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Der Desperado aus der Vorstadt

Von Peter Payer

Reflexionen
Eine Gedenktafel an einem unscheinbaren Gründerzeithaus in der Burghardtgasse 18 erinnert an Joseph Delmont.
© GuentherZ, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Eine Erinnerung an das abenteuerliche Leben des Artisten, Filmpioniers und Starautors seiner Zeit.


Man kann sie leicht übersehen, die Gedenktafel an dem unscheinbaren Gründerzeithaus in der Burghardtgasse 18, nahe der großen Straßenbahnremise in Wien-Brigittenau. Und doch ist es lohnend, hier stehen zu bleiben, denn erinnert wird an einen Mann, der zwar heute weitgehend vergessen ist, einst aber die Populärkultur des beginnenden 20. Jahrhunderts entscheidend prägte: Joseph Delmont, Artist, Dompteur und Pionier des frühen Stummfilms, in späteren Jahren Erfolgsschriftsteller, wuchs hier in ärmlichsten Verhältnissen auf. Und schlug von hier aus einen Lebensweg ein, der wendungsreicher und phantastischer nicht sein konnte. "Brigittenauer Romane", so die Inschrift auf der Tafel, spielten darin eine wichtige Rolle. Doch wie wurde aus dem Arbeiterkind ein Unterhaltungskünstler von Weltruf?

Begonnen hatte es im Waldviertel. Hier wurde er unter dem Namen Josef Pollak am 8. Mai 1873 in Loiwein, einem kleinen Ort nahe Krems, geboren. In ein kinderreiches Elternhaus jüdischer Herkunft, der Vater war Gastwirt und Kaufmann. Nach drei Jahren übersiedelte die Familie aus wirtschaftlichen und persönlichen Gründen (mehrere Kinder starben krankheitsbedingt) nach Wien. In der Brigittenau, die damals noch Teil der Leopoldstadt und aufstrebendes Hoffnungsgebiet war, wollte man sich eine neue Existenz aufbauen. Was auch in bescheidenem Maße gelang.

Lesender Lausbub

Josef besuchte die Volksschule in der Wintergasse (heute Hartlgasse), verbrachte seine Freizeit in den umliegenden Gstettn, am Donaukanal oder bei den Glashäusern der zahlreichen Gärtner. Die zunehmend verschwanden, denn die Industrialisierung hatte diesen Teil Wiens massiv erfasst. Allerorts schossen Fabriksschlote in die Höhe, die Verbauung schritt voran, mehrstöckige Mietskasernen, wie jene, in der er selbst wohnte, begannen das Stadtbild zu prägen.

Als "verlotterten Lausbub, gefürchteten Raufbold und Fressaliendieb, bekannten Fensterscheibeneinwerfer und Anführer einer Horde gleichgesinnter Strolche" sollte er sich in seinen Kinderjahren später einmal selbst charakterisieren. Mit einem großen Faible fürs Lesen von Groschenromanen, Karl May und Rudyard Kipling. Phantastische Geschichten und Abenteuer gingen ihm früh im Kopf herum.

Als 1882 ein Zirkus mit einer Artistentruppe in der Nähe Station machte, riss Josef, noch nicht einmal neun Jahre alt, kurzerhand von zu Hause aus und schloss sich dieser an. Er tingelte mit ihr durch Böhmen und Ungarn, lernte kleine Kunststücke und kam erst fünf Jahre später nach Wien zurück. Es folgte, auf Anraten seiner Eltern, eine Lehre als Dreher in der Metallwarenfabrik "Kron und Neutra", die er jedoch bald wieder abbrach. Ein klassischer Arbeiter war aus ihm nicht zu machen. Zu groß schien seine Sehnsucht nach der Ferne. Erneut trat er in das Zirkusleben ein, lernte Trapezkunststücke und Tierdressur und kam bis nach Afrika, Asien und Australien, wo er sich einem Großtierfänger anschloss. Es war ein unstetes Reiseleben, dessen genaue Stationen im Dunkeln bleiben. Vieles ist nicht mehr exakt eruierbar und wurde später in eigenen Erinnerungen phantasievoll angereichert.

