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Der Wendehals

Von Bruno Jaschke

Reflexionen
Geht es für J.D. Vance politisch aufwärts? Bei dem Midterm Elections kandidiert der Buchautor und ehemalige Finanzinvestor für einen Sitz im US-Senat.
© getty images / Drew Angerer

J.D. Vance hat sich von einem Chronisten der amerikanischen Arbeiterkultur in einen ultrarechten Hardliner verwandelt.


Ohio ist ein Staat im Mittleren Westen der USA, der dem sogenannten Rust Belt angehört: Einer riesigen, einst prosperierenden Industrieregion, die sich über den Nordosten der USA bis in die Metropolregionen Boston, Washington, D.C. und New York City erstreckt. Früher war sie als Manufacturing Belt bekannt und hat bis in die 1960er Jahre Legionen von Arbeitern aus den wirtschaftsschwachen Appalachen eine bessere Zukunft geboten.

In den 1970er Jahren begann aber der Niedergang der Stahlindustrie infolge von Produktionsverlagerungen in billiger produzierende Länder, und der Manufactoring Belt bekam, sinnfällig für den Rost, den die verwaisten Fabriken ansetzten, den bitteren Namen Rust Belt. Einige Städte wie Cincinnati oder Pittsburgh konnten mit der Umstellung auf Technologie und den Dienstleistungssektor neuen Wohlstand generieren; viele andere sind auf der Strecke geblieben.

Middletown, eine Kleinstadt im Südwesten von Ohio, ist eine von ihnen: Früher hat hier der Stahlriese Armco den Menschen nicht nur Arbeit und gute Einkommen verschafft, sondern auch in die Infrastruktur der Stadt investiert, Parks geschaffen und sich an der Finanzierung von Schulen beteiligt.

Die Krise der Stahlindustrie zwang Armco zur Schrumpfung und 1989 zur Fusion mit dem japanischen Konzern Kawasaki; von seinem gesellschaftlichen Mandat hat sich das Unternehmen, das mittlerweile unter dem Namen AK Steel firmiert, verabschiedet. Die Innenstadt Middletowns ist verödet, Geschäfte sind verwaist, die Infrastruktur kränkelt an allen Ecken und Enden, der Zustand der Schulen ist miserabel; statt der Wirtschaft florieren Arbeitslosigkeit, Drogensucht und Armut.

Vom sozialen Rand

James David "J.D." Vance, der am 8. November bei den Midterm Elections zum US-Kongress als republikanischer Kandidat ins Rennen um einen Senatssitz in Ohio geht, ist 1984 in Middletown geboren. Vance entstammt einer Arbeiterfamilie mit einer drogensüchtigen Mutter und ständig wechselnden Ersatzvätern, nachdem sein leiblicher Vater ihn früh zur Adoption freigegeben hatte.

Dank seiner Großeltern - insbesondere seiner Großmutter, die man sich als Mischung aus derbem Schlachtross und warmherziger Versorgerin vorstellen kann - geriet er trotzdem nicht aus der Spur, meisterte die High School, diente vier Jahre bei den Marines, zog in den Irak-Krieg, machte seinen Bachelor an der Ohio State University und wurde an der Elite-Universität Yale aufgenommen, wo er 2013 ein Jus-Studium erfolgreich abschloss.

© Ullstein

Diese Geschichte erzählt Vance ausführlich und anschaulich in seinem 2016 erschienenen Bestseller "Hillbilly Elegie", der 2020 in der Regie Ron Howards für Netflix verfilmt wurde. Einer "Elegie" entsprechend, ist dieses Memoir aber auch ein detailliertes, so einfühlsames wie ungeschöntes Porträt der amerikanischen Arbeiterschaft, analysiert deren Niedergang und durchleuchtet die Deklassierungsspirale, der sie kaum entkommen kann.

Das Wort Hillbilly charakterisiert die familiäre Prägung des Autors: Seine Vorfahren haben in Kentucky in den Appalachen gelebt. Die Bewohner dieser ausgedehnten Gebirgskette im Osten der USA haben immer in niedrigen Chargen - als Farmpächter, Bergarbeiter, Tagelöhner oder im Sägewerk - gearbeitet. Höhere Bildung und höhere Einkommen bleiben ihnen im Regelfall verwehrt. In den USA werden sie Hillbillys, abwertender auch Rednecks oder White Trash genannt.

Vance ist zwar bereits in Ohio, wohin seine Großeltern migriert sind, geboren und aufgewachsen, ist aber tief durch sein Milieu geprägt. Bisweilen zu seinem Nachteil: "Die Schule der Hillbillys, wo nur harte Schläge zählen", erweist sich als kein guter Wegweiser in eine harmonische Ehe mit einer hochrangigen Juristin indischer Abstammung.

Geringe Mobilität, Drogen und zerrüttete Familien sind die Klötze, die Hillbillys als Hindernisse für einen guten Lebensstandard mit sich schleppen. Weiße Arbeiter sind Umfragen zufolge der pessimistischste Bevölkerungsteil der USA: "Sie sind pessimistischer als lateinamerikanische Einwanderer, von denen viele in unaussprechlicher Armut leben. Sie sind pessimistischer als schwarze Amerikaner, deren materielle Aussichten im Vergleich zu den Weißen weiterhin schlecht sind."

