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Zwischen Kreation und Zerstörung

Von Manuel Meyer

Reflexionen
Provokation: Eugenio Merinos Silikon-Skulptur des toten Picasso auf der ARCO in Madrid.
© M. Meyer

Weltweit feiern Museen heuer das 50. Todesjahr des Jahrhundertkünstlers und beleuchten die vielen Facetten seines Werks.


"Als ich noch ein Kind war, sagte meine Mutter zu mir: Wenn du Soldat wirst, wirst du General. Wenn du ein Mönch wirst, wirst du Papst. Ich aber wollte Maler werden und bin Picasso geworden." Das Zitat wirkt ein wenig arrogant, zeigt einen Egomanen. Aber es ist auch wahr: Pablo Picasso war mehr als nur ein Maler. Er war der wohl größte und einflussreichste Künstler der Moderne - ein Jahrhundertgenie. Vielleicht ist er sogar der bekannteste Künstler aller Zeiten.

Als Picasso vor 50 Jahren, am 8. April 1973, auf seinem Schloss Vauvernargues in Mougins im Süden Frankreichs im Alter von 91 Jahren an Herzversagen starb, erlosch mit ihm auch ein Stern am Kunsthimmel. Sogar die "New York Times" berichtete auf ihrer Titelseite über Picassos Tod. Kein zweiter Künstler prägte die moderne Kunst über so viele Jahrzehnte, kein zweiter arbeitete in so vielen Stilrichtungen, erfand sich so oft neu wie Picasso. Er war nicht nur Maler. Er war auch Bildhauer, Keramikkünstler, Bühnenbildern und - was die wenigsten wissen - Poet.

Raub der Perspektive

In seinem Gemälde "Les Demoiselles d’Avignon" von 1907, einem Schlüsselwerk der Moderne, bricht er radikal mit der Kunst. Er zerstückelt die Körper und Gesichter der dargestellten Prostituierten in geometrische Formen, raubt ihnen die Perspektive. Das Bild wird zum Gründungswerk einer ganz neuen, von Picasso und Georges Braque gemeinsam entwickelten Kunstrichtung - dem Kubismus.

Besuchermagnet "Guernica" im Reina Sofía Museum in Madrid.
© Meyer

Sein Monumentalgemälde "Guernica", mit dem Picasso 1937 auf den Horror des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) reagierte, wurde zum universalen Anti-Kriegsbild, während seine Tauben-Lithografie, die er für den Pariser Weltfriedenskongress von 1949 zeichnete, zum weltweiten Friedenssymbol avancierte. Picassos Gemälde "Frauen von Algier" (1955) war mit 179 Millionen US-Dollar lange das teuerste jemals versteigerte Kunstwerk der Welt, bis ein saudischer Scheich 2017 für unglaubliche 450 Millionen US-Dollar Leonardo da Vincis "Salvator Mundi" kaufte.

Der 1881 im südspanischen Málaga geborene Picasso war schon zu Lebzeiten eine Legende, eine regelrechte Pop-Ikone. Heute feiert er aber wohl seinen größten Triumph, meint José Lebrero, Direktor des Picasso Museums Málaga: "Nie zuvor in der Geschichte haben sich so viele Länder und renommierte Museen koordiniert und zusammengetan, um gleichzeitig einen Künstler zu feiern."

Tatsächlich sprechen wir 2023 von einem nahezu global stattfindenden Ausstellungsreigen, der Picasso in seiner ganzen Bandbreite und in seinen zahlreichen Facetten vorstellt. Kaum ein Thema wird ausgespart - von seinen Meisterwerken und unterschiedlichen Schaffensphasen über Keramikarbeiten und afrikanischen Primitivismus in seinem Werk bis hin zu seinem polemischen Verhältnis zu Frauen. Es wird über den Einfluss seiner Vorbilder wie El Greco und Velázquez gesprochen, aber auch über seine Symbole, Farben und seine politische Kunst.

José Lebrero, Direktor des Picasso Museums  Málaga.
© Meyer

Das ist vor allem möglich, weil Picasso nicht nur zu den genialsten, sondern auch zu den fleißigsten Künstlern gehörte. Sein erstes Bild, das Ölgemälde "Der kleine Picador", malte Picasso nach dem Besuch eines Stierkampfes in Málaga, als er 9 Jahre alt war. An seinem letzten, unvollendeten Werk, "Liegende Frau und Kopf", malte er noch einen Tag vor seinem Tod. Allein in seinem letzten Lebensjahr vollendete der fast 90-Jährige in seiner unbändigen Kreativität noch 167 Gemälde.

