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Von der Magie des Zufalls

Von Anton Holzer

Reflexionen
Von Walter Benjamin vorgestellt: der französische Fotograf Eugène Atget; hier dessen Bild "Schaufenster in der Avenue des Gobelins", Paris 1925 (Ausschnitt).
© National Gallery of Art, CC0, via Wikimedia Commons

Walter Benjamins im Jahr 1931 erstveröffentlichte Schrift ist in einer kommentierten Neuauflage erschienen.


Im September und Oktober 1931 veröffentlichte der deutsche Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin eine lange, in drei Teilen erschienene Sammelrezension zu neuen Fotobüchern in der Berliner Zeitschrift "Die literarische Welt".

Es war ein Beitrag unter vielen Zeitungstexten, die der Autor zu dieser Zeit schrieb - nicht zuletzt, um sich mit den Honoraren finanziell notdürftig über Wasser zu halten. Denn die beruflichen, persönlichen und die allgemeinen wirtschaftlichen Aussichten erschienen ihm zu dieser Zeit überaus düster. "Die Wirtschaftsordnung Deutschlands", so schrieb er im Herbst 1931 an seinen Freund Gershom Scholem, "bietet genau soviel festen Grund wie die hohe See (...)". Seine eigene Situation, fügte er sarkastisch an, sei etwas besser, denn er sei voll beschäftigt, wenn auch ohne Bezahlung.

Im Herbst 1931 konnte Benjamin noch nicht ahnen, dass just dieser feuilletonistische Beitrag einer der bekanntesten aus seiner Feder werden sollte. Die "Kleine Geschichte der Photographie", wie Benjamin seine Besprechung etwas vollmundig nannte, verselbstständigte sich in der Folge als eigenes Werk und begründete (zusammen mit dem Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" aus dem Jahr 1936) seinen Ruf als früher Theoretiker der Fotografie.

Die Schrift erreicht in der "Hitparade" der in der Fotogeschichte und -theorie zitierten Werke bis heute einen Spitzenplatz. Wohl auch deswegen, weil sie nicht selten als Steinbruch für zugespitzte Wendungen herhalten musste, wie etwa der folgende, vielfach angeführte Satz illustriert: "Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein."

Überaus geistreich

Nach einer längeren Pause des Vergessens in der Kriegs- und Nachkriegszeit fand der Text 1977 - versteckt in den literarischen und ästhetischen Essays - Aufnahme in die vielbändige Suhrkamp-Ausgabe der "Gesammelten Schriften", die Benjamins Schriften kanonisierten. Auch in diversen Taschenbuchausgaben erschien der Beitrag, oft aber ebenfalls verborgen hinter dem Haupttitel des bekannteren Aufsatzes "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit".

Dass nun im Berliner Alexander Verlag eine von Wolfgang Matz kundig kommentierte Neuausgabe der Schrift aus dem Jahr 1931 erschienen ist (117 Seiten, 18,50 Euro), ist nur zu begrüßen. Denn noch heute, viele Jahrzehnte nach dem Erstdruck, wird der lebendig und anschaulich geschriebene Text zahlreiche Leserinnen und Leser finden.

Worüber schreibt Benjamin? Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Sammelbesprechung einiger um 1930 erschienener Fotobücher. Unter anderem kommt der Autor auf Helmuth Theodor Bosserts 1930 veröffentlichten Bildband "Aus der Frühzeit der Photographie. 1840-1870" zu sprechen, auf die Studie des Wiener Kunsthistorikers Heinrich Schwarz "David Octavius Hill. Der Meister der Photographie" (Leipzig 1931) und auf Karl Blossfeldts Fotoband "Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder" (Berlin 1928).

Er stellt aber auch jüngere und zeitgenössische Fotografen vor, etwa die von Camille Recht herausgegebene Ausgabe des französischen Fotografen Eugène Atget (Paris, Leipzig 1931) und August Sanders "Antlitz der Zeit" (München 1929). Bei genauerem Hinsehen aber ist der Essay noch etwas ganz anderes: eine überaus geistreiche und anregende historisch-phänomenologische Annäherung an die Fotografie, die Benjamin zeit seines Lebens fasziniert hatte - und die er immer wieder neu betrachtete.

Konzept der "Aura"

Benjamin nähert sich der Fotografie in einer Mischung zwischen sinnlicher Bildbeschreibung und philosophisch-analytischer Reflexion. Überlegungen, die er in späteren Schriften, nicht zuletzt in dem Torso gebliebenen "Passagen-Werk" weiter ausarbeitet, tauchen im Kern schon 1931 auf, etwa das Konzept der Magie und der "Aura", die manche Fotografien umgibt.

Für ihn handelt es sich dabei, in einer berühmt gewordenen Formulierung, um ein "Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinungen der Ferne, so nah sie sein mag". Auch spannende Überlegungen zur Parallele zwischen Traumwelt und Fotografie, zum Verhältnis zwischen Text und Bild und zur Rolle des "winzigen Fünkchens Zufall" beim Fotografieren stellt er an. Die Fotografie, so Benjamin, changiert zwischen dem auratischen Einzelbild und dem vervielfältigten Massenmedium. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung sah er - mit dem Boom der Illustrierten - in den 1920er Jahren gekommen.

