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Rasender Stillstand

Von Adrian Lobe

Reflexionen

Die Welt dreht sich immer schneller, doch kaum etwas geht voran. Über ein paradoxes (post-)modernes Zeitgefühl.


Im März 2021 lief im Suezkanal ein riesiger Frachter auf Grund und stellte sich in einer so ungünstigen Position quer, dass kein anderes Schiff mehr passieren konnte. Die Folge: ein Stau auf der größten Wasserstraße der Welt.

Autobauer warteten auf Chips, Händler auf Ersatzteile. Da steckte also ein Containerschiff von der Höhe eines Riesenrads sechs Tage im Schlamm, mit tonnenweiser Ladung von Ikea-Möbeln. Es brauchte mehrere Bagger und Schlepper, um den Schlamm wegzuschaufeln und die Blockade zu lösen. Die Bilder der "Ever Given" gingen um die Welt - und wurden zum Symbol für den globalen Stillstand.

Normalerweise ist man es, zumindest als privilegierter Bewohner des "globalen Nordens", gewohnt, dass Waren jederzeit verfügbar sind. Die datengetriebene On-demand-Wirtschaft hat durch die Klickhaftigkeit ihrer Dienste dieses Gefühl der ständigen Verfügbarkeit verstärkt. Man muss nur auf den Bestellknopf drücken, schon steht der Bote vor der Tür. Doch seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie stottert der Wirtschaftsmotor: Lieferketten sind gerissen, Container stauen sich, Fabriken stehen still. Und dann ist da noch dieser verbrecherische Angriffskrieg Putins auf die Ukraine, der aus einer Kornkammer ein Schlachtfeld gemacht hat. Aus einer Überfluss- ist eine Mangelwirtschaft geworden. Es mangelt an allem: Chips, Gas, Glas, Kabelbäumen, Papier, Sägespänen, Sand, Weizen.

Soziale Beschleunigung

Dass man im Kapitalismus vor leeren Regalen steht und monatelang auf ein neues Auto warten muss, hätten sich wohl selbst seine erbittertsten Gegner nicht erträumt. Marxens Lachen wäre schallend. Doch es geht hier nicht nur um die ideologische Frage, ob das liberale Zeitalter der Globalisierung seinem Ende entgegensieht, sondern auch um die zeitliche Dimension einer Gegenwart, die wir in der Bilderflut von TikTok, Instagram und Co. kaum einordnen können.

Das Zeitalter der Moderne lässt sich als eine Geschichte der Beschleunigung erzählen. Durch den technologischen Fortschritt hat sich nicht nur das Produktionstempo erhöht, sondern auch die Geschwindigkeit, mit der Waren und Personen von A nach B befördert werden. In der ersten industriellen Revolution durch die Dampflok, später kamen Automobile, Luftschiffe und sogar Hyperschallflugzeuge hinzu. Diese Beschleunigung lässt sich herunterbrechen bis auf die Ebene von Atomen, Photonen, Viren und Bakterien. Die Pest, die im Mittelalter noch zu Fuß oder per Kutsche reiste, verbreitete sich mit einer Geschwindigkeit von zwei bis fünf Kilometern am Tag. Bis der Erreger im 14. Jahrhundert von Neapel nach Tromsö gelangte, dauerte es drei Jahre. Covid-19 verbreitete sich mithilfe des globalen Flugnetzes binnen Wochen um den Globus.

Zu diesen Teilchen, die durch den technischen Fortschritt immer weiter beschleunigt werden, gehören auch Informationen. Die Nachricht von der Ermordung Abraham Lincolns 1865 brauchte zwölf Tage, bis sie in London ankam. Nachdem 1896 das erste funktionsfähige Atlantikkabel gelegt worden war, dauerte es gerade einmal zwei Minuten, bis ein Telegramm des Washingtoner Korrespondenten in der Redaktion der Londoner "Times" eintraf. Heute braucht es nur den Bruchteil einer Sekunde, um ein Satellitensignal oder eine E-Mail über den Großen Teich zu schicken.

