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Die neue Mündlichkeit

Von Adrian Lobe

Reflexionen
Sprachsuche macht mittlerweile die Hälfte aller Online-Suchanfragen aus . . .
© getty images / Oscar Wong

Zwischen Podcasts und Sprachnachrichten - die digitale Kultur ist oral geprägt. Was bedeutet das für die Öffentlichkeit?


Im Jahr 2019 veröffentlichte ein bis dahin unbekannter Blogger namens Rezo auf YouTube ein Video, in dem er in einem fulminanten Redeschwall mit der Politik abrechnete. In dem knapp einstündigen Video warf er den Zusehern in atemberaubendem Tempo Fakten und Studien um die Ohren. Das mit dem reißerischen Titel "Die Zerstörung der CDU" überschriebene Video machte Rezo auf einen Schlag berühmt. Der YouTuber wurde in Talkshows eingeladen, sein Name fehlte in keinem Leitartikel.

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Vielleicht lag die dabei zur Schau gestellte Gereiztheit, ja Kränkung mancher Autoren auch daran, dass man heute keinen Text mehr schreiben muss, um sich in einer digitalen Aufmerksamkeitsökonomie Gehör zu verschaffen - es reicht dafür auch ein lärmender Clip. Die reichweitenstarken Plattformen wie Instagram oder TikTok kommen weitgehend ohne Text aus. Die einzige textbasierte Plattform, der Kurznachrichtendienst Twitter, ist ja vor allem dadurch groß geworden, dass sie die Zahl der Zeichen verknappte.

Die Vorstellung, mit einem Text die Welt zu verändern, rührt von einem tradierten, romantisierten Verständnis einer analogen Öffentlichkeit. Wer heute mitreden und die Sprache der Generation Z verstehen will, muss die Kulturtechniken der Reels und Videoclips beherrschen. Die digitale Kultur ist eine orale. Das beweisen nicht nur die sieben Milliarden Sprachnachrichten, die täglich auf dem Kurznachrichtendienst WhatsApp verschickt werden, sondern auch der Podcast-Boom und der Siegeszug der Sprachsteuerung. Alexa, spiel Musik. Hey Google, dimm das Licht. Siri, was ist die Hauptstadt von Katar? Sprachsuche macht mittlerweile die Hälfte aller Online-Suchanfragen aus. Es ist schon erstaunlich, wie weit man im Alltag ohne Schrift kommt. Man muss keine sperrige Betriebsanleitung mehr lesen, um die Kaffeemaschine zu reinigen - man schaut einfach ein Erklärvideo. In manchen Hotels lässt sich der Room-Service sogar per Emoji bestellen.

Boom des Gesprochenen

Nun muss man nicht das Ende der Schrift ausrufen, nur weil ein paar Vordenker im Silicon Valley die Voice-Revolution proklamiert haben und die Stimme zur neuen Tastatur verklären. Doch Mündlichkeit scheint ein strukturgebendes Prinzip digitaler Gesellschaften zu sein. Das zeigt sich schon daran, dass zahlreiche Banken eine biometrische Sprachauthentifizierung eingeführt haben, mit der man sich als rechtmäßiger Kontoinhaber ausweist. Unterschrift? Ausweis? Alles von gestern!

Vor der Erfindung der Schrift war im Grunde jede Kultur eine orale, in der Geschichten durch akustische Kommunikationskanäle wie etwa Erzählungen oder Gesänge verbreitetet und über Generationen weitergetragen wurden. Anfangs wurde die Schrift als Notationssystem sogar kritisch gesehen. Sokrates, der selbst keine Schriften hinterließ, glaubte wie sein Schüler Platon, dass die Schrift das Vergessen befördere, weil alles, was aufgeschrieben wird, nicht mehr im Gedächtnis abgespeichert werde. Wobei schon die Zeitgenossen der Antike über Reizüberflutung klagten. So schrieb der Stoiker Seneca im ersten Jahrhundert nach Christus: "Die Menge der Bücher zerstreut. Da du also nicht so viel lesen kannst, als du haben möchtest, so genügt es, so viel zu haben, als du lesen kannst."

Bis ins Hochmittelalter wurden handschriftlich geschriebene Bücher vor allem in Klöstern durch Abschriften vervielfältigt. Der Besitz von Büchern war ein Privileg, genauso wie Lesen eine Kompetenz war, die nur ein paar Gelehrte und Geistliche beherrschten. Die auf Latein verfassten Texte wurden daher laut vorgelesen und rezitiert. Entsprechend verwundert soll Augustinus gewesen sein, als er im vierten Jahrhundert nach Christus den Bischof Ambrosius von Mailand leise lesend sah.

Keine visuelle Präsenz

Sokrates glaubte, dass die Schrift das Vergessen befördere, weil alles, was aufgeschrieben wird, nicht mehr im Gedächtnis abgespeichert werde. Zu sehen: Sokrates-Büste aus dem Louvre.
© Sting, CC BY-SA 2.5 via Wikimedia Commons

Heute ist leises Lesen - abgesehen von Gottesdiensten, Lesungen und dem Vorlesen für Kinder - in Gesellschaften mit hoher Alphabetisierung die normale Praxis. Augustinus würde sich heute wohl mehr über den Zeitungsleser als über den Hörer eines Podcasts wundern. Dass Digitalität die Rezeptionsweisen der Zeit vor dem Buchdruck wiederherstellt, ist allein noch kein Grund zum Kulturpessimismus. Die neue Mündlichkeit der digitalen Gesellschaft ist jedoch insofern bedeutsam, als orale Kulturen gegenüber Schriftkulturen andere Formen des Erzählens und Erinnerns kennen.