Es ist gewiss kein Zufall - und das ist bis heute zu wenig beachtet worden, dass Benjamin seine Phänomenologie des fotografischen Bildes nicht so sehr aus der Beschäftigung mit fotohistorischen Texten, sondern mindestens ebenso anhand von Bildern entwickelte. Mit Fragen der Fototechnik hat er sich kaum auseinandergesetzt. Alle Bücher, die er in seiner Buchbesprechung vorstellt, sind, das fällt auf, Bildbände.

Während der Autor die diesen Büchern beigegebenen Texte nur im Vorbeigehen aufnimmt, taucht er tief in die Welt der Bilder ein. Einzelne Fotografien erweckt er schauend und beschreibend zu neuem Leben. Es sind, seinem Diktum von der frühen Blütezeit und vom späteren Verfall der Fotografie folgend, die allerersten fotografischen Bilder, die ihn zu längeren oder kürzeren Reflexionen anregen. Während im Erstdruck in der "Literarischen Welt" noch einige (schlecht gedruckte) Abbildungen beigegeben waren, verschwanden diese in der großen Suhrkamp-Ausgabe aus dem Text und wurden als flaue Kopien dem Beitrag nachgestellt. In der vorliegenden Neuausgabe finden sie wieder, wie zuvor in der Zeitung, Platz im Text. Und das ist gut so: Denn viele Gedankengänge Benjamins sind in der "Kleinen Geschichte der Photographie" nämlich nur verständlich, wenn man sie als Dialoge zwischen Bild und Text wahrnimmt.

Ein Text, der in einigen wenigen Jahren hundert Jahre alt wird, setzt natürlich Patina an. Manche Einschätzungen, die Benjamin 1931 traf, sind heute nicht mehr haltbar. Dazu gehört auch das allzu simple Geschichtsmodell, das er der Geschichte der Fotografie von den Anfängen bis um 1930 unterlegt. Er verortet die frühen Fotografien der späten 1830er und 1840er Jahre in einer fernen guten alten Zeit, die zu Ende ging, als ab den 1860er Jahren die Industrialisierung und Kommerzialisierung der Fotografie einsetzte und, so Benjamin, verachtenswerte Massenware zu erzeugen begann.

Eloge an die Frühzeit

Der Autor war hingegen fasziniert von der Magie der vorgestrigen Bilder. Sein Text ist über weite Strecken eine eloquente Eloge an die Fotografie der frühen Jahre, ein Lob auf jene Zeit, in der, wie er meinte, Objekt und Technik sich noch entsprochen hätten. Besonders angetan war er von den allerersten Bildern auf Metall, den Daguerreotypien, die als Unikate in die Welt gesetzt wurden. Er bewunderte ihren "Hauchkreis, der schön und sinnvoll bisweilen durch die nunmehr altmodische ovale Form des Bildausschnitts umschrieben wird".

Wenig lässt Walter Benjamin von der Fotografie seiner Gegenwart gelten. Die Amateure und Knipser geißelt er als gierige Bilder-Jäger, die Kunstfotografen mit ihren künstlerisch veredelten Bildern verachtet er, und für die Masse der Zeitungsfotografie seiner Zeit hat er nur Spott übrig: "Und wirklich scheint der Tag vor der Tür zu stehen, da es mehr illustrierte Blätter als Wild- und Geflügelhandlungen geben wird."

Einigen wenigen fotografischen Positionen erweist er seine Reverenz. Dem Pariser Stadtfotografen Eugène Atget, dessen Werk um 1930 gerade von der internationalen Avantgarde wiederentdeckt wurde und dem Benjamin im Text eine Art surrealistischen Stempel aufdrückte. Auch die große fotografische Gesellschaftsstudie von August Sander bewundert er sehr: "Sanders Werk ist mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas."

Walter Benjamin, der wie viele andere Autoren zu seiner Zeit die damalige massenmediale Bilderflut staunend registrierte und zugleich kritisch beäugte, konnte nicht vorhersehen, dass der Fotografie ein noch viel unvorstellbarerer Schub an Massenvervielfältigung bevorstand: am Beginn des 21. Jahrhunderts in den sozialen Medien des digitalen Zeitalters.

"Weiß noch irgendein Mensch", schließt Wolfgang Matz seinen Kommentar zum Buch, "welche und wie viele Bilder gespeichert sind auf seinen Festplatten, Laptops, Scandisks, Smartphones - und warum? Die Digitalisierung bedeutet in der Geschichte des Bildes und der Bildwahrnehmung einen Umsturz, von dem Benjamin nichts ahnen konnte und dessen künftige Folgen völlig offen sind, vielleicht größer noch als einst die Erfindung der Fotografie selbst."

Anton Holzer, Fotohistoriker, Publizist und Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte". www.anton-holzer.at