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Produktivität des Andersseins

Von Peter Jungwirth

Reflexionen
Pier Paolo Pasolini auf dem Filmset von "La Ricotta", 1963.
© getty images / Keystone / Hulton Archive

Vor 100 Jahren wurde der Regisseur und Autor geboren, dessen Leben und Werk bis heute polarisieren.


"Ich bin eine Kraft aus der Vergangenheit." So beginnt Pier Paolo Pasolini ein Gedicht. Man kann die Worte vielleicht als Schlüssel zu seinem aus jeder Perspektive widersprüchlich erscheinenden Leben und vielschichtigem Werk ansehen. Archaisch waren jedenfalls die Themen vieler seiner Filme. Archaisch waren die Lebensformen, deren Zerstörung durch eine entfesselte Konsumgesellschaft er beklagt hat. Und archaisch war schließlich auch sein Tod, in der Nacht zwischen Allerheiligen und Allerseelen, nahe Rom: Pier Paolo Pasolini wurde - so, als wäre er zur Figur einer seiner Filme geworden - am 2. November 1975 erschlagen und gerädert auf einem Fußballplatz am Rande von Ostia aufgefunden.

Rätselhafter Tod

Der Mord an Pasolini verursachte Spekulationen. Und er gibt auch an seinem 100. Geburtstag noch Rätsel auf. Man kommt, selbst wenn man diese Frage beiseitelassen und mehr über den Lebenden erfahren möchte, nicht an seinem Tod vorbei. Zwar wurde bereits kurz nach der Tat ein siebzehnjähriger Strichjunge, der - scheinbar panisch - in Pasolinis Alfa vom Tatort geflüchtet war, verhaftet. Und der gestand zunächst auch den Mord und wurde zu neun Jahren Haft verurteilt.

Aber dreißig Jahre später widerrief er sein Geständnis: Nicht er, sondern drei ihm unbekannte Männer hätten Pasolini damals erschlagen. Er habe aus Angst vor den wirklichen Tätern gestanden. Tatsächlich war bereits beim Prozess vor Gericht die Gegenwart mehrerer unbekannter Täter am Tatort festgestellt worden, aber die Staatsanwaltschaft gab sich mit dem Geständnis zufrieden. Für sie war Pasolini das Opfer einer "für Homosexuelle typischen" Auseinandersetzung - und daran änderte auch der Widerruf nichts.

Guido Calvi, der Rechtsanwalt von Pasolinis Erben, hielt den Mord allerdings stets für "ein politisches Verbrechen". Und 2010 gelang es ihm auch, aufgrund einer günstigen Verkettung von Umständen, dass der Fall wieder aufgenommen wurde. 2015 wurden die Untersuchungen allerdings eingestellt. Auf den alten Beweistücken wurde zwar die DNA von mindestens fünf Menschen gefunden - zu greifbaren Tätern hatte aber offenbar keine der Spuren geführt. Und vielleicht war ja auch wirklich alles ganz anders.

Neben der These vom Mord im Affekt, begangen vom Strichjungen, und jener von einem politischen Auftragsmord, begangen von unbekannten Tätern, gab es auch noch eine dritte These: und zwar jene vom - künstlerisch motivierten - "delegierten Selbstmord". Tatsächlich lassen sich im Werk von Pasolini viele Stellen finden, die auf diese Möglichkeit hinzudeuten scheinen. Und vor allem die apokalyptische Grausamkeit, die Pasolini in seinem letzten Film, "Salò oder die 120 Tage von Sodom", im Jahr seines Todes auf die Leinwand brachte, hat scheinbar manche dazu verführt, eine prinzipielle Möglichkeit mit einer bewiesenen Tatsache zu verwechseln. Aber lassen wir Rätsel und Vermutungen jetzt einmal beiseite.

Wer war Pier Paolo Pasolini, der am 5. März 1922 in Bologna als Sohn eines Offiziers und einer Grundschullehrerin in bürgerliche Verhältnisse - und in ein Land, das zunehmend faschistisch wurde -, hineingeboren wurde? Und lohnt es sich heute noch, sich mit ihm zu beschäftigen? Oder ist über Pasolini, der als einer der bedeutendsten italienischen Dichter des 20. Jahrhunderts galt und schon Gegenstand mehrerer Biographien und zahlloser schriftlicher und auch filmischer Zeugnisse wurde, bereits alles gesagt und geschrieben worden?