"Die Zeitknappheit der Moderne entsteht nicht weil, sondern obwohl (...) enorme Zeitgewinne durch Beschleunigung verzeichnet werden", so der deutsche Soziologe Hartmut Rosa.
© Stifterverband, CC BY 3.0 via Wikimedia Commons

Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt in seinem Werk "Beschleunigung" (2005), wie sich mit der technischen Beschleunigung auch eine soziale Beschleunigung vollzieht. Rosa subsumiert darunter "gesteigerte soziale Veränderungsraten" wie etwa die Beschleunigung von Parteienpräferenzen, Berufswechseln, Familienstrukturen, religiösen Bindungen etc. Der Bruch zwischen der klassischen Moderne und Spätmoderne lässt sich für den Soziologen "temporalstrukturell" begründen: Die Stechuhren und Werkssirenen, die in den Fabriken den Takt angaben, diktierten bald auch in Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen den Alltag - und entwickelten dort eine eigene "Zeitdisziplin". Auch heute fühlen sich Menschen zwischen Homeoffice, Kinderbetreuung und Sportverein "eng getaktet", als würden sie einem tayloristischen Zeitdiktat folgen. Warum nur?

Eigentlich müsste man ja annehmen, dass durch die Maschinisierung unseres Alltags Zeitressourcen frei würden. Während die Waschmaschine läuft, kann man sich anderen Aktivitäten widmen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Effizienzgewinne werden durch entsprechende Mengensteigerungen (an Arbeit) aufgewogen. Es gibt dafür empirische Evidenz: So zeigen Studien aus den 1960er und 70er Jahren, dass die Zeitgewinne durch Waschmaschinen oder Staubsauger marginal sind.

Das Interessante ist nun, dass Individuen auf diese Beschleunigung mit einer Verdichtung von "Handlungsepisoden" reagieren, was die Dynamisierung der Gesellschaft beschleunigt. Speed Dating, Power Nap und Multitasking sind Ausprägungen dieses Phänomens. "Die Erhöhung des ‚Tempos des Lebens‘, die Zeitknappheit der Moderne, entsteht nicht weil, sondern obwohl auf nahezu allen Gebieten des sozialen Lebens enorme Zeitgewinne durch Beschleunigung verzeichnet werden", so Rosa.

Diktat des Sofortismus

Doch schon der Soziologe Georg Simmel diagnostizierte 1903 in seinem Aufsatz "Die Großstädte und das Geistesleben" eine "Steigerung des Nervenlebens", die auf die Reizüberflutung des urbanen Lebens zurückzuführen sei. Neurasthenie war eine der häufigsten Diagnosen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, quasi das Burnout von damals. "Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie", so der Volksmund. Robert Musil, dem die Krankheit von einem Nervenarzt 1913 bescheinigt wurde, klagte über Herzrasen und Depressionen.

Akzeleration jetzt: Ständig bimmelt es, sitzt einem die Deadline im Nacken, harren ungelesene Mails und WhatsApp-Nachrichten der Antwort . . .
© Helar Lukats, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Die "Akzelerationskräfte", die heute am Individuum zerren, haben eine andere Qualität: Ständig bimmelt es, sitzt einem die Deadline im Nacken, harren ungelesene Mails und WhatsApp-Nachrichten der Antwort. Die gestiegene Ereignis- und Kommunikationsdichte kontrastiert mit der tendenziellen Langsamkeit und Trägheit politischer Institutionen, die nur alle paar Jahre gewählt werden, deren Repräsentanten aber wie in einer Druckkammer agieren und unter dem Diktat des Sofortismus sich rhetorisch dem Online-Handel annähern: Wir liefern! Doch die Retouren der Bürger, die über Dienste wie Twitter oder Facebook an das politische System zurückgeschickt werden, stapeln sich immer höher.

Das Gefühl, immer mehr Aufgaben in immer weniger Zeit erledigen zu müssen, teilt der Abgeordnete mit dem Fabrikarbeiter, der alleinerziehenden Mutter und dem Top-Anwalt. Daher sehnen sich auch immer mehr Menschen nach Entschleunigung. Slow Food,Slow Travel, Slow Work - es gibt viele Bewegungen, die versuchen, dem zeitraubenden Turbokapitalismus Zeitbudgets abzuringen.

Der erste Lockdown der Corona-Pandemie war so ein temporaler Bruch. Von einem auf den anderen Tag waren Schulen, Restaurants und Kinos geschlossen. Ruhe kehrte ein. Plötzlich klarte das Wasser in den Lagunen von Venedig auf, streiften Wildtiere durch Paris, zwitscherten die Vögel in Manhattan. Doch die - rückblickend naive - Hoffnung, dass durch die "Vollbremsung" des öffentlichen Lebens der überhitzte Wirtschaftsmotor abkühlt, wurde enttäuscht. Der Alltag holte einen schnell ein: eine Videokonferenz jagte die nächste, die Zahl der E-Mails explodierte.