50.000 Kunstwerke

Nicht nur qualitativ, auch quantitativ war Picasso ein Ausnahmekünstler. Kunsthistoriker schätzen, der Maler und Bildhauer habe in seiner über 70 Jahre langen Produktion rund 50.000 Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen, Grafiken, Collagen und Keramikarbeiten geschaffen. So gibt es ausreichend Material für alle großen Museen der Welt, sich am Jubiläumsprogramm zu beteiligen.

In New York widmet sich das Guggenheim-Museum dem "jungen Picasso in Paris", das Metropolitan Museum of Art "Picassos kubistischem Auftrag" und das Brooklyn Museum "Picasso und Feminismus". Von Tokio, Peking und Schanghai über Bukarest und Neapel bis nach Brüssel und Monaco laufen heuer weltweit über 50 Picasso-Sonderausstellungen.

Die Wiener Albertina illustriert noch bis zum 18. Juni in "Picasso. Zum 50. Todestag" mit rund 70 Meisterwerken des Künstlers die vielfältigen Schaffensperioden Picassos - vom Kubismus und Symbolismus bis zu seinem Spätwerk der 80er Jahre. In Deutschland sind 2023 gleich acht Picasso-Ausstellungen zu sehen. Das Wuppertaler Von der Heydt-Museum beleuchtet ab Herbst die Beziehung zwischen Picasso und Max Beckmann und das Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg nähert sich Picasso in "Der Künstler als Impulsgeber Osteuropas" von einer bisher recht unbekannten Seite.

Spanien und Frankreich, die beiden Länder, in denen Picasso lebte, stellten im Madrider Museo Reina Sofía sogar ein gemeinsames, grenzübergreifendes Ausstellungsprogramm zum Jubiläum vor. "Wenn es einen Künstler gibt, der das 20. Jahrhundert definiert, der es mit all seiner Grausamkeit, Gewalt und Leidenschaft, seinen Exzessen und Widersprüchen repräsentiert, dann ist dieser Künstler ohne Zweifel Pablo Picasso", stellte Spaniens Kulturminister Miquel Iceta im "Guernica-Saal" des Museums fest, wo Picassos weltbekanntes Anti-Kriegsgemälde hängt. Man wolle Picasso als universellen und europäischen Künstler feiern, der die Gründungsprinzipien Europas verkörpert, als Verteidiger der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit, ergänzte Frankreichs Kulturministerin Rima Abdul Malak.

Im Pariser Musée National Picasso nimmt der exzentrische britische Modedesigner Paul Smith als Kurator noch bis Ende August Picassos Meisterwerke in der Ausstellung "Die Sammlung nimmt Farbe an!" farbenfroh und modern unter die Lupe. Das Centre Pompidou steuert in "2023 Dessins" mit der größten jemals gezeigten Retrospektive über Picassos Zeichnungen und Druckgrafiken zum Jubiläumsprogramm bei.

Unterdessen beleuchtet das Musée de l’Homme heuer in "Picasso und die Prähistorie" die Urgeschichte als Inspiration für Picassos Bildsprache, während sich das Picasso Museum in Antibes sich auf seine letzte Schaffensphase von 1969 bis 1972 konzentriert.

Die meisten Sonderausstellungen sind allerdings in Picassos Heimat Spanien zu sehen - fast zwei Dutzend. Das weltberühmte Madrider Prado-Museum untersucht von Juni bis September die Faszination Picassos für den Altmeister El Greco, während das Madrider Thyssen-Bornemisza sich zwischen Oktober und März 2024 dem "Heiligen und das Profane" in Picassos Werk widmet.

Doch vor allem in Picassos Geburtsstadt Málaga finden in diesem Jahr zahlreiche Veranstaltungen, Konferenzen und Ausstellungen statt. Sogar Hollywoodstar Antonio Banderas - nach Picasso der zweitbekannteste Sohn Málagas - arbeitet in seinem Teatro de Soho in der andalusischen Mittelmeerstadt an einem Picasso-Musical.

