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Junger Stern, von Staub umkränzt

Von Christian Pinter

Reflexionen
So mag man sich die staubige Trümmerscheibe rund um Wega vorstellen.
© Grafik: NASA / JPL-Caltech

Die Wega, ein buchstäblicher "Star" des Sommerhimmels, schrieb bereits mehrmals Forschungsgeschichte.


In Sommernächten thront die helle Wega fast im Zenit. Gemeinsam mit mehreren schwächeren Lichtpunkten bildet sie das Sternbild Leier, das Saiteninstrument des legendären Sängers Orpheus. Der aus dem Arabischen abgeleitete Sternname Wega bedeutet so viel wie "herabfallender Adler". Auf alten Himmelsgloben wird die Leier daher mitunter von einem Raubvogel gehalten. Auf mutmaßliche Täter stürzt sich wiederum die Polizeisondereinheit WEGA. Ihr Name rekrutiert sich allerdings aus den Anfangsbuchstaben der Worte "Wiener", "Einsatz", "Gruppe" und "Alarmabteilung".

In der Antike steckte man Sterne in sechs Schubladen: die hellsten in die erste, die gerade noch erahnbaren in die sechste. Weil uns Helles ausgedehnter anmutet als Dunkles - Augen auf bei der Kleiderwahl! -, sind helle Sterne vermeintlich größer. Daher nannte man die Schubladen "Größenklassen".

1857 wurde das Ladenspiel durch eine logarithmische Funktion ersetzt. Das ermöglichte feinere Helligkeitsangaben sowie Erweiterungen nach oben und nach unten. Um die resultierende Skala zu verstehen, versetzt man sich in einen Pinguin: Je kälter, desto wohler fühlt er sich; Minusgrade liebt er ganz besonders.

Galileis Schnurversuch

So auch hier: Der volle Mond erreicht fast -13 mag, wobei "mag" als Kürzel für das lateinische magnitudo (Größe) steht. Der hellste Fixstern, der Sirius, hält bei -1,5 mag, der Polarstern bei +2,0 mag. Fern der Stadt macht das unbewaffnete Auge Sterne bis etwa +6 mag aus. Der Zwergplanet Pluto kommt auf knapp +14 mag und ist somit großen Amateurteleskopen vorbehalten.

Himmelsglobus des Johannes Praetorius (1566): Ein Raubvogel hält die Leier, an seinem Schnabel die Wega.
© Pinter

Was die Stimmgabel für Musiker, war Wega eine Zeit lang für Astronomen. Dank einer Helligkeit um 0,0 mag bot sie sich als Referenzstern an. Doch dann fielen Helligkeitsschwankungen im Prozentbereich auf. Die "Stimmgabel" verstimmte sich immer wieder selbst. Schon der neugierige Galilei versuchte, Wegas scheinbaren Durchmesser zu bestimmen. Er ließ sie hinter einer Schnur verschwinden. Der Stern erschien ihm mindestens 24-mal weniger ausgedehnt als vom damals besten Beobachter angegeben. Der Schnurversuch zeugte von Galileis Bestreben, möglichst alles in Zahlen zu gießen. Für korrekte Messungen taugte er nicht.

Diese gelangen erst mit Interferometern: In Australien stellten Astronomen 1963 zwei mächtige Teleskopspiegel auf Eisenbahnschienen und rückten diese 23 Meter auseinander. Dann überlagerten sie das Licht, das die beiden Instrumente von der Wega einfingen. So fand man einen Sterndurchmesser von 0,0037 Bogensekunden. Das ist weniger als ein Tausendstel von Galileis Maximalwert. Unter einem derart winzigen Winkel erschiene Wienern eine Erbse in Venedig!

1783 nahm der englische Naturphilosoph John Michell an, alle Sterne strahlten in Wahrheit gleich viel Licht ins All. Er verglich die scheinbare Helligkeit der Sonne am Taghimmel mit jener der nächtlichen Wega. Als "Brücke" diente ihm das vom Planeten Saturn reflektierte Sonnenlicht. Um den enormen Helligkeitsunterschied zwischen Sonne und Wega zu erklären, rückte er den Leierstern in die 460.000-fache Sonnendistanz: rund sieben Lichtjahre. 50 Jahre später ritterten drei Astronomen darum, die erste verlässliche, weil geometrisch bestimmte Sterndistanz zu messen.