Der amerikanische Literaturwissenschafter Walter J. Ong, ein Schüler des Medientheoretikers Marshall McLuhan, sieht den wesentlichen Unterschied zwischen einer oralen und schriftlichen Kultur in der Fähigkeit zur Lexikalisierung. Nur in Schriftkulturen könne das Wissen aus kanonisierten Werken präzise abgerufen werden: "In einer primären oralen Kultur wäre der Ausdruck ‚etwas nachschlagen‘ eine Leerformel ohne eine begreifbare Bedeutung. Ohne die Schrift besitzen die Wörter als solche keine visuelle Präsenz, auch dann nicht, wenn die Objekte, die sie repräsentieren, sichtbar sind."

Akustische Abstriche

In der Tat stellt sich die Frage, wie man ein YouTube-Video mit einer reinen Sprachsuche finden soll. Dass sich Videos nicht allein über Mund-zu-Mund-Propaganda verbreiten, sondern textbasiert über Links und mit Hashtags verschlagwortet werden, verweist darauf, dass die Schrift immer noch eine wichtige Rolle in der Strukturierung von Informationen spielt. Ein Textdokument lässt sich ja viel leichter nach Wörtern durchsuchen als ein Film nach einer bestimmten Sequenz. Trotzdem werden Informationen zunehmend mündlich überliefert. Und das wiederum hat Implikationen für Wahrheitssysteme, weil sich über das Medium der Oralität viel stärker und unbemerkter Halb- und Unwahrheiten ventilieren lassen.

Der deutsche Soziologe Armin Nassehi schreibt im "Kursbuch 189" ("Lauter Lügen"), dass gesprochene Sprache mehr auf Wahrnehmung als auf Verstehen setze. Der Sprecher könne sich das tendenziell Unpräzise der erinnerungsgestützten mündlichen Kommunikation zunutze machen und sich die Wahrheit "performativ zurechtlegen". Das Schriftliche werde dagegen zur Präzision gezwungen. Dort falle die Lüge viel eher auf, weil man eben auf das festgelegt werden könne, was man geschrieben hat. Über das Medium der Schrift werden kontextübergreifende "Wahrheitsansprüche" formuliert, argumentiert Nassehi. Deshalb heißt es auch, man lügt "wie gedruckt" und nicht "wie gesprochen".

Nicht umsonst macht die Dogmatik des amerikanischen Verfassungsrechts schon seit über einem Jahrhundert akustische Abstriche bei der Meinungsfreiheit: So kann sich, einem berühmten Schulfall des Supreme-Court-Richters Oliver Wendell Holmes folgend, jemand, der in einem vollbesetzten Theater "Feuer" ruft und eine Massenpanik verursacht ("Shouting fire in a crowded theater"), nicht auf die freie Rede nach dem Ersten Zusatzartikel der Verfassung berufen. Schreien ist etwas anderes als Schreiben. Was aber, wenn die Öffentlichkeit eine Bühne ist, auf der man ständig rufen muss?

Donald Trump, der erste Präsident der "Post-Schrift-Gesellschaft"?
© Reuters / Randall Hill

Die Oralität digitaler Medien, in denen vieles nur Hörsensagenevidenz zu besitzen scheint, bietet einen idealen Resonanzkörper für Marktschreier und Populisten, deren Tremolo von Algorithmen verstärkt wird. Der Journalist Joe Weisenthal etwa stellte die These auf, dass Donald Trump der erste Präsident der "Post-Schrift-Gesellschaft" sei. Die orale Kultur belohne Redundanz, so Weisenthal. Weil das Publikum unter den Bedingungen der Mündlichkeit nicht einfach schnell Dinge nachschlagen könne, müsse der Sprecher sich gegen Ablenkung und Verwirrung wappnen. Eine Technik dabei: Wiederholungen. Trump ist ein Meister dieses Stilmittels. Bei einer Debatte sagte er: "I’m a leader. I’m a leader. I’ve always been a leader." Selbst der begriffsstutzigste Zuhörer hat danach begriffen, wer der Chef im Ring ist.

Seinen politischen Gegnern gab Trump eingängige Spitznamen wie "Lyin’ Ted" (Ted Cruz) oder "Mini Mike" (Mike Bloomberg), die mehr nach Schulhof klingen, in den Echokammern digitaler Plattformen aber umso lauter nachhallen. Der Lautsprecher Trump, der nicht liest und auch nicht zuhört, ist auf frappierende Weise modern, weil sein Politikmodus - das gesprochene Wort - vormodern ist. Doch Trump teilt das Schicksal aller Redner: Seine Worte sind am Ende Schall und Rauch.

Adrian Lobe, geboren 1988 in Stuttgart, studierte Politik- und Rechtswissenschaft in Tübingen, Heidelberg und Paris und ist freier Journalist und Autor. Zuletzt ist von ihm erschienen: "Mach das Internet aus, ich muss telefonieren" (C.H. Beck Verlag).