Ikonenhafte Popularität

Wenn man die Zahl der deutschsprachigen Bücher von oder über Pasolini, die in den letzten Jahren erschienen sind, als Indikator nimmt, ist das Interesse an seiner Person ungebrochen. Und die heuer in Rom stattfindenden Ausstellungen, die ihm gewidmet sind, beweisen, dass Pasolini in der Stadt, in der er ein Vierteljahrhundert gelebt und gewirkt hat, nicht in Vergessenheit geraten ist. Wobei seine - ikonenhafte - Popularität, ähnlich jener Che Guevaras, durchaus fragwürdig ist. Und auch aus historischer Distanz nicht genau auszumachen ist, wo die aufrichtige Verehrung aufhört - und die Verklärung beginnt.

Wie notwendig die kritische Beobachtung seines - auch heute noch Überraschungen bietenden - Werks bleibt, zeigen etwa Florian Baranyi und Monika Lustig in ihrem neuen Buch "Eine Jugend im Faschismus". Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen ist ein Text, den der 20-jährige Pasolini im August 1942 in einer ("regimekritischen, dann assimilierten") Zeitschrift veröffentlicht hat. Es ist ein - tatsächlich bemerkenswerter - Bericht über seine Teilnahme an einer groß angelegten "Kulturkundgebung der Europäischen Jugend", die im Juni 1942 in Weimar und Florenz stattfand.

Pasolini war als Teil der italienischen Delegation in Weimar. Und er berichtet von dort: "In den wichtigsten Buchhandlungen von Weimar, dem deutschen Florenz, vermochte ich keinen einzigen Band mit Gedichten klassischer Autoren zu entdecken." Dieser Befund hat Sprengkraft und ist ganz unmissverständlich: Hitlers Deutschland ist keine Kulturnation mehr. Und Pasolini weist - öffentlich - auf diesen Umstand hin. Müsste das nicht reichen, um dem Verdacht, der humanistisch gesinnte Pasolini könnte damals Sympathie für den Faschismus gehabt haben, allen Wind aus den Segeln zu nehmen? Monika Lustig und Florian Baranyi erklären, Pasolinis Biografie und Italiens Faschismus nachspürend, warum die Frage "Wem gehört Pasolini?" bis heute aktuell ist.

"Torschützenkönig"

Genau festzulegen, auf welcher Seite Pasolini eigentlich stand, ist allerdings schwierig. Er war jedenfalls, das steht außer Zweifel, zum Zeitpunkt seines Todes einer der wichtigsten und vielseitigsten Protagonisten der kulturellen Szene Italiens. Er selbst bezeichnete sich zeitlebens als Schriftsteller, er war aber auch Maler und Zeichner, Sprachwissenschafter, Schauspieler, Herausgeber, Drehbuch- und Theaterautor, Journalist, und nicht zuletzt ein vielbeachteter Gesellschaftskritiker.

© Edition Converso

Und daneben, zwischendurch, immer wieder, bis zu seinem Tod, war Pasolini auch noch ein ambitionierter und passionierter Fußballer, athletisch, angriffslustig, mit Zug zum Tor. Valerio Curcio fokussiert seine Aufmerksamkeit in dem Buch "Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen" ganz auf diese bisher unterbelichtete Facette, und er macht Pasolini, der mit einem Fußballtrikot auf dem Sarg zu Grabe getragen wurde, mit diesem umsichtigen, detailreichen und dabei stets gut geerdeten Porträt als Mensch greifbar.

Und dann war Pasolini auch noch Filmregisseur. Wobei Italiens Filmindustrie in den 1950er und 60er Jahren große Bedeutung hatte. 250 Langfilme wurden pro Jahr produziert, mehr als irgendwo sonst in Europa, und die Werke von Antonioni, De Sica, Fellini, Rossellini und Visconti wurden weltweit bewundert.

Bekannt wurde Pasolini, der in Bologna Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Philologie studiert hatte, aber zuerst als Lyriker und Romancier. 1942 veröffentlicht er "Poesie a Casarsa", einen Gedichtband in friaulischer Sprache - wobei Dialekt im faschistischen Italien verboten war, weshalb das Buch in der Schweiz erscheinen musste. Nach einer fluchtartigen Übersiedlung nach Rom im Jänner 1950 - nach einer Anklage wegen "obszöner Handlungen in der Öffentlichkeit" hatte er seine Stelle als Lehrer verloren - entstehen seine im Milieu des Subproletariats der römischen Vorstädte angesiedelten Romane "Ragazzi di Vita" (1955) und "Una vita violente" (1959). Pasolini sympathisiert darin mit seinen ungeschönt dargestellten Protagonisten - Gelegenheitsdieben, Strichjungen und Zuhältern - und stilisiert sie zu Opfern, die im brutalen Überlebenskampf scheitern. Dabei verbindet er die realistische Darstellung der tristen Lebensverhältnisse mit ästhetisch anspruchsvoller Gestaltung und berühmten Zitaten aus der Kulturgeschichte.