Thomas Henderson wählte Alpha Centauri, Friedrich Wilhelm Bessel den Stern 61 Cygni im Sternbild Schwan und Friedrich Georg Wilhelm Struve die Wega. Struve publizierte sein Wega-Ergebnis 1837, misstraute ihm aber selbst. Bessel erwischte mit 61 Cygni einen näheren und damit günstigeren Stern. Er besaß das bessere Teleskop und mehr Vertrauen in sein Resultat: Seit 1838 gilt daher 61 Cygni - und nicht die Wega - als erster Stern mit sicher bestimmter Distanz.

Tatsächlich steht die Wega in fast exakt 25 Lichtjahren Abstand. Wir erblicken sie jetzt so, wie sie im Sommer 1997 aussah: Damals fiel die britische Kolonie Hongkong an China zurück, und der Tod von Prinzessin Diana sorgte für Bestürzung.

Größenvergleich zwischen unserer kugelrunden Sonne und der schnell rotierenden Wega.
© Grafik: Pinter

In der Nacht vom 16. zum 17. Juli 1850 wurde die Wega zum ersten jemals abgelichteten Fixstern. William Bond und John Adams mussten am Harvard College Observatory in Cambridge, Massachusetts, noch 100 Sekunden lang für ihre Daguerreotypie belichten. Dann entwickelte man empfindlichere Verfahren. Anders als das Auge addiert die Fotografie die Lichteindrücke während der Belichtungszeit - so, als füllten Regentropfen ein Trinkglas. Die beschichteten Glasplatten hielten schließlich ganze Scharen schwacher Sterne fest, jeweils mit exakter Position und Helligkeit. Die Auswertung erforderte billige Rechnerinnen: Das brachte erstmals Frauen in großer Zahl an die astronomischen Institute, vor allem an das erwähnte Harvard-Observatorium.

Das Prisma spaltet weißes Licht in ein Regenbogenband auf. Wie man seit 1860 weiß, sind die Linien in diesen Spektren für chemische Elemente ähnlich typisch wie Fingerabdrücke für Menschen. Sie verraten die Chemie der Sternatmosphären. Angelo Secchi zeichnete bis 1877 ganze 4.000 Sternspektren - mit dem Auge am prismenbestückten Teleskop der Vatikansternwarte.

In der A-Klasse

Vor 150 Jahren, am 8. August 1872, fotografierte Henry Draper dann erstmals ein Fixsternspektrum: Wieder gelang die Premiere an der hellen Wega. Das fotografische Verfahren bannte schließlich unzählige Sternspektren mit jeweils hunderten Linien auf Glasplatten. Astronominnen wie Williamina Fleming, Antonia Maury und Annie Jump Cannon leisteten am Harvard College Pionierarbeit. 1912 wurde dort die moderne Spektralklassensequenz (O-B-A-F-G-K-M) fixiert. Die hitzigsten Sterne zählen zur O-, die kühlsten zur M-Klasse. Unsere Sonne ist ein G-Stern. Wega repräsentiert die A-Klasse.

Ab 1868 fiel auf: Bei manchen Sternen sind sämtliche Spektrallinien ein klein wenig deplatziert. Der britische Physiker William Huggins führte das korrekt auf den vom Salzburger Christian Doppler 1842 vorgestellten "Doppler-Effekt" zurück, mit dem man nun endlich auch Sterngeschwindigkeiten messen konnte: Wegas Linien sind etwas gegen Blau verrückt, weil sie mit 50.000 km/h auf uns zu eilt.

Der 1873 in Frankfurt geborene Karl Schwarzschild versuchte, die Sternfarben in Zahlen zu gießen. Er zog die im Roten gemessene Sternhelligkeit von der im Blauen ab. Ergebnis war ein Farbindex mit Plus- und Minuswerten. Als Nullpunkt galt die Wega. Unser Auge nimmt in ihrem weißen Licht hingegen einen Hauch von Farbe wahr. Manche sehen ein "kaltes" Weiß, andere ein Stahlblau. Um zarte Pastelltöne besser zu erkennen, visiert man helle Sterne am besten mit einem vorsätzlich unscharf gestellten Fernglas an.

