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Die Prophezeiung des Otto Habsburg

Von Christoph Rella

Reflexionen

Der Kaisersohn warnte vor Wladimir Putin - aus einem tiefen Verständnis für historische Zusammenhänge heraus.


Als Wladimir Putin Ende Februar den Einmarsch in die Ukraine befahl, ruhte sein größter (westlicher) Kritiker, Otto Habsburg, bereits zehn Jahre in der Wiener Kapuzinergruft. Tatsächlich ließ der Kaisersohn, wie nun zahllose eilig hervorgekramte Zeitungsinterviews und Videomitschnitte zeigen, bis zuletzt kaum eine Gelegenheit aus, um die Welt vor einem revisionistischen "National-Bolschewismus" und der Gefahr neuerlicher russischer "Kolonialkriege" in Europa zu warnen. "Wir haben ein großes Problem mit unserem mächtigen Nachbarn Russland", sagte Habsburg schon 2003 anlässlich eines Vortrags in Bregenz und zögerte zum Erstaunen der Zuhörer auch nicht, Putin mit Hitler zu vergleichen.

Die Russische Föderation befinde sich, so der damals 91-Jährige, wie das Deutsche Reich in den 1930er Jahren auf dem Weg in den Totalitarismus, also in eine Diktatur mit Gleichschaltung und Verfolgung: "Wir müssen daran denken, dass wir heute nicht in einer lieben, friedlichen Welt leben, sondern in einer, wo es Gefahren gibt. Und wo man ohne Weiteres, wie uns die Beweise des 19. Jahrhunderts gezeigt haben, durch die richtige, zeitgerechte Vorbereitung den Frieden retten kann. Aber wenn man träumend hineingeht, wird man das Gleiche erleben, was man in meiner Zeit erlebt hat." Es sind dies Worte, die heute, knapp 20 Jahre später, hochaktuell wirken. Aber wie konnte der 2011 verstorbene Ex-EU-Parlamentarier das voraussehen? Und wie wäre der Frieden in seinen Augen zu retten?

Vom Wert des Reiches

Nun, um diese prophetischen Ahnungen nachvollziehen zu können, lohnt ein Blick in Habsburgs politische Geisteswelt. Grundsätzlich muss man anerkennen, dass die Bücher, Schriften und Reden des früheren Kronprinzen meist von einer sehr kritischen Haltung zu Russland geprägt sind.

Das für viele westliche Politiker stereotype Überlegenheitsgefühl den Ostvölkern gegenüber spielte keine Rolle, auch nicht explizit der Sowjetkommunismus. Es war vielmehr das tiefe Verständnis Habsburgs für historische Zusammenhänge, das ihn vor der "roten Gefahr" warnen ließ - selbst in den Jahren nach der Wende, als man sich am Vorabend der Osterweiterung von EU und Nato in Europa sicherer fühlte als jemals zuvor.

Wenn Habsburg auf die "Beweise des 19. Jahrhunderts" und die Rettung des Friedens zu sprechen kam, so bezog er sich gewöhnlich auf das politische Konzept der sogenannten "Reichsidee". Gemeint ist damit eine über allen Nationen und Ethnien stehende, übernationale Herrschaft, wie sie ein Jahrtausend lang im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bestanden hat und durch Gründung des Deutschen Bundes am 8. Juni 1815 ihre Fortsetzung fand. Getragen wurde dieser Bund von Österreich und Preußen sowie 37 weiteren Staaten, darunter die Niederlande und Dänemark. Der Beschluss der "Deutschen Bundesakte" werde, darin waren sich die Fürsten damals einig, nicht nur die "Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands" gewährleisten, sondern auch das Gleichgewicht Europas wiederherstellen.

Das üppige Vollwappen des russischen Kaiserreiches: Darin integriert sind u.a. die Wappen Polens und Finnlands.
© Public domain / Barbe Igor / via Wikimedia Commons

Für Otto Habsburg war das alte Reich, wie es bis zu seiner Selbstauflösung 1806 bestanden hatte (und im Deutschen Bund bis 1866 fortwirkte), ein Rechtsstaat christlicher Prägung, der über Jahrhunderte in Europa für Ausgleich und Sicherheit gesorgt habe. Zwar diene auch der Reichsgedanke dem Ziel, schrieb Habsburg, "größere Räume zu schaffen und Teilbereiche zu einigen, aber nicht durch Unterwerfung und Beherrschung, sondern mit Hilfe einer weiten, über den Gemeinschaften liegenden Rechtsordnung, deren Durchsetzung und gerechte Verwaltung dem Reiche obliegt".