Nochmals das gleiche Motiv (wie oben), allerdings von der Fotoagentur fälschlich als im Rahmen der Dreharbeiten zu "Das erste Evangelium - Matthäus" ausgegeben, und (vermutlich aus ästhetischen Gründen) um ein Kreuz minimiert. . .
© ullstein bild

Inhaltlich schließen die ersten Filme Pasolinis, "Accattone" (1961) und "Mamma Roma" (1962), an diese beiden Vorstadt-Romane an, stilistisch beschreitet er - indem er die Bildsprache der italienischen Maler und klassische Musik leitmotivisch einsetzt - neue Wege und emanzipiert sich vom nach dem Krieg dominierenden Neorealismus: In "Accattone" wird der Abstieg eines Zuhälters von Beginn an von Bachs "Matthäuspassion" begleitet, und am Ende von "Mamma Roma" liegt der junge Dieb, der in Polizeigewahrsam gestorben ist, wie der tote Christus von Mantegna aufgebahrt.

Dass Pasolini - der nach dem Krieg der KPI beigetreten war und der Linken auch nach seinem Parteiausschluss nahestand - die Tragödien seiner kleinkriminellen Helden mit dieser Symbolik zu Passionsgeschichten (üb)erhöht, war wohl nicht seinem Hang zur Provokation geschuldet, sondern seiner verzweifelten Suche nach einer zukunftsweisenden Programmatik. Der Kommunismus hatte in den 50er Jahren seinen Anschein von Unschuld verloren, und in Rom wehte Anfang der 60er ein frischer Wind durch die Kirche: Johannes XXIII. hatte das Zweite Vatikanische Konzil einberufen. Pasolini, der im "Konsumfaschismus" eine Macht sah, die jahrhundertealte Traditionen und kulturelle Werte zerstörte, sah im Urchristentum einen Verbündeten gegen diese - von ihm als fatal empfundene - Entwicklung.

Evangelium-Drehbuch

Vor diesem Hintergrund entstand Pasolinis Filmversion des Lebens Jesu. Er verwendete das Matthäus-Evangelium als Drehbuch, fügte dem Text in Süditalien aufgenommene Schwarz-Weiß-Bilder sowie Musik von Bach, Mozart, Prokofjew, Webern und Bacalov hinzu und widmete den Film "der gütigen, fröhlichen, leutseligen Erscheinung Johannes XXIII".

"Il Vangelo secondo Matteo" (dt. "Das erste Evangelium - Matthäus"), so Pasolini, der die ihren am Kreuz hängenden Sohn beweinende Maria von seiner Mutter Susanna spielen ließ, "sollte eine aufrüttelnde Anklage gegen eine sich blind in die Zukunft stürzende Bourgeoisie sein, die nur die Zerstörung des Menschen und seiner menschlichen, klassischen und religiösen Wesenszüge zur Folge haben kann".

Als Kommunist, der Inspiration ausgerechnet aus Assisi bezieht - dort war ihm die Idee zu diesem Film gekommen -, war Pasolini allerdings ein Anachronismus. Und für die Linke wurde er zur Zielscheibe von Kritik. Von einschlägiger Engstirnigkeit hatte sich Pasolini aber schon 1957 mit seinem Gedichtband "Le ceneri di Gramsci" ("Gramci’s Asche") abgesetzt. Er unterschied Ideologie und Leidenschaft - und gab Letzterer den Vorzug.

In den nächsten zehn Jahren dreht er, experimentierfreudig und theoretisierend, parallel zu seinen schriftstellerischen und anderen Tätigkeiten, jedes Jahr einen Film. Zuweilen mit großen Budgets, mitunter an betörenden, exotischen Schauplätzen. Und er treibt seine Themenwahl noch weiter zurück in die Vergangenheit - und 1967 mit "Edipo Re" auch weiter hinein in seine eigene Geschichte. Die Geschichte von König Ödipus wurde Pasolinis persönlichster (und komplexester) Film.

1969 spielt Opernstar Maria Callas in "Medea" die Titelrolle, aber der Film, der sich erzählerischen Konventionen entzieht, wird ein kommerzieller Misserfolg. Aus der Vergangenheit schöpft Pasolini seine Themen aber weiterhin, allerdings nun mit mehr Zugeständnissen an das Kommerzielle. Mit den drei Filmen, die er zwischen 1971 und 1974 dreht, spricht er nicht nur die Kritik, sondern auch ein breites Publikum an. Nicht zuletzt durch großzügig zur Schau gestellte - auch männliche - Nacktheit. "Decameron", nach Boccaccio, wird ein Kassenschlager. Auch in "I racconti di Canterbury", nach Novellen des mittelalterlichen englischen Dichters Geoffrey Chaucer, verbindet Pasolini künstlerischen Anspruch mit anregenden Bildern. Und in "Il fiore delle mille e una notte" - einem Reigen aus fünfzehn Liebeserzählungen aus den "Märchen aus 1001 Nacht" - geht er noch ein Stück weiter. Und zeigt, was in einschlägigen Werken wie etwa dem "Kamasutra" nur erzählt wird.

