Ein medienerfahrener Historiker hat kürzlich kritisch darauf hingewiesen, wie leichtfertig und oft irreführend bestimmte Formulierungen zur Beschreibung des Weltgeschehens gebraucht werden. So zum Beispiel, wenn man betont, ein Vorfall sei "erstmalig/einmalig/noch nicht da gewesen".
Geradezu inflationär wurde in den letzten Jahren der Begriff Spaltung gebraucht. Er diente Journalisten, Politologen und Politikern zu Analyse und Polemik, zur Beschreibung eines Auseinanderfallens der Gesellschaft bzw. einer Schädigung des notwendigen Zusammenhalts bei der Bekämpfung von Gefahren (z.B. der Pandemie).
Spaltung, so lautet die Botschaft, sei gefährlich. Menschen oder Botschaften, die spalten, würden Schaden anrichten. Dabei sind es - selbstverständlich - meist "die anderen", denen wegen ihrer Ansichten, Forderungen oder auch nur ihres offenkundigen Andersseins Spaltungspotential unterstellt wird...
Vielleicht ist dieser vorschnelle Gebrauch der Spaltungsdiagnose nicht nur eine vorübergehende Sprachmode, sondern auch Ausdruck einer Sehnsucht nach Einheit, Harmonie und Zusammenhalt, eine Art Reaktion auf die Beschleunigungs- und Modernisierungsphänomene. Und die diversen Zeitdiagnosen (von der "Erderhitzung" bis zur "Zeitenwende") sind auch nicht dazu angetan, Zuversicht zu entwickeln. Es wäre sicher etwas gewonnen, wenn man mit den Worten sorgsamer umginge.
Gehegter Konflikt
Die Sorge, die Gesellschaft könne gespalten werden, geht auf das Ideal der Einstimmigkeit zurück. "Unanimitas", "ein Volk!" bleibt in Demokratien aber auf Ausnahmesituationen beschränkt. Es drückt sich in ihr die alte Sehnsucht nach Homogenität und Einheit aus. Abgesehen von der Tatsache, dass es in einer Demokratie kritischer Instanzen, ja eines "gehegten Konflikts" bedarf, ist gesellschaftliche Spaltung gar nicht klar zu diagnostizieren. Allzu oft erfolgt das Urteil vor einer Prüfung. Umfrageergebnisse, die zur Schnelldiagnose herangezogen werden, sind dazu nicht geeignet.

Nicht alles, was getrennter Wege geht, bedeutet gleich Spaltung.
- © getty images / Boris SVWenn 40 Prozent für eine Impfpflicht sind, 30 Prozent dagegen - und der Rest im Seelenfrieden der Meinungslosigkeit verbleibt, so bedeutet das noch lange keine Spaltung. Nicht einmal das knappe Ergebnis einer zuvor intensiv diskutierten Volksabstimmungsfrage (etwa zur Inbetriebnahme eines fertigen Atomkraftwerks) führte seinerzeit zu bleibenden "Gräben".
Gelegentlich führen starke äußere Bedrohungen zu Phänomenen, die zunächst den Anschein von allgemeiner Solidarität erwecken, wie das am Ablauf der Covid-Pandemie erkennbar war. Dieser "Gemeinschaftseindruck" weicht bald Diskussionen über die richtigen Maßnahmen. Die Normalität in modernen Gesellschaften ist eben nicht dauerhafte Geschlossenheit, sondern Pluralität, die die mehr oder weniger "feinen Unterschiede" (Pierre Bourdieu) ausmacht. Schon gar nicht ist in modernen Gesellschaften, die sich durch hohe Arbeitsteiligkeit, Mobilität, vielgestaltige Bildungswege, Wertepluralität etc. auszeichnen, so etwas wie "Homogenität" oder eine Art ständische Struktur zu erwarten.
Die moderne Lebensstilforschung versucht diese Unterschiede zwischen einzelnen Menschentypen und Milieus, die bezüglich einer bestimmten Merkmalsmenge (z.B. Werthaltungen) möglichst homogen sind, statistisch darzustellen. Gelegentlich versteigt man sich dabei auch zu Gesellschaftsdiagnosen mit Prognosecharakter. Dabei wird übersehen, dass die den Typen statistisch zugerechneten Individuen keine Gruppen mit Zugehörigkeitsgefühl darstellen. Derartige Modelle veranschaulichen lediglich die Pluralität modernen Gesellschaften. Spaltungen beweisen sie nicht.