Die Corona-Pandemie, und darin besteht ihre Paradoxie, ist eine Naturkatastrophe in Zeitlupe, deren Ende noch gar nicht absehbar ist, die aber soziale Prozesse beschleunigt: Fachkräftemangel, Digitalisierung, Vereinsamung. Kurz: den sozialen Wandel. Man könnte also argumentieren, dass das Virus (Bruno Latour würde mehr von einem Aktanten als einem Akteur sprechen) mit seiner rasanten Verbreitungsgeschwindigkeit das Lebenstempo der Gesellschaft erhöht hat. Einerseits. Andererseits hat die Pandemie die Produktionsabläufe massiv verlangsamt. Wartezeiten von mehreren Monaten für Küchengeräte und Fahrräder sind keine Seltenheit mehr; manche Produkte sind schlicht nicht lieferbar. Soziologe Rosa spricht von "unbeabsichtigten Nebenfolgen von Beschleunigungsprozessen", die zu dysfunktionalen oder pathologischen Folgen führen könnten.

Das klassische Beispiel dafür ist der Stau. Laut einer Analyse des Verkehrsdatenspezialisten "Inrix" verloren Fahrer in Chicago im vergangenen Jahr im Durchschnitt 104 Stunden durch Verkehrsstörungen. In Istanbul sollen es laut einem Bericht der Zeitung "Hürriyet" sogar sechs Tage im Monat sein. Und in Großbritannien, so rechnete eine Studie der Mobilitätsapp "Free Now" vor, verbringen Bürger durchschnittlich ein ganzes Jahr ihres Lebens im Stau.

Zurück ins Mittelalter

Wenn sich der Verkehr nur im Schneckentempo voranbewegt, bringt es auch nichts, wenn man einen Rennboliden mit 500 PS hat. Die Durchschnittsgeschwindigkeit in der indonesischen Hauptstadt Jakarta beträgt an Werktagen fünf Stundenkilometer. Eine Postkutsche ist da schneller. Mobilitätstechnisch bewegen wir uns also eher zurück in das Mittelalter.

Unseren täglichen Stau gib uns heute: ein ganz normaler Tag auf den Straßen der indonesischen Stadt Bandung.
© ErwinFCG, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Nun könnte man diese erzwungene Entschleunigung mit Langmut ertragen, doch Staus bedeuten Stress, weil sie Desynchronisationsprobleme erzeugen: Während sich die Welt um uns herum immer schneller dreht, bleibt man auf der Strecke. Daher reagieren wir auch so gereizt, wenn der Zug 20 Minuten Verspätung hat und man den Anschluss verpasst. Unser akzelerationistisch hochgetuntes und neurotisches Wesen ist auf Schnelligkeit programmiert.

Der französische Soziologe Paul Virilio hat dieses (post-)moderne Zeitgefühl mit der Denkfigur des "rasenden Stillstands" beschrieben. Im Zeitalter elektronischer Medien werde das automobile Vehikel durch das audiovisuelle Vehikel abgelöst, das einen "Ersatz für unsere physischen Fortbewegungen und Verlängerungen der häuslichen Bewegungslosigkeit" schaffe, die letztlich im "Triumph der Sesshaftigkeit" kulminiert. Statt mit dem Rennwagen über die Autobahn zu brettern, sitzt man zu Hause vor einem digitalen Endgerät und rast über Datenautobahnen an simulative Orte.

Mit Virilio muss man Mobilität neu denken. Man braucht heute nicht mehr in die Berge zu fahren, um einen Werbespot in alpiner Kulisse zu drehen, weil man die Szenerie am Computer konstruieren kann. Flüge lassen sich in Flugsimulatoren imitieren, Sportwägen im Metaverse Probe fahren. Diese virtuellen Welten funktionieren aber nur, wenn die Datenautobahnen frei sind. Und dazu braucht es auch physische Komponenten. Wenn Computerchips in Frachtcontainern blockiert sind, rast der Stillstand nur weiter.

Adrian Lobe, geboren 1988, schreibt als freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum.