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Milliardenteure Rohrkrepierer

Von Christian Pinter

Reflexionen
Die sowjetische Landefähre (l.), die freilich nie die Mondoberfläche sah, war deutlich kleiner als die US-amerikanische.
© Eberhard Marx, CC BY-SA 4.0.

Vor 50 Jahren explodierte die sowjetische Rakete N1 zum vierten und letzten Mal - und ließ das ehrgeizige Mondlandeprogramm endgültig scheitern.


Baikonur, 23. November 1972: Die Mondrakete in spe startet wieder einmal zu Testzwecken. Ein ganzes Heer von Triebwerken hebt das zunächst sehr schwere Gefährt langsam, dann immer schneller in die Höhe. Die unterste Stufe nähert sich bereits dem Brennschluss. Zuerst schaltet ein Fünftel ihrer Raketenmotoren ab: plangemäß und abrupt. Das ändert den Druck in den Zuleitungen stoßartig. Eine 25 Zentimeter breite Sauerstoffleitung birst. In der 107. Flugsekunde bricht Feuer aus. So endet auch der vierte unbemannte Testflug in einer gigantischen Explosion.

Anfangs war der Sowjetunion eine Weltraumpremiere nach der anderen gelungen. Deshalb schwor US-Präsident John F. Kennedy seine Nation 1961 auf ein bemanntes Mondlandeprogramm ein. Moskau hob diesen Fehdehandschuh wegen wirtschaftlicher Probleme erst verzögert auf. Aus Zeitgründen setzte man dann auf eine ähnliche Strategie wie die NASA. Alle nötigen Komponenten - hier zwei betankte Antriebsblöcke, das Raumschiff und die Landefähre - sollen gleichzeitig mit einer einzigen Schwerlastrakete in den Erdorbit getragen werden und dann zum Mond weiterreisen.

Fatale Rivalität

Diese noch zu entwickelnde Trägerrakete, das Gegenstück zur US-amerikanischen Saturn V, erhält den Namen N1. Das "N" steht für Nositjel (russ.: Träger). Die Pläne stammen vom Raketenkonstrukteur Sergei Koroljow, der das Experimental-Konstruktionsbüro OKB-1 leitet. Koroljow verdächtigt den Triebwerkspezialisten Walentin Gluschko, ihn einst denunziert und so in den Gulag gebracht zu haben. Gluschko will einen starken, aber hochgiftigen Treibstoff in der Unterstufe der N1 verwenden. Hingegen beharrt Koroljow auf Kerosin und flüssigem Sauerstoff.

Hätten die Triebwerke Walentin Gluschkos (links) die N1-Rakete Sergei Koroljows (rechts) weiter gebracht?
© Pinter

Die Rivalität der beiden vereitelt die Zusammenarbeit. Koroljows N1 muss ohne Gluschkos Triebwerke fliegen. Ihre Unterstufe besteht schließlich aus 30 schwächeren Triebwerken, sechs in einem inneren und 24 in einem äußeren Ring. Zum Vergleich: Die erste Stufe der Saturn-V-Mondrakete der NASA kommt mit bloß fünf Motoren aus. Die exorbitante Triebwerksbündelung steigert die Fehleranfälligkeit der N1. Für einen entsprechend mächtigen Teststand fehlen Zeit wie Geld. Das Zusammenspiel der zahlreichen Motoren mit den daraus resultierenden Vibrationen und strömungstechnischen Tücken kann somit erst im Flug erprobt werden.

Güterzüge befördern die Teile der N1 nach Kasachstan. Im dortigen Baikonur entsteht eine riesige Montagehalle, so groß wie sechs Fußballfelder. Vier sechsachsige Dieselloks ziehen das zusammengebaute, liegende Gefährt samt Starttisch zum Startkomplex. Hier wird die N1 aufgerichtet und betankt. Die örtliche Mannschaft schreibt mit großen Lettern Schimpfwörter in den Schnee: Sie ahnt, dass US-Aufklärungssatelliten den Weltraumbahnhof im Visier haben. Aus dem Schatten der Rakete ermittelt die CIA tatsächlich deren gigantische Dimension.

