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Mehr als Äcker und Dome

Von Georg Biron

Reflexionen
© WZ-Collage (Bildmaterial: getty / CSA-Archive)

Österreich ist heuer Gastland auf der Buchmesse in Leipzig. - Eine Rundschau.


Als Kind setzte man mir häufig Buchstabensuppen vor. Ich bildete auf dem Tellerrand einzelne Wörter. Später sah ich Hollywood-Filme, in denen Autoren vorkamen, die sich einen Dreck um die Welt scherten und große Vorschüsse von ihren Verlegern kassierten. Doch statt zu schreiben, lungerten sie in schummrigen Bars herum, bis eine spannende Schönheit zur Tür hereinkam - und am Ende des Films standen die frisch gedruckten Exemplare eines dicken Romans in der Auslage einer New Yorker Buchhandlung - und alles war happy around.

Schließlich setzte ich mich an meine mechanische Schreibmaschine und wörterte meine ersten Storys. Es war eine wunderbare Therapie. Ich konnte Wort für Wort die Welt verändern und ich machte aus mir und anderen Menschen - andere Menschen. Gut Ding braucht Zeile. Und keine Drogen. Es gibt keinen besseren Trip als Typewriter Surfing durch die eigene Fantasie.

Junge Dichter sind strenge Richter. Später werden sie mitleidiger und gute Verteidiger. Als ich ein junger Dichter war, wollte ich keine österreichische Literatur schreiben. Und auch keine Bestseller. Ich wollte die Welt besser machen. Die Menschen kritischer. Und war doch nur ein Don Quichotte - ohne Sancho Pansa.

© Wieser Verlag

Ich bekam Literaturpreise und Stipendien und gab meine Honorare in Buchhandlungen aus. Ich las Romane und Erzählungen aus Südamerika und Russland, Frankreich und Italien; außerdem die angesagten Deutschen, Amerikaner, Engländer, Schweizer - und die alten und die neuen Österreicher, vor allem aber Joseph Roth: "Es kommt nicht darauf an, zu dichten. Das Wichtigste ist das Beobachtete!" Immer wieder Roth: "Österreichisches repräsentieren heißt: zu Lebzeiten missverstanden und misshandelt, nach dem Tod verkannt und durch Gedenkfeiern gelegentlich zur Vergessenheit empor gehoben zu werden."

Lage der Verlage

Als Österreicher lernt man, mit der Niederlage zu leben. Als Fußballer genauso wie als Schriftsteller. Nur wer ins Ausland geht, kann dort vielleicht ein bejubelter Star werden. Alaba. Arnautovic, Baumgartlinger, Ilsanker, Kalajdzic, Laimer oder Sabitzer zum Beispiel. Handke, Jelinek, Turrini, Bernhard, Ransmayr, Haslinger, Menasse u. a. - sie alle sind mittlerweile Trademarks von großen deutschen Verlagshäusern.

Das ist nicht nur eine Frage der poetischen Qualität, sondern auch der wirtschaftlichen Power im europäischen Verlagswesen. Im Marx’schen Sinn geht es um die dialektische Beziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.

Ein Branchenbericht der Bank Austria zeigt, dass "Österreichs Haushalte immer weniger für Bücher und Zeitschriften ausgeben (...) Den Verlagen fehlen die Mittel für Marketing und PR, worunter ihre Marktpräsenz leidet und sie zugkräftige Autoren und Autorinnen oft an große ausländische, zumeist deutsche Verlage verlieren." Bücher made in Austria werden im Ausland kaum verkauft. Der österreichische Anteil an allen in der EU abgesetzten Druck- und Verlagsprodukten ist mit zwei Prozent sehr gering.

Im letzten Jahr sind ungefähr 70.000 neue Buchtitel auf dem deutschsprachigen Markt erschienen, rund 30.000 davon im Bereich Belletristik. Aus Österreich stammt circa ein Zehntel davon. Bücher im Eigenverlag boomen zwar, scheinen in der Statistik aber nicht auf. "Seit den 1980er Jahren hat sich die Zahl der Neuerscheinungen fast verdoppelt", weiß Gerhard Ruiss von der IG Autorinnen Autoren.

Aber: "In Österreich können nur zwischen 200 und 500 Menschen vom Schreiben leben. Das beste Buch ist nichts wert, wenn es nicht entsprechend präsentiert wird."

