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Der Philosoph der Sinnlichkeit

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen
Radikaler Kritiker, vor allem des Christentums: Ludwig Feuerbach (1804–1872), hier auf einem Holzstich von August Weger.
© getty images / ZU_09

Im Zentrum seines Denkens stand der konkrete Mensch, dogmatische Ideologien lehnte er ab: Vor 150 Jahren starb der deutsche Religionskritiker.


"Ich bin himmelweit unterschieden von den Philosophen, welche sich die Augen aus dem Kopfe reißen, um desto besser denken zu können; ich brauche zum Denken die Sinne, vor allem die Augen, gründe meine Gedanken auf Materialien, die wir uns stets vermittelst der Sinnlichkeit aneignen" - so lautete das Credo des Philosophen Ludwig Feuerbach.

Im Zentrum seines Denkens stand der konkrete Mensch, der die Sinnlichkeit und Leiblichkeit als zentrale Voraussetzungen für ein erfülltes, glückliches Leben ansieht. Der Philosoph lehnte alle dogmatischen Ideologien und Religionen ab, die den Menschen vorschreiben wollen, wie zu leben sei. Feuerbach erwies sich als radikaler Kritiker vor allem des Christentums, das er als halluzinogenes Produkt menschlicher Vorstellungen entlarvte.

Damit trug er entscheidend zu einer selbstbewussten Philosophie des Humanismus bei. Mit seiner Philosophie wolle er, so schrieb Feuerbach, "aus Gottesfreunden Menschenfreunde und aus Kandidaten des Jenseits Studenten des Diesseits machen".

Der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller, der persönlich mit Feuerbach bekannt war und gerne ein Glas Wein mit ihm trank, bezeichnete ihn als einen "bestrickenden Vogel, der auf einem grünen Ast in der Wildnis sitzt und mit seinem monotonen, tiefen und klassischen Gesang den Gott aus der Menschenbrust weg singt".

Provokation und Verbot

Seinen intellektuellen Werdegang beschrieb Feuerbach folgendermaßen: "Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke." In dem Zitat spielte er darauf an, dass er in seinem Denkweg eine weite Strecke zurückgelegt hatte: vom Gymnasiasten, den die Theologie faszinierte, über den hegelianischen Adepten, der als oberstes Prinzip das Reich der Vernunft verehrte, bis zum radikalen Religionskritiker, der eine "neue Philosophie" des Leibes und der Sinnlichkeit entwarf.

Geboren wurde Ludwig Feuerbach am 28. Juli 1804 in Landshut als Sohn des angesehenen Rechtsgelehrten Anselm Ritter von Feuerbach. Er besuchte das Gymnasium in Ansbach und begann 1823 ein Theologiestudium in Heidelberg, dem er wenig abgewinnen konnte. Gegen den Willen des Vaters wechselte Feuerbach zur Philosophie und ging nach Berlin, wo er mit großer Begeisterung Vorlesungen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel hörte.

1826 kehrte Feuerbach nach Bayern zurück und verfasste seine Dissertation über "Die Unendlichkeit, Einheit und Allgemeinheit der Vernunft". Zwei Jahre später promovierte er im Fach Philosophie, am Ende desselben Jahres folgte die Habilitation. Bald darauf hielt er als Privatdozent Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Logik und Metaphysik. Feuerbachs akademische Karriere wurde durch eine Provokation jäh abgebrochen. Er hatte 1830 anonym ein Buch mit dem Titel "Gedanken über Tod und Unsterblichkeit" veröffentlicht, in dem er den christlichen Glauben an die Unsterblichkeit angriff.

© Reclam

Ein solcher Glaube sei "eine grenzenlose Verirrung", schrieb Feuerbach und empfahl, "den Tod als vollständige Auflösung der menschlichen Existenz zu akzeptieren". In dieser Schrift formulierte der Philosoph einen ersten Generalangriff gegen den personalen Gott der christlichen Religion, den er als Schutzpatron, "als Hauspapa, Wachmeister und Nachtwächter" titulierte, der dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit nachkomme. Sofort nach Erscheinen wurde das Buch verboten. Durch eine Indiskretion wurde seine Autorschaft bekannt.