Die Sexualität ist bei Pasolini ein Kapitel für sich. Schon seine frühe, stark autobiographisch grundierte Erzählung "Romans", die er Ende der 40er Jahre schreibt, kreist, sehr subtil, um das Problem der unterdrückten Sexualität eines jungen, homosexuellen Lehrers und Priesters. In "Ragazzi di Vita", einige Jahre später und im Milieu von Halbwüchsigen aus den römischen Elendsvierteln angesiedelt, äußert sich das sexuelle Begehren dann lautstark, unverschämt und unübersehbar. Und in Pasolinis letztem, monumentalen Roman, "Petrolio", der 1992 postum als Fragment - mit 600 von 2.000 geplanten Seiten - erschien, fallen beim Protagonisten, besonders was die eigene weibliche Verwandtschaft betrifft, nahezu alle Hemmungen.

Die Sexualität - und die damit verbundene, für ihn quälende Empfindung des Andersseins - war für Pasolini eine existenzielle Erfahrung, und er nutzte sie zeitlebens als produktive künstlerische Kraft. Finaler Ausdruck davon ist sein letzter Film, "Die 120 Tage von Sodom" (1975), in dem er vier Faschisten nach Manier des Marquis De Sade (in einer schlossartigen norditalienischen Villa aus lange vergangenen Zeiten), vier Monate lang, nach einem ausgefeilten Regelwerk, aber unbeschränkt von jeder Moral, über eine Gruppe junger Menschen verfügen lässt. Eine abgründige Version der Hölle auf Erden.

Antwort von Andreotti

Pasolini war ein Intellektueller, der allen politischen Lagern und manchmal auch seinen Freunden unbequem war. Einer, der bei seiner Suche nach Wahrheit keinerlei Rücksichten nahm, und dessen Werke extrem polarisierten. Und er war, das sollte nicht vergessen werden, einer, dessen Worte von den damals Mächtigen - wenn schon nicht verstanden - zumindest aufmerksam gehört wurden.

1973 beginnt Pasolini bei der konservativen Tageszeitung "Il Corriere della Sera" mitzuarbeiten. Nach Bombenanschlägen in Brescia und Bologna schreibt er dort, unter dem Titel "Der Roman von den Massakern", eine legendär gewordene Anklage gegen die politische und gesellschaftliche Führungsschicht Italiens: "Ich weiß all die Namen und kenne alle Vergehen, (...) derer sie sich schuldig gemacht haben. Ich weiß. Aber ich habe keine Beweise. Nicht einmal Indizien. Ich weiß, weil ich ein Intellektueller bin , (...) der sich vorzustellen vermag, (...) was verschwiegen wird."

Auch ohne Beweise riefen seine Artikel erstaunliche Reaktionen hervor. Als Pasolini eine Klage über das durch Umweltverschmutzung verursachte Verschwinden der Glühwürmchen mit einer Analyse der Politik der Christdemokraten verband, antwortete ihm im "Corriere" bereits am nächsten Tag ausführlich - Giulio Andreotti, der mehrfache Premierminister Italiens. Ob Pasolini immer die richtigen Antworten hatte? Selbst wenn dem so wäre, wäre es schwer zu beweisen. Dass er furchtloser als viele seiner Zeitgenossen die richtigen und wichtigen Fragen zu stellen vermochte, lässt sich aber kaum leugnen. Ein Blick auf die "Kraft aus der Vergangenheit" lohnt somit gewiss auf dem Weg in die Zukunft.

Literatur (neu erschienen):

Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Späte Gedichte. Aus dem Italienischen von Theresia Prammer. Suhrkamp, Berlin 2021, 621 Seiten, 43,20 Euro.

Valerio Curcio: Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini. Aus dem Italienischen von Judith Krieg. Mit einem Vorwort von Moritz Rinke. Edition Converso, Bad Herrenalb 2022, 188 Seiten, 20,60 Euro.

Florian Baranyi, Monika Lustig: Pier Paolo Pasolini. Eine Jugend im Faschismus. Mit einem Originaltext Pasolinis: Italienische Kultur und europäische Kultur in Weimar. Edition Converso, 2022, 160 Seiten, 18,50 Euro.

Peter Jungwirth, geboren 1962, lebt als freier Autor und Fotograf in Wien.