Der Reichsgedanke suche nicht die Vorherrschaft, sondern Harmonie, zudem vertrete er das Prinzip der Gleichheit unter den Völkern, postulierte der ehemalige Kronprinz. "Ein Rechtsstaat erkennt sich an dem Respekt für die Belange der unbedeutendsten und unbeliebtesten Minderheiten. Der Mehrheit zu dienen, ist keine Kunst."

Und hier kommt Russland ins Spiel. In Habsburgs Denken war der russische Staat alles, aber nie ein "Reich". Er verglich die Imperien der Zaren und Sowjets ebenso wie die "Russische Föderation" Jelzins und Putins mit einer politischen Konzeption, die er "Universalmonarchie" nannte. Damit war nicht die "Monarchia Universalis" eines Karls V. gemeint, sondern eine auf Willkür und Machtstreben basierende Gemeinschaft, welche die Berufung hat, "die sie umgebenden Gebilde gleicher Art zu beherrschen". Ob die Ukraine, Polen, das Baltikum, der Kaukasus oder die Länder Sibiriens und Zentralasiens - sie alle wurden seinerzeit mehr oder weniger gewaltsam geeint und in die Universalmonarchie eingegliedert.

Habsburg stand hier in der Tradition des französischen Denkers und Autors Alexis de Tocqueville, der das russische Volk bereits 1838 mit den Worten charakterisierte: "Der Amerikaner kämpft gegen die Hindernisse, die die Natur ihm bietet; der Russe liegt im Kampf mit den Menschen. Jener ringt mit Wüste und Barbarei; dieser mit der vollbewaffneten Zivilisation: Daher erobert der Amerikaner mit dem Pflug, der Russe mit dem Schwert des Soldaten."

Eine Ursache dafür, warum etwa die Vereinigten Staaten im Gegensatz zu Russland nie zur Universalmonarchie wurden, sah Habsburg in bestimmten "reichischen Elementen" der US-Politik begründet, auch wenn diese nicht frei von imperialistischen Tendenzen war: "Bezeichnenderweise haben bisher die imperialistischen Momente in ihrer Politik zu den größten Rückschlägen der USA geführt, die reichischen hingegen waren Lichtpunkte und Garanten des Aufstiegs Amerikas."

Auf 1866 folgte 1945

Als den reichischen Lichtpunkt in der jüngeren Geschichte Europas erachtete Habsburg den Wiener Kongress von 1815, weil der - im Gegensatz zu Versailles 1919 und Jalta 1945 - einen echten Frieden garantierte. Nicht nur wurde hier der Deutsche Bund ins Leben gerufen, sondern auch das besiegte Frankreich als gleichberechtigter Partner einbezogen und von Anfang an für das Friedenswerk mitverantwortlich gemacht. Die Zusammenarbeit zwischen Metternich und Talleyrand habe ergeben, betonte Habsburg, dass hier der Gedanke eines "europäischen Europa" zum ersten Mal zur Anwendung kam - und zwar ohne Russland und England, die beide "wohl Anteil an Europa hatten, aber nicht zur Gänze europäisch angesehen wurden".

Diese Beobachtung Habsburgs, niedergeschrieben in einem Aufsatz 1971, ist hochaktuell. Folgt man dieser Interpretation, wussten die Staatenlenker Europas bereits vor 200 Jahren, dass mit Briten und Russen, wie Brexit und Ukrainekrieg zeigen, kein "Reich" zu machen ist. Dass das 1815 geschaffene europäische Gleichgewicht dennoch ins Wanken geriet und dies in zwei Weltkriege mündete, lag nicht an England oder Russland, sondern an Preußen.

Als sich die Norddeutschen, geblendet vom vorherrschenden Nationalismus, anschickten, ihr eigenes Deutsches Reich zu schaffen, führte dies 1866 zum Konflikt mit Österreich und in der Folge zur Zerstörung des Deutschen Bundes - und damit der Reichsidee.