Fest steht, dass er im April 1901 nach New York überfuhr und sich, fasziniert von der Technik der frühen Kinematografie, für die Filmbranche zu interessieren begann. Nach erneuten Europaaufenthalten und seiner Heirat mit der Schauspielerin Elisabeth Reimer kehrte er in die USA zurück. Lernbegierig und voll Begeisterung für die Kraft der amerikanischen Filmindustrie schrieb, drehte und inszenierte er bald selbst publikumswirksame Einakter: kurze Cowboy- und Tierfilme, rasante Abenteuerszenen und Verfolgungsjagden. Er arbeitete sich zum Spezialisten für derartige "Sensationsfilme" empor, legte sich eine Künstleridentität zu und nannte sich fortan Joseph Delmont. Es waren prägende amerikanische Jahre, in denen er über zweihundert Kurzfilme schuf.

Im Jahr 1910 übernahm Joseph Delmont für einige Monate die Direktion des gerade eröffneten Rotenturm-Kinos am Fleischmarkt.
© Anonymous - Unknown author, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Als anerkannter Filmpionier folgte er schließlich dem Ruf zurück in die Heimat. Im Jahr 1910 ließ er sich erneut in Wien nieder und versuchte sich einige Monate als Kinobesitzer. Er übernahm die Direktion des gerade eröffneten Rotenturm-Kinos am Fleischmarkt (später übrigens das Lieblingskino von Billy Wilder, der ein paar Häuser weiter wohnte). Daneben arbeitete er als Kameramann an dem ältesten, heute noch vollständig erhaltenen österreichischen Spielfilm "Der Müller und sein Kind" (1911) mit. Doch schon bald ging es nach Berlin, wo er endlich seine ersten eigenen Langfilme drehen wollte. Die boomende Filmindustrie der deutschen Hauptstadt war das Ambiente, in dem er seine Talente entfalten konnte.

Voll Tempo & Bewegung

Es folgte eine Phase der ungeheuren Produktivität. In den nächsten eineinhalb Jahrzehnten entstanden über sechzig Delmont-Filme, in denen er nicht selten mehrere Funktionen in Personalunion übernahm; oft war er Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler. Die meisten dieser Filme sind verschollen, aber zumindest drei davon, allesamt natürlich Stummfilme, kann man heute noch auf YouTube ansehen. Sie stammen aus dem Jahr 1913 und sind beispielhaft für Delmonts Schaffen in jener Zeit: "Auf einsamer Insel", "Der geheimnisvolle Klub" und "Das Recht aufs Dasein".

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Es sind Filme voll Tempo und Bewegung, mit interessanten, manchmal fast experimentellen Kameraeinstellungen, ausgestattet mit den technischen Ingredienzien der Moderne - Auto, Schiff und Eisenbahn spielen stets eine wichtige Rolle. Und mit einer Hauptfigur, dargestellt von Delmont selbst, die in teils wilden Verfolgungsjagden ihrem Schicksal zu entkommen versucht. Dies ging bisweilen an körperliche Grenzen, die Stunts waren oft extrem wagemutig.

Über eine Szene, in der Delmont einen Zug über sich hinweg fahren lassen musste, meinte er später: "Ich lag auf dem Bauche, der Luftzug versuchte mein Jackett hochzuwehen. Mit aller Kraft presste ich mich auf die Erde und rückte mich gegen die rechte Schiene, da links die Gasbehälter unter dem Eisenbahnwagen mir den Schädel zerschmettert hätten. Ich lag mit offenen Augen, sah auf die blanke Schiene neben mir und zählte die vorbeisausenden Räder."

Ähnlich wie Charlie Chaplin nahm Delmont in seinen Filmen Partei für die Außenseiter der Gesellschaft, für die Schwachen und Umhergetriebenen, von denen auch er einer war. Aber auch für die Mentalität des unerschrockenen "Do it yourself". In Delmont begegnen wir, so der Filmhistoriker Ronald Hinrichs, "dem Filmpionier aus Abenteuertum, dem Weltenbummler, einem ruppigen Macher und ehrgeizigen Praktiker".

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Dieser Wesenszug sollte auch sein literarisches Schaffen kennzeichnen. Denn Mitte der 1920er Jahre verließ Delmont das Filmgeschäft und widmete sich fortan seiner schriftstellerischen Leidenschaft. In den nächsten zehn Jahren entstanden, neben unzähligen Kurzgeschichten, insgesamt 18 (!) Bücher. Darunter zwei Science-Fiction-Romane ("Die Stadt unter dem Meere", "Der Ritt auf dem Funken"), Schilderungen der Großtierjagd ("Wilde Tiere im Film", "20 Jahre Großtier-Fang") sowie schließlich jene Erzählungen, in denen er sein eigenes Leben verarbeitete.