Neben der Wega hält dieses Foto auch bis zu eine Million mal lichtschwächere Sternchen fest.
© Pinter

Wegas zarter Farbstich stammt von der enormen Oberflächentemperatur von 9.300 Grad C (Sonne: 5.500 Grad C). Bei derart heißen Sternen liegt das Intensitätsmaximum der ausgesandten Strahlung im Ultravioletten. Ursache für Wegas Hitze ist letztlich die im Vergleich zur Sonne gut doppelt so große Masse. Die drückt stärker auf das Sternzentrum, forciert die Energieproduktion. Wega strahlt fünfzigmal mehr Licht ins All als unsere Sonne, verzehrt sich aber auch zehnmal rascher. Obwohl sie erst seit einer halben Jahrmilliarde leuchtet, steht auch sie schon in der Mitte ihres Lebens.

Am Mt. Wilson in Kalifornien bilden sechs Teleskope in bis zu 330 m gegenseitigem Abstand das mächtige Interferometer CHARA. Damit ließe sich, sehr salopp gesagt, ein Astronaut selbst in mehrfacher Monddistanz noch "in Helm und Schuhe" auflösen. 2005 zeigte CHARA Erstaunliches: Wega ist bei Leibe nicht kugelrund, sondern zu einem Ellipsoid verformt - wirbelt sie doch 49-mal schneller um ihre Achse als unsere Sonne. In nur 12,4 Stunden geht es einmal rundherum; nur ein wenig schneller und der Stern flöge auseinander.

Von Pol zu Pol besitzt Wega den 2,3-fachen Sonnendurchmesser, am Äquator den 2,8-fachen. Die am Äquator nach außen getriebenen Sternschichten fühlen weniger Schwerkraft. Deshalb ist die Wega dort gut 2.000 Grad C kühler und weniger gleißend als an ihren Polen. Wir schauen auf Wegas Südpol: Aus unserer Perspektive liegen Helligkeit, Temperatur und Durchmesser über dem Wega-Durchschnitt.

1973 vermeldeten David Morrison und Ted Simon einen kleinen, aber erkennbaren Infrarot-Überschuss in Wegas Licht. Das Weltraumteleskop IRAS machte 1983 sogar einen überraschend deutlichen "Infrarotexzess" aus. Offenbar ist dieser Stern von einer weit ins All hinausgreifenden Scheibe aus winzigen Staubpartikeln umkränzt. Vom Sternenlicht erwärmt, glimmen diese im Infrarot.

Eine Rolle in "Contact"

Damals kannte man nur die Planeten unserer eigenen Sonne. Daher wurde der Fund zur Sensation, bewies er doch die Existenz fester Materie im Orbit um andere Sterne. Wohl deshalb spielt Wega eine prominente Rolle im 1985 verfassten Roman "Contact" des US-Astronomen Carl Sagan. Im gleichnamigen Kinofilm spielte dann Jodie Foster die Hauptrolle. Später fielen Infrarotexzesse auch bei weiteren Sternen auf: Man nannte sie die "Wegaartigen".

Vor 4,56 Milliarden Jahren umgab ein Gebilde aus Gas und Staub auch unsere Sonne. Aus dieser protoplanetaren Scheibe formten sich Kleinplaneten und Planeten wie unsere Erde. Nach wenigen Millionen Jahren wurde der verbliebene Staub von der Sonne verblasen. Doch die gegenseitigen Kollisionen der bereits entstandenen Körper "verstaubten" das Sonnensystem neuerlich, diesmal mit einer sogenannten "Trümmerscheibe".

Für eine protoplanetare Scheibe ist selbst die Wega schon zu alt, nicht jedoch für eine Trümmerscheibe. Mittlerweile entdeckten Astronomen bei ihr noch einen zweiten, innen liegenden Staubgürtel. Eine breite Lücke trennt die beiden Staubgebilde. Vielleicht wird sie von Planeten leergefegt, die der Entdeckung harren.

2021 fand man Indizien für einen anderen, riesigen Planeten ganz nah am Stern. Seiner engen Bahn wegen würde ein Jahr bloß zweieinhalb Tage dauern. Falls diese fliegende Gluthölle tatsächlich existiert, hätten Weganer dort keine Überlebenschance.

Christian Pinter, geboren 1959 in Wien, schreibt seit 1991 über Astronomie im "extra". www.himmelszelt.at