Resultat der Schlacht bei Königgrätz waren laut Habsburg zwei "Fehlkonstruktionen": Während Preußen 1871 im Deutschen Reich aufging und selbst - spätestens mit dem Aufstieg Hitlers - zur brutalen Universalmonarchie mutierte, suchte Österreich sein Heil im österreichisch-ungarischen Dualismus, der zwar noch einen Rest des Reichsgedankens verkörperte, sich aber letztlich als nicht überlebensfähig erwies.

Und so trat nach 1918 das ein, vor dem schon der tschechische Politiker und Historiker František Palacký 1848 gewarnt hatte: nämlich, dass mit der Auflösung des Deutschen Bundes die Völker des Donauraumes - beraubt um ihren reichischen Rückhalt in Europa - Opfer der russischen Universalmonarchie werden würden.

"Palacký begriff", notierte Habsburg, "daß Österreich den Staat der vielen kleinen Völker darstelle, die jedes für sich zu schwach seien, sich selbst gegen die großen zu schützen, gemeinsam aber stark genug, ihre Freiheit zu bewahren. Für ihn war daher Österreich allein imstande, seinen Landsleuten wie auch ganz Europa Sicherheit gegenüber dem russischen Imperialismus zu gewähren."

Palacky sollte recht behalten. Keine 30 Jahre nach dem Zusammenbruch von 1918 war Osteuropa von sowjetischen Truppen besetzt und in den Hauptstädten regierten moskautreue KP-Regime.

Für Habsburg geschah diese Entwicklung zwangsläufig. Mit der Zerstörung des Reichsgedankens, und weil mit der Universalmonarchie Stalins kein reichischer Friede möglich war, kam es 1945 in Jalta zur Teilung Europas. Ging es nach dem Kaisersohn, konnte nur ein geeintes, reichisches Europa den unterjochten Ländern im Osten die Befreiung und - gemeinsam mit einem reichischen Amerika - dem Kontinent Sicherheit bieten. Die Gnade eines langen Lebens gestattete es ihm, das Eintreten dieses Ziels, die Osterweiterung der EU 2004, noch zu erleben.

Kein Appeasement

Denn über eines machte sich der Habsburger keine Illusionen: dass sich der russische Universalmonarchismus mit dem Ende der Sowjetunion gewandelt hätte. Als Indizien führte er nicht nur die "Kolonialkriege" gegen Tschetschenen (1998) und Georgier (2008) an, sondern auch die Transformation des politischen Systems hin zu einer Diktatur. "Wenn man die russische Politik der letzten Zeit verfolgt, und wenn man insbesondere das Privileg hat, 93 Jahre alt zu sein und daher ganz lebendig miterlebt hat, den ganzen Machtaufstieg von Hitler und dessen Rolle in der europäischen Politik, so wird man dazu kommen, dass sich das ja alles heute repetiert", sagte Habsburg 2005 in Wolfurt. "Es sind genau die gleichen Sachen, die wieder geschehen."

Allein, die Welt und insbesondere Europa wollte die Kassandrarufe nicht hören. Gewiss ist, dass die russische Invasion der Ukraine Habsburg zwar getroffen, aber nicht überrascht hätte. Dass nun die EU dem angegriffenen Land den Beitrittsstatus angeboten hat, hätte er wohl begrüßt, gleichzeitig aber dem Westen vorgeworfen, zu lange zugewartet und Appeasement-Politik betrieben zu haben - und das schon lang vor der Besetzung der Krim 2014.

Die Aufgabe Europas sei es, erklärte Habsburg in einer Rede über die Lage in der Ukraine, "alles zu tun, um diesen russischen Imperialismus einzudämmen und der Ukraine tatsächlich jene Unabhängigkeit zu sichern, die notwendig ist und auf die sie ein Recht hat". Gehalten hat er die Rede am 29. November 1995. Mehr als 26 Jahre vor Putins Einmarschbefehl.

Literaturhinweise:

Otto Habsburg: Damals begann unsere Zukunft. Wien/München 1971

Otto von Habsburg: Die Reichsidee - Geschichte und Zukunft einer übernationalen Ordnung. München 1986

Stephan Baier/Eva Demmerle: Otto von Habsburg 1912-2011. Die Biographie. Wien 2012

Christoph Rella, geb. 1979, Autor und Historiker, arbeitet als Redakteur bei der "Wiener Zeitung".