Brigittenauer Alltag

Dabei ist, wie Delmont-Biograf Gerhard Winkler kritisch anmerkt, nicht immer alles für bare Münze zu nehmen, doch geben uns die Schilderungen noch heute interessante Einblicke in das Wien von gestern. Insbesondere seine autobiographischen Bücher "Die Sieben Häuser" (1927) und "Krösus Vagabund" (1929) - Ersterer explizit "Wien, der Stadt meiner Kindheit" gewidmet - können durchaus als Wiener Heimatromane im besten Sinne bezeichnet werden.

Joseph Delmont (1873-1935), Künstlerkarte, um 1910.
© Sammlung Peter Payer

Wie bei Alfons Petzold wird darin das proletarische Leben in der Vorstadt zum Thema. Gekonnt skizziert Delmont den Alltag in der Brigittenau, die damals aufgrund ihrer hohen Zuwandererrate den Spottnamen "Affentürkei" trug und ein trostloses Image hatte, geprägt von engen Wohnverhältnissen und unzähligen Fabriksanlagen. So schrieb Delmont über die am Handelskai gelegene Dampf- und Walzmühle Vonwiller: "Einsam hob sich der gigantische Komplex vom Himmel ab, streckte den dreißig Meter hohen Schornstein, einem warnenden Riesenfinger gleich, in die Luft, gab Tag und Nacht durch schwarzgeballte, mächtige Rauchwolken, die zäh und dick hoch oben über die Donau von Ufer zu Ufer zogen, den Menschen kund, daß niemals die Räder still dort standen."

Auch viele andere Arbeitswelten werden beschrieben, wie der Holzhandel am Donaukanal, die Möbelfuhrwerker in der Klosterneuburger Straße, die Gemüsegärtnereien am Ende der Treustraße, das lärmende Sägewerk oder die riesige Gasfabrik. Dazwischen immer wieder, so Delmont, "häßliche, hohe, kahle Mietskasernen", wie jene, in der er selbst aufwuchs und wo Hunger und Krankheit und "Frau Sorge" zu Hause waren.

Das Verlassen dieser extremen Armutsverhältnisse ist wohl auch ein zentrales Antriebsmotiv für sein eigenes Leben, wie er einen Protagonisten bekennen ließ: "Prolet! Prolet! Mit einem glühenden Eisen hatte er sich dieses Wort in das Fleisch gebrannt, fast den linken Arm dabei eingebüßt. Zeitlebens wolle er daran erinnert sein, daß dieses gräßliche Wort ihm für alle Zeiten der Sonne Strahlen, Licht und Wärme geraubt."

Am Ende heimatlos

Die Romane wurden millionenfach verkauft und in 18 Sprachen übersetzt. So avancierte Delmont zu einem der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Von Kollegen wurde er als "der spannendste Erzähler der Jetztzeit" (Egon Erwin Kisch) bezeichnet, oder als ein "Gigant, ein zehnfacher Jules Verne" (Karin Michaelis). Sogar Vergleiche mit Dostojewski wurden gezogen, und die "Chicago Tribune" proklamierte: "Delmont is a man that has a right to write!"

Im Mai 1933, zu seinem 60. Geburtstag, fand in Berlin eine große Feier statt - ehe die große Politik auch ihn einholte. In Form der "Judenfrage": Sie wurde in einigen seiner Werke mit deutlich antisemitischen Anklängen diskutiert, in anderen aber durchaus mit Verständnis und Differenziertheit behandelt. Und spielte natürlich tief in seine Biografie hinein, was letztlich zu einer stark nationalistischen Haltung Delmonts führte.

Er, der sich als transkontinentaler Weltbürger verstand, musste nun, da die politische Luft immer dünner wurde, Zugehörigkeit bekennen. Zuerst zu Deutschland und dann - als seine Bücher verboten wurden und aus den Auslagen verschwanden - zu Österreich. Ein juristischer Versuch, seine Waldviertler Herkunft zu verifizieren, scheiterte. So fühlte er sich heimatlos, musste hilflos miterleben, wie seine Werke geächtet wurden und sein Ruhm verblasste.

Als er im Frühjahr 1935 in Bad Pistyan auf Kur ging, erlag er, erst 62 Jahre alt, einer Blinddarmentzündung. Seine Ruhestätte fand er am Wiener Zentralfriedhof, wo man sein Grab noch heute besuchen kann. Der zweite Erinnerungsort an ihn in dieser Stadt.

Peter Payer ist Historiker, Stadtforscher und Kurator im Technischen Museum Wien.