Im Frühjahr 1832 beendete Feuerbach seine Lehrtätigkeit; ein Grund dafür war die feindselige Haltung, die ihm vom konservativen universitären Establishment entgegengebracht wurde. Dazu kam seine finanzielle Misere. Die Dozentur in Erlangen war mit keiner entsprechenden Entlohnung verbunden. Die Einkünfte beschränkten sich auf das Vorlesungsgeld der wenigen Studenten, die seine Vorlesungen hörten. Das führte zu einer prekären existenziellen Situation.

Feuerbach musste in einem Gartenhaus wohnen, in dem er sich dürftig ernährte, wie er seiner Schwester Helene berichtete: "Vormittags ein Glas Wasser, mittags ein mäßiges Essen, abends ein Krug Bier nebst Brot." Im Wintersemester 1835/36 hielt Feuerbach noch einmal Vorlesungen in Erlangen, dann nahm er endgültig Abschied vom universitären Lehrbetrieb und führte eine Existenz als Privatgelehrter. Dies wurde ihm durch die Heirat mit Bertha Löw, der Mitbesitzerin einer Porzellanfabrik, ermöglicht.

Nunmehr lebte Feuerbach zurückgezogen in dem ehemaligen Jagdschloss Bruckberg bei Ansbach - fern der Repressionen des universitären Betriebs. "Logik lernte ich auf einer deutschen Universität, aber Optik, die Kunst des Sehens lernte ich erst auf einem deutschen Dorf", bekannte der Philosoph.

Gastrosophie

Ludwig Feuerbach um 1866.
© Public domain / via Wikimedia Commons

1841 erschien Feuerbachs Hauptwerk, "Das Wesen des Christentums", in dem er die Kritik an der Religion verstärkte. Es ist dies ein Schlüsseltext der Religionskritik im 19. Jahrhundert, vergleichbar mit Friedrich Nietzsches Schrift "Der Antichrist - Fluch auf das Christentum", von der eine starke Wirkung ausging. Trotz seiner polemischen Grundintention bemühte sich Feuerbach im ersten Teil der Studie um eine phänomenologische Darstellung der Religion. Im Vorwort zur zweiten Auflage schrieb er: "Ich aber lasse die Religion sich selbst aussprechen; ich mache nur ihren Zuhörer und Dolmetscher, nicht ihren Souffleur. Nicht zu erfinden - zu entdecken, ‚Dasein zu enthüllen‘ war mein einziger Zweck."

Für ihn ist die Religion ein Traum des menschlichen Geistes, der nicht im Himmel, sondern auf der Erde stattfindet. Religiös zu sein, an Gott zu glauben, ist ein durchaus nachvollziehbarer menschlicher Gedanke, ein anthropologisches Faktum, aber nicht mehr. "Gott ist der Spiegel des Menschen", postulierte Feuerbach. Im zweiten, kürzeren Teil der Studie akzentuierte er "die Religion in ihrem Widerspruch mit dem Wesen des Menschen" und attackierte "das böse Wesen der Religionen - die unheilschwangere Quelle des religiösen Fanatismus". Es besteht darin, dass im Namen der Religionen blutige Kriege geführt werden, die zahlreiche Opfer fordern und "die prima materia aller Gräuel, aller Schauder erregenden Szenen in dem Trauerspiel der Religionsgeschichte" darstellen.

In der 1843 publizierten Schrift "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" entwarf Feuerbach eine Philosophie der Sinnlichkeit, die Emotionen, Leidenschaften, Wünsche, Triebe und körperliche Bedürfnisse des Menschen umfasste. In Feuerbachs "Philosophie der Zukunft" spielte der menschliche Leib eine zentrale Rolle; er ist die Basis der menschlichen Existenz; das Ich, das Über-Ich oder das gesellschaftlich-soziale Wesen fungieren gleichsam als Überbau - als "ein hohles, wesenloses abstractum". Ohne Leib ist das Individuum nichts. "Der Leib ist das Subjekt der Persönlichkeit", schrieb Feuerbach, "nur durch den Leib unterscheidet sich die reale Persönlichkeit von der eingebildeten eines Gespenstes". Für ihn war der Leib "das oberste principium metaphysicum, der Grund der Welt".