Perspektive der Armen

Die Misere, die dieser negativen Haltung zugrunde liegt, beschreibt Vance allerdings als weitgehend "hausgemacht", weil ungenügender Anpassung an gesellschaftlichen Wandel oder auch nur simplen (Über-)Lebensanforderungen geschuldet: "Wir sind gesellschaftlich isolierter als je zuvor und geben diese Isolation an unsere Kinder weiter. Unsere Religion hat sich verändert; die Gemeinden, in denen sie gelebt wird, donnern emotionale Rhetorik, aber sie flüstern nur, wenn es um die Unterstützung geht, die die Kinder der Armen brauchen, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Viele von uns sind zur Dauerarbeitslosigkeit verdammt, oder sie konnten sich nicht dazu durchringen, umzuziehen, um die besseren Chancen zu suchen. Unsere Männer leiden unter einer einzigartigen Krise der Männlichkeit, in der es einige Eigenschaften, die uns unsere Kultur auferlegt, schwermachen, in einer sich verändernden Welt voranzukommen."

Wenn Vance sein Buch auf die Perspektive armer Weißer ausgerichtet hat, heißt das nicht, dass er es an Empathie für andere prekär lebende Gruppen - Latinos, Schwarze - mangeln ließe. Er agitiert auch nicht prononciert für oder wider eine bestimmte Partei. Seine Sympathie für die Republikaner schimmert nur insofern durch, als er zu verstehen gibt, dass die in Wirtschaft und Politik sich ausbreitende, tendenziell eher Demokraten nützliche Meritokratie - gesellschaftliches Vorankommen und Prestige durch Leistung, was ja auch viel mit Bildungschancen zu tun hat - nicht sein bevorzugtes System ist.

Das erläutert er deutlich in einer langen Passage über Barack Obama. Vance verliert kein böses Wort über den ersten farbigen US-Präsidenten der Jahre 2008 bis 2016. Im Gegenteil, er bescheinigt ihm hohe Intelligenz und weltgewandtes Auftreten. Aber: "Nichts an ihm hat irgendeine Ähnlichkeit mit den Menschen, die ich als Kind bewundert habe. Sein Akzent - sauber, perfekt, neutral - ist ein fremder Akzent. Seine Qualifikation ist so beeindruckend, dass sie einem Angst machen kann, (...) und er tritt mit einem Selbstvertrauen auf, das auf dem Wissen beruht, dass die moderne amerikanische Meritokratie wie für ihn geschaffen ist."

Verunsicherung

Und da liegt für Vance der wunde Punkt, denn dem Milieu, dem er entstammt, ist dieser Weg nicht zugänglich: "Präsident Obama trat exakt zu dem Zeitpunkt auf die Bühne, als sehr vielen Menschen in meiner Welt aufging, dass die amerikanische Meritokratie für sie nicht wie geschaffen war. (...) Barack Obama trifft uns genau an der Stelle unserer tiefsten Verunsicherung. Im Gegensatz zu vielen von uns ist er ein guter Vater. Seine Frau erklärt uns, dass wir unseren Kindern bestimmte Lebensmittel nicht geben sollten, und wir hassen sie dafür - nicht weil wir glauben, dass sie unrecht hat, sondern weil wir wissen, dass sie recht hat."

Genau hier, wo sich (nicht nur in den USA spürbare) tiefe Ressentiments der Deklassierten und Abgehängten gegen die sogenannte Elite spiegeln, wird auch deutlich, warum die "Hillbilly Elegie" nachgerade stereotyp als Donald-Trump-Wähler-Versteh-Buch gehandelt worden ist: Die Sehnsucht, sich nicht permanent zusammenreißen, sich "selbstoptimieren" zu müssen, nicht immer belehrt oder für Verstöße gegen irgendwelche Korrektheitsgebote gemaßregelt zu werden, kurzum: die Sehnsucht, sich einfach und ohne schlechtes Gewissen gehen lassen zu können, bediente der ungehobelte, ungebildete, sich ungeniert sexistischer und ethnischer Stereotype bedienende Unternehmer wie kein anderer Präsidentschaftskandidat vor und nach ihm. Da war es egal, dass Trumps reiche Herkunft und feudaler Lebensstil das Gegenteil ihrer Alltagsrealität repräsentierten.

J.D. Vance war 2016 weit davon entfernt, Donald Trump als geeigneten Präsidenten der USA zu verkennen. Im Gegenteil, während des Wahlkampfs kritisierte er den Amtsprätendenten wiederholt in Interviews sowie Postings auf Facebook und Twitter (die er später gelöscht hat, die aber allesamt wieder ausgehoben worden sind). In einem berühmt gewordenen Posting auf Facebook zeigte er sich hin- und hergerissen zwischen der Annahme, Trump könne "ein zynisches Arschloch wie Nixon oder Amerikas Hitler" sein.