Der Tiroler Krimiautor Bernhard Aichner hat im Jahr 2000 sein erstes Buch, "Babalon", bei einem österreichischen Verlag herausgebracht und keine 300 Exemplare davon verkauft. Heute ist er beim Verlagsriesen Random House, zu dem 46 deutsche Verlage gehören. Die "Totenfrau"-Trilogie erschien zwischen 2014 und 2017, hat sich im deutschsprachigen Raum mehr als 350.000 Mal verkauft, ist in 16 Ländern erschienen und verfilmt worden.

"Nur ein Autor, der sein Allerbestes gibt, kann erfolgreich sein", erklärt Aichner in einem ("Kurier"-)Interview. "Dazu gehört neben einem genialen Plot, neben einer schönen Sprache und einer durchdachten Erzählstruktur auch eine gründliche Recherche."

Zwischen 27. und 30. April wird sich Österreich bei der Leipziger Buchmesse als Gastland präsentieren. Der 400 Quadratmeter große Österreich-Stand wird die Homebase für 60 österreichische Verlage sein. Der Slogan, mit dem Österreichs Literatur antritt, lautet "meaoiswiamia", also "mehr als wir". Seit H. C. Artmann, Hans Haid, Josef Mayer-Limberg oder Christine Nöstlinger wird dem Dialekt in unserer Literatur freilich nur noch in engen Nischen gefrönt. Erfolgreicher sind da schon Sänger und Liedermacher wie Andreas Gabalier, Voodoo Jürgens oder Ernst Molden - sogar im hohen Norden Deutschlands. "Haben wir den Mut, mea ois wia mia zu sein!", fordert ORF-Literaturchefin Katja Gasser, künstlerische Leiterin des Gastlandprojekts. Die österreichische Identität soll betont werden und sich im globalen digitalen Dorf neu positionieren.

Aber gibt es so etwas wie eine typisch österreichische Literatur überhaupt (noch)? Der legendäre Vorstand des Instituts für Germanistik an der Uni Wien, Wendelin Schmidt-Dengler sel. (1942-2008), hat die Rezepte der heimischen Buchstabensuppen bis zum letzten Maggi-Tropfen genau untersucht: "Die Literatur aus Österreich ist gewiss zum überwiegenden Teil in deutscher Sprache abgefasst, aber sie gehorcht auf Grund der gesellschaftlichen und historischen Rahmenbedingungen anderen Gesetzen, auch im Bereich der Form und des Inhalts."

Das habe mit dem Habsburger-Vielvölkerstaat zu tun und den Einflüssen durch Bosnier, Bulgaren, Deutsche, Italiener, Kroaten, Rätoromanen, Rumänen, Serben, Slowaken, Slowenen, Tschechen, Ungarn sowie Ukrainer. Nicht zu vergessen: die Juden.

Heute wandern die Völker quer über alle Kontinente. Die Menschen beziehen globale Informationen und integrieren sie in ihren Alltag. Und auch die in Österreich verfasste Literatur vermittelt jetzt andere Inhalte als zur Hochblüte von Peter Handke, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Alfred Kolleritsch, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl oder Marianne Fritz.

"Nationale Literaturen sind eine Erfindung der napoleonischen Kriege, künstliche Konstrukte, die wir hoffentlich schon bald wieder hinter uns gelassen haben", erklärt der Linzer Autor Stefan Kutzenberger. "Es wäre schade, wenn der Engländer William Shakespeare über den Prinzen von Dänemark und über die Liebenden von Verona schreiben durfte, wir dagegen aber von Bergen, Äckern, Domen und Hämmern berichten müssen. Heimat hat, sobald man etwas intensiver darüber nachdenkt, die Tendenz, sich in Fiktion aufzulösen."

In der Ausgabe vom 24. März geht das Schweizer "NZZmagazin" mit einem langen Essay der Frage nach: "Warum ist Österreichs Literatur so gut?" Die Verfasserin, Martina Läubli, unternimmt auf ausgetretenen Wiener Pfaden ihre Suche nach objektiven Gründen, "ohne zu vergessen, dass die Gründe vielfältig und ineinander gerollt sind wie ein Mohnstrudel". Sie verbringt stille Tage im Klischee und schaut sich im Burgtheater um, wo man "auf roten Plüschsesseln Abend für Abend theatrale Radikalität erleben kann". Natürlich hält sie auch in einem Kaffeehaus inne: "In hohe Räume fällt honiggelbes Licht, man hört das Rascheln von Zeitungen, Gespräche und das Geklapper von Geschirr."

Dazwischen zitiert sie die Bachmann und Stefan Zweig. Und widmet sich einer g’schmackigen Analyse: "Das Charakteristische eines Landes suchen wir gerne im Kulinarischen. Diesbezüglich hat das genussfreudige Österreich mit knusprigen Schnitzeln, herzhaften Knödeln, Palatschinken, Sachertorte und Apfelstrudel ja einiges zu bieten."