Auch der Ernährung wies Feuerbach einen wesentlichen Stellenwert zu. Sein Leitspruch lautete: "Essen und Trinken hält Ich und Du zusammen." Er schwärmte "für den berauschenden Wein", aber auch für das "ernüchternde Wasser", und schrieb: "Sinnlich ist die Gänseleberpastete (...), aber sinnlich sind auch die Gerstenklöße und die schwarze Suppe spartanischer Enthaltsamkeit." In seiner Gastrosophie nahm Feuerbach eine Umwertung philosophischer Werte vor: "Der Anfang der Existenz ist aber die Ernährung; die Nahrung also der Anfang der Weisheit. Die erste Bedingung, dass du etwas in dein Herz und deinen Kopf bringst, ist: dass du etwas in deinen Magen bringst. Man ist, was man isst."

Feuerbach entwarf auch eine Philosophie der Liebe; in der sinnlichen Liebe sah er das Grundmodell menschlicher Beziehungen, das den Glückseligkeitstrieb des Menschen befriedigt. "Die Liebe des Anderen sagt Dir, wer Du bist", notierte Feuerbach. Seine "Philosophie der Liebe" stützt sich auf die Ich-Du-Beziehung, die für jedes Individuum von existenzieller Bedeutung ist. "Ohne den anderen wäre die Welt für mich nicht nur tot und leer, sondern auch sinnlos", schrieb Feuerbach, "wo kein Du, ist kein Ich."

Leitfigur des Vormärz

Für Karl Marx waren die Arbeiten Feuerbachs wichtige Quellen seiner eigenen Philosophie.
© John Jabez Edwin Mayal / Public domain / via Wikimedia Commons

Durch seine umfassende Religions- und Idealismuskritik, die Feuerbach durch eine materialistische Anthropologie ersetzte, avancierte der Philosoph zur intellektuellen Leitfigur der revolutionären Vormärzbewegung. Er sympathisierte mit Vertretern des Frühsozialismus und des Kommunismus wie dem Schriftsteller Georg Herwegh. Karl Marx wollte Feuerbach für ein deutsch-französisches Zeitungsprojekt gewinnen, an dem unter anderem der französische Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon mitarbeiten sollte, der das Schlagwort "Eigentum ist Diebstahl" prägte.

Trotz seiner Sympathien für revolutionäre Bewegungen weigerte sich der Philosoph aber, aktiv an politischen Aktionen teilzunehmen. Er beschränkte sich auf die Ausarbeitung von Schriften und hielt Vorträge in Heidelberg, die von Studenten ebenso besucht wurden wie von Handwerkern.

Feuerbach bezahlte für sein radikales Philosophieren einen hohen Preis: Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten musste die Porzellanfabrik seiner Frau verkauft, das Schloss geräumt werden. Die beiden zogen in einen Vorort von Nürnberg, wo er zunehmend verarmte und auf die finanzielle Unterstützung von Freunden angewiesen war. Am 13. September 1872 starb Feuerbach nach einem Schlaganfall; sein Begräbnis fand unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt.

Als Vermächtnis hinterließ er seine Apologie der Sinnlichkeit: "Wollt ihr die Menschen bessern, so macht sie glücklich; wollt ihr sie aber glücklich machen, so geht an die Quellen des Glücks - an die Sinne. Die Verneinung der Sinne ist die Quelle aller Verrücktheit und Bosheit und Krankheit im Menschenleben, die Bejahung der Sinne die Quelle der physischen, moralischen und theoretischen Gesundheit."

Literaturhinweis:

Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Reclam, 536 Seiten, kartoniert, 13,20 Euro.

Nikolaus Halmer, geb 1958, Studium der Philosophie, Romanistik, Theaterwissenschaft, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.