"Da ist definitiv ein Element im Zulauf zu Donald Trump, das in Rassismus und Xenophobie wurzelt", sagte Vance im September 2016 in einem Interview für den Nachrichten-Sender PBS Newshour. Trump jage Menschen Angst ein, "die mir am Herzen liegen" - vor allem Immigranten und Muslimen, zitiert die "Frankfurter Allgemeine" Vance ohne Nennung eines konkreten Rahmens, in dem diese Aussage getätigt wurde.

Vor seiner Karriere als Autor hatte Vance als Finanzmanager in einer Investmentfirma von Peter Thiel - dem heutigen Arbeitgeber von Österreichs Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz - gearbeitet. Thiel ist als aktiver Unterstützer Donald Trumps bekannt. "Peter Thiel ist ein guter Freund und Mentor und viel davon, wie ich den Umgang mit Technologie sehe, ist von ihm beeinflusst. Insbesondere seine Haltung zur Frage, welchen Typ von technologischer Innovation wir haben, ob sie gut für die Gesellschaft ist, ob sie Jobs produziert", sagte Vance 2019 im Podcast "The Realignment" (Die Neuausrichtung). Dieses Jahr haben sich die Wege der einstigen Geschäftspartner wieder getroffen: Thiel hat Vances Wahlkampf um einen Senatssitz in Ohio mit 10 Millionen Dollar unterstützt.

Noch 2018 hatte Vance eine ihm von den Republikanern angebotene Kandidatur für den US-Senat abgelehnt. Als aber Anfang 2021 der republikanische Senator Rob Portman ankündigte, bei den Midterm Elections nicht mehr zu kandidieren, bewarb sich Vance um seine Nachfolge. Dafür vollzog er eine äußerliche Wandlung und eine ideologische 180-Grad-Drehung: Das rundliche Gesicht nun durch einen Bart bedeckt, konvertierte Vance zu einem der ergebensten Apostel Donald Trumps.

An Trumps Seite

Gegenüber Fox News begründete er seine Kehrtwende so: "Ich bitte die Leute, mich nicht nach dem zu beurteilen, was ich 2016 gesagt habe, weil ich sehr offen damit umgehe, dass ich diese kritischen Dinge gesagt habe und sie bereue." Bei einem Auftritt in Delaware, Ohio, sagte Vance, mit Trump neben sich auf dem Podium: "Simpler Fakt ist - er ist der beste Präsident in meiner Lebenszeit und er hat wie keiner sonst die Korruption in diesem Land bloßgelegt."

Die Mutation vom Saulus zum Paulus zahlte sich für Vance aus: Trump gewährte ihm in der internen republikanischen Ausscheidung seine Unterstützung und kürte ihn zum Kandidaten der "Grand Old Party" (GOP) für den Senatssitz in Ohio. Der frühere Präsident erteilte seinem früheren Kritiker diese Gnade freilich nicht ohne die Genugtuung einer genüsslichen Demütigung: "J.D. küsst mir den Arsch, so dringend braucht er meine Unterstützung", sagte Trump bei einem Auftritt in Youngstown, Ohio.

Im Wahlkampf um den Senatsposten in Ohio ist Vance als vermeintlich klarer Favorit mit unerwartet heftigem Gegenwind seitens seines demokratischen Opponenten Tim Ryan konfrontiert. So kommt es, dass Umfragen beide Kandidaten annähernd gleichauf sehen und die GOP noch 28 Millionen Dollar lockermachen musste, um ihren Mann auf Kurs in Richtung Wählergunst zu bringen.

Als Berufspolitiker hat Vance, der einstmals differenziert analysierende Chronist der Problemzonen in der amerikanischen Gesellschaft, nichts ausgelassen, was ihn möglichst weit rechts positioniert. Er demonstriert Verbundenheit mit der für wirre Verschwörungstheorien berüchtigten republikanischen Politikerin Marjorie Taylor Greene. Von seinem Mitgefühl für Migranten ist nichts mehr übrig geblieben: Heute ist Migration aus dem Süden ein Fixpunkt seiner Demagogie. "Sind Sie ein Rassist? Hassen Sie Mexikaner?," fragt Vance provokant in einem TV-Spot. "Die Medien bezeichnen uns als rassistisch, weil wir Trumps Mauer bauen wollen."

Vance stimmt in den Chor jener Republikaner ein, die Joe Bidens Wahlsieg 2020 als "gestohlen" bezeichnen, und unterstützt ein Abtreibungsverbot selbst im Falle von Vergewaltigung oder Inzest. Und er will die finanziellen Zuwendungen an die Ukraine einstellen.

Sein Abschneiden am 8. November gilt als wichtiger Fingerzeig, wie groß die Erfolgschancen Donald Trumps im Falle einer neuerlichen Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2024 sind: Sieht die GOP eine Zukunft ohne Trump? Oder ist - in Umkehrung zum Bekenntnis des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Fred Sinowatz, das da lautete: "Ohne meine Partei bin ich nichts" - die republikanische Partei ohne Donald Trump nichts?

Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und ist ständiger Mitarbeiter im "extra".