Die Schweizer staunen

In den Augen der Schweizerin besteht die Qualität österreichischer Literatur darin, "dass sie sich ganz und gar auf die Gegenwart einlässt (...) Ihre Autorinnen und Autoren denken um die Ecke, erzählen mit Selbstironie und einem Bewusstsein für Sprache, die sich nicht auf den Transport einer Story beschränkt, sondern eigenwillig auf Form, Klang und Nuancen besteht. Sie zeigen die Welt schärfer, in Gegenbildern zu offiziellen Erzählungen oder touristischen Inszenierungen. Wie Peter Handke sagte: ,Es ist die Literatur, die das Bild eines Landes bestimmt, gerade indem sie allen fertigen Bildern mit Hartnäckigkeit und sanfter Gewalt widerspricht.‘"

Schließlich stellt Läubli überrascht fest: "Österreich versteht sich als Kulturnation und gibt auf nationaler Ebene doppelt so viel Geld für Literaturförderung aus wie die Schweiz." In Österreich wurden mehr als 80 Langzeitstipendien an Autorinnen und Autoren vergeben. Man subventioniert "Übersetzungen, Literaturzeitschriften und Verlage, letztere mit drei Millionen Euro".

Vermutlich ist es genau dieses Budget, das Österreichs Wortfabriken am Leben erhält. In einem Land mit spärlichen Rohstoffvorkommen sind Geist und Bildung ein wichtiges Kapital. Um in der globalen Welt zu punkten und passende Worte für die eigene Kreativität und die Praxis in der Arbeitswelt zu finden, braucht es aber auch Schulen, die den Kindern die nötigen Fähigkeiten nahebringen. Und da reden wir noch gar nicht von den aberwitzigen Herausforderungen, die durch Künstliche Intelligenz (KI) entstehen.

"Bring Me Edelweiss"

"Das Lesen zählt neben dem Schreiben und Rechnen zur wichtigsten Kulturtechnik, und es ist blamabel, dass ein reiches Land wie Österreich im internationalen Vergleich, etwa bei der PISA-Studie, so schlecht abschneidet", sagt Erika Hornbogner, Verlagsleiterin im Wieser-Verlag. "Kinder, die mit Büchern aufwachsen, greifen später als Erwachsene meistens selbst zu Büchern und entwickeln ein Faible für die Literatur."

Dass man masochistisch sein muss, um in einem kleinen privaten Verlag Bücher herauszubringen, will Hornbogner nicht bestätigen, aber: "Es stimmt schon, dass das Verlagswesen ein sehr schwieriges Terrain ist. Die steigende Leseschwäche der jungen Generation und ihre mangelnde Lust auf Bücher sind eine Sache. Aber die öffentliche Wahrnehmung von Literatur jenseits des Krimi-Genres hat rasant abgenommen. In den Zeitungen gibt es kaum Rezensionen. Außerdem machen sich in unseren Buchhandlungen internationale Konzerne breit und bestimmen, was in den Regalen und in den Auslagen steht. Da bleibt man als kleiner Player leicht auf der Strecke."

Cover des Erfolghits.
© austriancharts.at

Vielleicht sollte man die Werbung für österreichische Literatur ja doch mit der Tourismuswerbung verknüpfen. Immerhin besuchen jährlich mehr als 22 Millionen Urlauber die Alpenrepublik. Davon sind mehr als acht Millionen deutschsprachig. Ich stelle mir ein Musikvideo vor, das schon einmal bestens funktioniert hat: "Bring Me Edelweiss". Der Song einer heimischen Dancefloor-Formation war eine Coverversion des ABBA-Hits "SOS" und wochenlang in Österreich und der Schweiz auf Platz 1 der Charts, in Deutschland Nummer 2, in zahlreichen weiteren Ländern in den Top 5, darunter sogar Neuseeland.

Für solch ein "meaoiswiamia"-Werbevideo ziehen heimische Dichterinnen Dirndln an, und die Dichter tragen Trachtenmode, um aktuelle Bücher aus Österreich rhythmisch tanzend in den Fokus zu rücken. Ich bin sicher, der Robert Menasse macht auch in einer Krachledernen eine gute Figur ...

Infos zur Buchmesse in Leipzig:

www.gastland-leipzig23.at/programm

https://gastland-leipzig23.at/meaoiswiamia/

Georg Biron, geboren 1958, lebt als Schriftsteller, Reporter, Regisseur und Schauspieler in Wien. Zuletzt ist von ihm im Wieser Verlag der autobiografische Roman "Eisenschädel" erschienen.