Die N1 ragt samt Nutzlast an der Spitze 105 Meter auf. Da fehlen nur wenige Meter zum US-amerikanischen Gegenstück. An der Basis ist sie rund 16 Meter breit. Sie besitzt eine ungewöhnliche Form, ähnelt einem Zapfen. Denn über dem in der Unterstufe sehr voluminösen Sauerstofftank ruht ein ebenfalls runder, aber kleinerer Kerosintank. Das ungleiche Kugelpaar wiederholt sich mit schrumpfenden Durchmessern in den Stufen 2 und 3. Darin stecken immerhin noch acht bzw. vier Triebwerke. Sie zünden ganz kurz vor Brennschluss der vorangehenden, abzuwerfenden Stufe. Ihre Abgase müssen währenddessen seitlich ins Freie entfliehen. Dazu dient die eigentümliche Gitterstruktur zwischen den Stufen.

Ähnlich hoch, aber schwächer: Die sowjetische N1 (rechts) neben der Saturn V der NASA.
© Grafik: Ebs08, CC BY-SA 3.0

Die beiden obersten Blöcke sind schlank und zylindrisch. Sie werden erst nach Erreichen des Erdorbits benötigt - für den Weiterflug zum Mond. Allerdings besitzt die N1 nicht die herkulische Kraft der Saturn V. Man muss abspecken: Anders als beim Apollo-Projekt können nicht drei, sondern nur zwei Mann auf Reisen gehen. Das Kosmonautenduo sitzt in einer extra auf den Mondflug zugeschnittenen Variante des Sojus-Raumschiffs. Die daran angedockte Landefähre ist kleiner und um zwei Drittel leichter als ihr US-amerikanisches Pendant.

Plan und Realität

Ein interner Durchstiegstunnel fehlt aus Gewichtsgründen. Deshalb muss der Kommandant übers freie All in die Landefähre umsteigen. Er behält seinen Raumanzug an, während er im engen Lander zur Mondoberfläche absteigt. In 110 Meter Höhe sichtet er das Terrain und greift zur Handsteuerung. Glücklich gelandet, hisst er die sowjetische Flagge und klaubt Mondgestein auf. Böse hinfallen darf er nicht: Es ist niemand da, der ihm helfen könnte.

So der Plan. Doch damit Moskaus Traum vom Mond in Erfüllung gehen kann, muss sich das "Arbeitspferd" N1 erst bewähren. Um die vielen Triebwerke zu kontrollieren, heckt man das System KORD aus. Der elektronische "Kutscher" schaltet einen eventuell gestörten Raketenmotor ab, und zwar immer gemeinsam mit dem gegenüber liegenden. So bleibt der Schub symmetrisch.

Als Koroljow 1966 überraschend stirbt, übernimmt der geniale Ingenieur Wassili Mischin die Leitung des OKB-1. Er erbt aber weder Charisma und Führungskraft noch das politische Geschick seines einstiges Chefs - dafür eine Menge Probleme. Die finanziellen Mittel sind im Vergleich zur USA beschränkt. Die rote Raumfahrt ist zudem zersplittert. Dutzende Behörden und Ministerien reden mit, doch für niemanden davon spielt das All die Hauptrolle.

Das Mondprojekt steht außerdem im Wettstreit mit anderen Programmen. Vor allem die Pläne zur Entwicklung von zivilen und militärischen Raumstationen finden zunehmend Freunde, vor allem im Verteidigungsministerium: Militärs sehen im strategisch wertlosen Mondprojekt sowieso eine Fehlinvestition. Hinzu gesellen sich rein politisch motivierte Terminvorgaben und immer wieder Qualitätsprobleme.

Mittlerweile trainieren Kosmonauten für die ersehnten Mondlandungen. Die letzten 110 Meter über Grund steuern sie die Mi-4 Transporthubschrauber mit abgestelltem Motor - diese sogenannte "Autorotation" ist riskant und kommt sonst nur im Notfall zur Anwendung. Schlagen kann man die USA aber nur mehr, wenn deren Apollo-Programm scheitert.

Der zunächst für 1967 angeordnete Jungfernflug der N1 hat sich schon verspätet. Knapp vor dem ersten Startversuch zerreißt dann ein Bagger den Kabelstrang, der zum Startkomplex führt, und ebenso das allzu knapp daneben verlegte Ersatzkabel.

