ganz San Giovanni dagegen aufgelehnt und sein Gnadenbrot erwirkt. Und wenn man nun Marco Cavallo als Figur aus Pappmaschee nachbilden würde, als Zeichen des Widerstands?

Mit Marco Cavallo wachsen der Mut und das Wissen, an einem Strang zu ziehen. Durch Wandzeitung und Flugblätter vom Fortschreiten der Arbeit informiert, finden sich immer mehr Patienten in Pavillon P ein, wo eine Werkstatt eingerichtet ist. Sie wird zum kreativen Labor, Sehnsüchte artikulieren sich in Spiel und Tanz. Die Passivität der Kranken bricht langsam auf, Freundschaften entstehen, auch hitzige Diskussionen.

Marco Cavallos Leib aus grauem Pappmaschee ist riesig. Womit man ihn befüllen solle, fragen sich Künstler und Patienten, und entwickeln eine Idee. Jeder der Beteiligten versenkt einen kleinen Brief mit seinen Wünschen in Marcos Bauch: Reh mit Polenta, Hasensalami, ein Lied, ein Fahrrad, ein Komet. In Marcos Wanst findet vieles Platz.

Aufbruchsstimmung

Zuletzt gilt es zu überlegen, in welcher Farbe man Marco streichen würde. Blau - wie das unendlich weite Meer vor der Küste Triests, wie das legendäre Pferd des Franz Marc? So soll es sein. Nun ist Marco bereit für seine Reise in die Welt. Auf sechshundert handbemalten Plakaten wird die Stadt auf den Zug der matti, wie man die Geisteskranken nennt, vorbereitet. Am 25. Februar 1973 geben sich Patienten, Ärzte und Künstler kämpferisch: Sollen sie doch alle herschauen und uns begaffen, uns, das Lumpenpack aus San Giovanni. Aufbruchsstimmung macht sich breit.

Plötzlich scheint möglich, was vorher nicht denkbar war. Am Abend, als das Fest zu Ende geht, sind alle euphorisch. Zeitungen, Radio und Fernsehen berichten von der Aktion, Marco Cavallo bleibt als Symbol in San Giovanni zurück: In ihm steckt die Hoffnung. Nicht nur für Triest. Franco Basaglia steht in regem Austausch mit Kollegen aus Frankreich, England und den USA - darunter Michel Foucault, Ronald D. Laing und Erving Goffman.

Aus der ganzen Welt reisen Ärzte und Interessierte nach San Giovanni, um Basaglias Arbeit kennenzulernen. Bücher wie "Was ist Psychiatrie?" oder "Die negierte Institution oder die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen" werden zu Bibeln. Das Echo stärkt Basaglia den Rücken. Er erhält zusätzliche Unterstützung vom christdemokratischen Präsidenten der Provinzverwaltung, Michele Zanetti, der das Programm von politischer Seite her mitträgt. Die ambulante Betreuung der Kranken außerhalb der Klinikmauern ist einer der Grundpfeiler, auf die man fortan baut.

Auf dem Gelände des ehemaligen Spitals gibt es nun einen Rosengarten.
© Archivio Comune di Trieste / Archiv Triester Stadtgemeinde

Und doch: Was sich im Rückblick als Erfolgsgeschichte liest, bedeutet in jenen Jahren eine Übung in Geduld, Durchhaltevermögen und Zuversicht. Viele Triestiner sind überfordert. Sie wollen keine psychisch Kranken in der Nachbarwohnung, sie wollen keine "Verrückten" in den Straßen ihrer Stadt herumirren sehen. Wer weiß, was denen einfällt, wenn die alle frei- und losgelassen sind. Kann man sich in Triest überhaupt noch sicher fühlen?

Kritiker kommen auch aus den eigenen Reihen. Es sei zu früh für derlei hochfliegende Pläne, sie seien naiv und angesichts eines maroden Gesundheitssystems nicht finanzierbar. Basaglia aber bleibt unbeirrbar, bis die Widerstände schwächer werden. Im Jahr 1977, als er die Schließung von San Giovanni in Aussicht stellt, zählt man dort nur noch 131 stationäre Patienten, von denen 81 aus eigenem Antrieb da sind, als Gäste sozusagen.

Es gibt auf ganz Triest verstreute psychosoziale Ambulatorien, die sich auf ein breites Spektrum therapeutischer Behandlungen stützen. Am 13. Mai 1978 wird in Rom die legge 180 gebilligt. Das Gesetz sieht die graduelle Auflösung der Psychiatrischen Anstalten vor und verhilft den Kranken zu ihren Rechten. Genugtuung und Ansporn für Franco Basaglia: Er hat sich lange für diese Novelle starkgemacht. Zwei Jahre später stirbt er. Triest hütet sein Erbe. Die "legge 180" wird in den nun folgenden Jahren kritisiert, angefeindet, sabotiert. Man schreit nach einer Reform der Reform. Doch die Gesellschaft ist stark genug, nicht mehr hinter die darin festgeschriebenen Leitlinien für die Psychiatrie zurückzugehen.

Triest ist bis heute damit beschäftig, sich selbst zu finden. Der Industriehafen ist zum Moloch angewachsen, China hat sich eingekauft, um Asien und Europa mit einer neuen Seidenstraße zu verbinden. Die Stadt erlebte auch touristisch einen Aufschwung, Triest galt vor der Corona-Pandemie als regelrechte Boomtown.

Was sich nach Ende der neuerlichen Covid-19-Maßnahmen fortsetzen dürfte: Die Lage und Geschichte der Stadt faszinieren, ihre hochherrschaftlichen Bauten, die bis zu den Römern zurückreichen, die prächtigen Plätze, Boulevards und Promenaden am Meer und die von Lokalen gesäumten, belebten Gassen hinter dem Hafen. Hier lässt es sich von der glorreichen Vergangenheit träumen, dem "mishmash" der Völker und Kulturen und einer inspirierenden Vielfalt von Lebensweisen. So lernt man Toleranz.

San Giovanni, das Ex-Opp, wie die Triestiner das ehemalige Spital liebevoll-salopp nennen, wurde inzwischen zu einem öffentlichen Park umfunktioniert, mit einem Rosengarten, in dem über fünftausend Sorten blühen. In die Pavillons sind neben Kultur- und Bildungseinrichtungen zwei Institute der Universität eingezogen. An den Wänden die Parolen von einst: "La libertà è terapeutica". Oder auch: "La verità è revoluzionaria".

Marco Cavallo als Bronzestatue im Park.
© Archivio Comune di Trieste / Archiv Triester Stadtgemeinde

Und Marco Cavallo, wo ist das Pferd geblieben? Lange Jahre entdeckte man es auf der Veranda des Pavillons des Dipartimento di Salute Mentale, ein überdimensionales blaues Fabelwesen. Es hatte im Getümmel seinen Kopf verloren. Inzwischen hat man Marco in Bronze verewigt. Auf dass er ewig weiterlebe, so wie das Gedankengut des Franco Basaglia, und mit ihm die Erinnerungen an die Öffnung der Psychiatrie, an den Auszug der Patienten, den Ruf der Freiheit. Viva Marco Cavallo.

Susanne Schaber, 1961 in Innsbruck geboren, lebt als Literaturkritikerin und Reiseschriftstellerin in Wien.