In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Politologie ein Wandel vollzogen. Zur Entstehung politischer Parteien haben - der sogenannten Cleavage-Theorie folgend -, historisch gesehen, Konfliktlinien und Spaltungen von Staat und Kirche, Land und Stadt, Kapital und Arbeit etc. beigetragen. Die Relevanz derartiger traditioneller "Cleavages" (englisch: "Kluft", "Spaltung") nehme jedoch ab. Es verstärkten sich neue Spannungslinien, die wesentlich aus sozioökonomischen und soziokulturellen Wandlungsprozessen resultierten. Die beobachtbaren Wählerverschiebungen in Österreich etwa deuten nicht auf bleibende Spaltungen hin, sondern vielmehr auf eine Lockerung traditioneller Parteibindungen.
Auch die seit einigen Jahren aufgetauchten Identitätsdebatten enthalten zwar Spaltungspotential, bedürfen aber - zumindest in einer Gesellschaft wie der österreichischen - institutioneller, politischer und medialer Stützung, um brisant zu werden. Identität ist nichts, das man für sich einfach behaupten kann. Schließlich spielt man mehrfache soziale Rollen und ist in einer säkularen, liberalen Gesellschaft eben nicht nur auf eine Identität festgelegt. Nicht einmal dann, wenn man sich diese selbst einbildet. Monokulturen lassen sich selbst in Diktaturen nur mehr schwer errichten und pflegen.

Rudolf Bretschneider bei einer Pressekonferenz zum Thema Zusammenhalt und Spaltung der Gesellschaft. Bundeskanzleramt, 2021.
- © Martin Juen / SEPA.Media / picturedesk.comEin Spezialfall ist die Frage, ob Gruppen, die sich auf eine spezielle Identität versteifen, zu Gesellschaftsspaltung beitragen - zum Beispiel durch immer neue Gendernormen, Cancel Culture oder Rassismusvorwürfe. Viel hängt wohl von der medialen Behandlung der damit verbundenen Aktionen ab.
In seinem 2018 erschienen Buch "Identity" unterstrich der US-Politologe Francis Fukuyama die Rolle von "Bewegungen", die auf Anerkennung ihrer Anliegen drängen. Für die USA führt er als Beispiele die Bürgerrechtsbewegung, den Feminismus, die Umweltbewegung und die Gruppen, die für "native Americans", Immigranten, Homosexuelle oder Lesbierinnen kämpfen, an. Das Auftreten dieser Gruppen in einer großen medialen Öffentlichkeit führe erwartungsgemäß und beabsichtigt zu starken Diskussionen und zeige das Kontroversielle bestimmter Lebensauffassungen. In solchen Kontroversen werde auch häufig der "Opferstatus" der eigenen Gruppe herausgearbeitet.
Die mehr oder weniger starke direkte Interaktion verschiedener Milieus bestimmt auch die Reaktionen auf die wahrgenommene Pluralität der Gesellschaft; bis hin zum Entschluss, sich - allein oder mit Gleichgesinnten - abzuspalten. Aber durch Modernisierungsprozesse wie Urbanisierung und Vervielfältigung der Kommunikationsmittel kommen die unterschiedlichen Gruppen unweigerlich miteinander in Berührung.
Die wahrgenommene Pluralität hat Folgen. Zum einen führt sie zu "kognitiver Kontamination" (wie das der Soziologe Peter L. Berger genannt hat), wenn man einige Zeit Umgang mit Andersdenkenden hat. Man beeinflusst einander im Denken. Zum anderen suchen Menschen nicht nur in der Jugend nach den für sie subjektiv richtigen Lebensweisen, beziehungsweise "Identitäten". Aber das, was man wählt, hat nicht dieselbe Festigkeit wie die ursprüngliche Selbstverständlichkeit der Herkunft.