Selbst die Raketentaufe geht schief. Die Sektflasche trifft bloß den Starttisch - ein böses Omen. Kaum erhebt sich die allererste N1 am 21. Februar 1969 endlich in die Luft, bricht wegen austretenden Treibstoffs ein Feuer am Heck aus. Die Flammen versengen einen Kabelbaum, KORD erhält keine Sensordaten mehr und schaltet in 30 Kilometer Höhe alle Triebwerke aus. Die N1 stürzt ab und detoniert.

Beim zweiten Startversuch in der Nacht von 3. zum 4. Juli 1969 gerät ein Metallsplitter in eine der Sauerstoffpumpen. Die wird zerschmettert, es folgt eine Explosion. KORD legt fast alle Triebwerke still. Die Rakete fällt aus geringer Höhe auf den Startkomplex zurück. Mehr als 2.000 Tonnen Treibstoff detonieren, Beton verdampft.

Zweieinhalb Wochen später landen erstmals US-Amerikaner auf dem Mond. Die Russen haben das Rennen verloren. Sie beteuern, nie daran teilgenommen zu haben. Meisterleistungen gelingen ihnen mit mehreren unbemannten Sonden. Diese starten an der Spitze von Proton-Raketen, bestückt mit Gluschkos Triebwerken. So erbeutet Luna 16 im

Ein Lunochod-Modell war 1986 in Moskau ausgestellt.
© Pinter

September 1970 erstmals robotisch eingesammeltes Mondmaterial, speditiert 101 Gramm zur Erde. Zu diesem Zeitpunkt haben US-Astronauten jedoch schon 56 Kilo Mondgestein eingesackt. Im November 1970 setzt Luna 17 den allerersten Rover auf dem Mond ab: Lunochod 1 legt ferngesteuert 11 Kilometer zurück. In der zweiwöchigen Mondnacht dient ihm radioaktives Polonium als Heizung.

Problem am Heck

Im gleichen Monat beginnt man, die Mondlandefähre unbemannt im Erdorbit zu testen. Sie ist schließlich flugbereit. Nicht so die N1. Bei ihrem dritten Startversuch im Juni 1971 arbeiten erstmals alle 30 Triebwerke einwandfrei. Vermutlich läuft gerade deshalb alles aus dem Ruder. Die N1 dreht sich immer rascher um ihre Längsachse. Die Stabilisierungsdüsen sind überfordert. 47 Sekunden nach dem Start bricht die Rakete auseinander. Sie fliegt kopflos und unkontrolliert weiter, bis alle Motoren gestoppt werden. Wieder ein Absturz!

Jetzt wird klar: Am Heck der N1 entsteht ein Niederdruckbereich. Der Kosmonaut Alexei Leonow hat selbst für den Mondflug trainiert. Er schreibt über die in zwei Ringen angeordneten Triebwerke: "Wenn sie alle gleichzeitig gezündet wurden, entstand zwischen den beiden Kreisen ein zerstörerisches, destabilisierendes Vakuum. Das war vor dem Start nicht bekannt gewesen, da wir nicht über die Möglichkeit verfügten, alle dreißig Triebwerke gleichzeitig zu testen."

Für ihre Erbauer ist die N1 "ein lebendiges Wesen, in das sie, wie in ihre Kinder, ihre Seele und ihren Verstand gelegt hatten", schreibt Wassili Mischin später. Er lässt Verbesserungen vornehmen. Doch auch der vierte Startversuch im November 1972 endet in einem Inferno. Die sowjetische Mondrakete hat den Weltraum nie gesehen, ist immer schon an ihrer untersten Stufe gescheitert.

Mischin wird 1974 abgelöst, ausgerechnet von Walentin Gluschko. Der zeigt kein Interesse am Vermächtnis seines einstigen Rivalen Koroljow. Weitere N1-Starts unterbleiben. Obwohl Moskau bereits mehrere Milliarden Rubel ins Mondprogramm gesteckt hat, werden fertige Exemplare der Mondrakete demontiert, Teile verschrottet. Manche Elemente gehen in kasachischen Garagen, Unterständen und Schweineställen auf. Ein paar Segmente landen auf Kinderspielplätzen.

Selbst Unterlagen und Dokumentationen fallen der Vernichtung anheim. Offenbar soll möglichst wenig an dieses unglückliche Kapitel der sowjetischen Raumfahrt erinnern.

Christian Pinter, geboren 1959, schreibt seit 1991 im "extra" hauptsächlich über astronomische Themen.