Picasso-Bronzestatue auf der Plaza de la Merced vor dem Geburtshaus des Künstlers in Málaga.
© Meyer

Zwischen Mai und September gibt das Picasso Museum Málaga in "Materie und Körper" einen Überblick über das skulpturale Werk des Künstlers und zeigt, wie "Picassos Arbeit das Konzept der Skulptur vollkommen revolutionierte", erklärt Ausstellungskuratorin Carmen Giménez, eine der weltweit renommiertesten Picasso-Expertinnen. Ob mit Holz, Gips, Bronze oder Eisen - "Picassos Experimentierfreude kannte keine Grenzen, vor allem während seiner kubistischen Phase", so Giménez, die auch die große "El Greco-Picasso"-Schau im Prado kuratiert.

"Neben seinem außerordentlichen Talent waren es aber vor allem seine künstlerische Freiheit, seine Radikalität und sein Streben, sich stets neu zu erfinden, welche Picasso zum bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts machten", erklärt Giménez: "Picasso und seine Kunst waren Leidenschaft und ein ständiges Hin und Her zwischen Kreation und Zerstörung."

"Im Grunde bin ich ein Maler ohne Stil", gab Picasso selber einmal zu. Stil sei oft "etwas, das den Maler in die gleiche Vision einsperrt, die gleiche Technik, die gleiche Formel, über Jahre und Jahre", schrieb er. So bediente sich Picasso realistischer, symbolischer, surrealistischer und abstrakter Elemente gleichermaßen.

Von seiner melancholischen "Blauen Periode" wechselte er über die "Rosa Periode" schon bald zum von ihm gegründeten Kubismus. Um seinem eigenen "Kunstkind" bald wieder den Rücken zuzukehren und noch während und nach dem Ersten Weltkrieg mit Meisterwerken wie "Laufende Frauen am Strand" von 1922 zur Klassik zurückzukehren.

"Guernica" hingegen ist ein irrer Mix aus surrealen, theatralischen, cineastischen und kubistischen Elementen. Als Vorlage für das gigantische Monumentalwerk diente Peter Paul Rubens’ Gemälde "Die Folgen des Krieges" (1637), das Picasso in ein ultramodernes Historienbild verwandelte, das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Kunstgeschichte umfasste und dabei etwas ganz Neuartiges entstehen ließ. Es ist Kubismus, Friedrich Nietzsche, Goya, Sexualität, christliche Passionsikonografie - somit ein zeitloses Manifest gegen Krieg und Gewalt.

Picassos Echo

Werke wie "Guernica" machten Picasso zweifelsohne zu einem der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts, der selbst Maler wie David Hockney oder Francis Bacon zu bekennenden "Picasso-Jüngern" werden ließ, wie im Herbst auch das Picasso Museum Málaga in "Das Echo Picassos" zeigt.

Doch was sollte man auch anderes von jemandem erwarten, der "bestimmt das einzige Kind auf der Welt gewesen ist, das zum Spaß nicht aufs Fahrrad gestiegen ist. Es waren die Pinsel, die mich immer vereinnahmt haben", erinnerte sich Picasso an seine Kindheit in Málaga. Der Sohn eines Kunst- und Zeichenlehrers, der bereits mit 14 Jahren mühelos die Aufnahmeprüfung der Kunstakademie La Llotja in Barcelona schaffte, war für die Kunst geboren. Er war wie ein Schwamm, der alles aufsaugte und in Kunst verwandelte. Eine Kunst, die auch viele Opfer hatte - eine vernachlässigte Familie, zahlreiche Frauen, die er ins Unglück stürzte.

Doch nun ist Picasso vielleicht selbst ein Opfer, meint Eugenio Merino, der einen kritischen Blick auf die kommerzielle Ausbeutung des Künstlers im Rahmen der Jubiläumsfeiern wagt. Zum Ausdruck brachte das Merino auf der Madrider ARCO-Kunstmesse im Februar. Das Enfant terrible der spanischen Kunstszene schockierte mit der hyperrealistischen Silikon-Nachbildung Picassos, der als Toter auf einem Grabstein aufgebahrt ist. "Hier ruht unser geliebter Pablo Picasso. 1881-1973. Wir vermissen dich", steht auf dem Grabstein.

Manuel Meyer berichtet als Korrespondent der "Wiener Zeitung" und des "ART-Magazins" seit Jahren über Kunst und Kultur aus Spanien.