Eine im Hinblick auf "Spaltung" relevante Reaktionsform auf wahrgenommene Pluralität liegt in der Entwicklung von Abwehrstrategien, die nicht bloß in der Vermeidung bestimmter Personengruppen bestehen, sondern in einer bewussten Abgrenzung von Personen, die als Träger dieser alternativen Konzepte erscheinen. Diese Gruppen können religiöser oder politischer Art sein.
Besonders intensiv wird die Abgrenzungsbemühung dann, wenn der eigene Standpunkt ein gewählter und nicht ein "ererbter" ist, oder mit dem Sendungsbewusstsein einer gesellschaftlichen Minderheit verbunden ist. Es entsteht eine Verbundenheit mit Gleichgesinnten, eine Differenzierung von "wir" und "die/sie". Diese wird durch verbale mediale Attacken in der Öffentlichkeit noch verstärkt. Im Falle von Werten oder religiösen Überzeugungen existieren Absolutheitsansprüche und es entstehen nicht verhandelbare Positionen.
Eine zentrale Rolle bei der Wahrnehmung gesellschaftlicher Heterogenität spielt - nicht erst im 21. Jahrhundert - die Zuwanderung. Dies vor allem dann, wenn die zugewanderte Bevölkerung aus einem Kulturkreis stammt, der durch andere Werthaltung und religiöse Lebensformen geprägt ist und diese unter veränderten Bedingungen aufrechterhalten oder sogar "in reiner Form" weiterentwickeln will. Mitunter genügt dann ein rasch aufflammendes Bedrohungsgefühl, das in offen gezeigte Feindschaft gegenüber den stigmatisierten Gruppen münden kann.
Infolge der großen Zahl kontroversieller Auffassungen in Medien ist es wahrscheinlich, dass die Wahrnehmung von Rissen in der Gesellschaft hoch ist und bleiben wird. Entscheidend ist, wie beunruhigend oder aber normal diese Situation auf verschiedene Bevölkerungskreise wirkt und wie andere Faktoren, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt verstärken, in Erscheinung treten.
Ideelle Kämpfe
Zum Schluss ein Blick auf jene Voraussetzungen, die eine ernst zu nehmende Spaltung erleichtern. Zunächst gilt wohl, dass ein Konflikt, der spaltet, meist eine längere Dauer haben muss bzw. angebahnt, vorbereitet, gepflegt und aufrechterhalten wird. Friedensschlüsse mit "der Pflicht zu vergessen" sind selten und gelten vielen "Engagierten" als nicht mehr zeitgemäß. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Nachnutzung ehemaliger Spaltungen. "Niemals vergessen!" ist solch ein zweischneidiges Postulat.
Nicht sozioökonomische oder soziokulturelle Differenzen "an sich" spalten eine Gesellschaft, sondern die "für sich" wahrgenommenen Unterschiede haben das Potential dazu; sei es, dass man sich in einer Opferrolle fühlt, sei es, dass man aus Gerechtigkeitsgefühl oder Empörung Partei ergreift.
Tiefergehende, lang anhaltende Spaltung wird durch "Versäulung" gefördert. Wenn durch Konfliktparteien verschiedene Motive (politische, ökonomische, ethnische, kulturelle, religiöse, historische) gebündelt, d.h. versäult werden, so erhöht das die Chancen auf unüberbrückbare Differenzen und eine entsprechende Motivation im ideellen oder faktischen Kampf gegen "die Anderen" (die Un- oder Andersgläubigen, die Barbaren, die "Leugner", alte weiße Männer, Islamophobe, Wissenschaftsfeindliche usw.).
Für gesellschaftliche Spaltungen, die diesen Namen verdienen, eignen sich vor allem Konflikte, die sich auf nicht verhandelbare Dinge wie Werte, religiöse Überzeugungen oder aber auch "politische Religionen" mit strikt wissenschaftlichem Credo beziehen.
Nicht ein (verbales) "Zuschütten von Gräben" oder ein schnelles, oft voreiliges Prognostizieren von Spaltungen ist bei der Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen notwendig, sondern der Versuch, die Zeichen an der Wand sorgsam zu lesen und ihre Bedeutungen zu unterscheiden. Der Beginn einer Verbesserung kann ein überlegterer Sprachgebrauch sein.