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Als der Jazz nach Österreich kam

Von Johannes Kunz

Reflexionen

Am 30. April ist Internationaler Tag des Jazz. Hierzulande hielt das Genre bereits unter dem Doppeladler Einzug.


Das Wort Jazz, das für "Erregung", "Energie" und "Kraft" stand, kennt die Musikgeschichte erst seit 1915/16, als es in einem Artikel der "Chicago Daily Tribune" auftauchte. In der Umgangssprache der Schwarzen weckte dieses Wort sexuelle Assoziationen. Blues-Interpretinnen sangen die Zeilen "Give Me Your Jazz" oder "I Don’t Want Your Jazz".

Die Vorläufer des Jazz, der um 1900 in und um New Orleans entstanden ist, reichen freilich in das 19. Jahrhundert zurück. New Orleans war damals ein Schmelztiegel aus afroamerikanischen Nachkommen der Sklaven, Franzosen, Spanier, Engländern, Italienern, Deutschen und Slawen. New Orleans war unter spanischer und französischer Verwaltung gestanden, ehe die Stadt und das Land Louisiana von den Vereinigten Staaten gekauft wurden.

Neues aus Übersee

Noch in der Habsburger-Monarchie erschienen hierzulande Vorformen des Jazz in Gestalt von Player Rolls, das waren Walzen für mechanische Klaviere. Und einige Manufakturen produzierten schon Grammophonplatten mit synkopierter Salonmusik, Cakewalks und Ragtime. Der Texaner Scott Joplin wurde zum führenden Ragtime-Pianisten in den USA. Ragtime ist eine vorwiegend komponierte und pianistische Musik, in der die später im Jazz so wichtige Improvisation keine Rolle spielte. Die Hauptstadt des Ragtime war Sedalia im Bundesstaat Missouri. Bald schon begründete der Pianist Jelly Roll Morton die New-Orleans-Tradition, indem er mit dem melodischen Material des Ragtime jazzmäßiger, das heißt swingender, umging.

Um 1900 wurde der Gesellschaftstanz Cakewalk auf der Basis der Ragtime-Musik (ragged time = zerrissene Zeit) zu einem bei der amerikanischen Jugend überaus populären Modetanz, der durch den 1903 entstandenen Stummfilm "Uncle Tom’s Cabin" seinen Weg nach Europa fand. In unseren Breiten begann man sich für die neuen Musikformen aus Amerika, darunter auch Blues und Spiritual, die mit der Kultur der Afroamerikaner assoziiert werden, zu interessieren. Insbesondere junge Angehörige der Aristokratie und des aufstrebenden Bürgertums waren neugierig auf die Töne aus Übersee.

Und so dauerte es nicht lange bis zu den ersten Besuchen schwarzer Sänger, Musiker und Tänzer in Österreich-Ungarn. Die Sängerin Arabella Fields, die man "schwarze Nachtigall" nannte, stammte aus Philadelphia und tourte um 1900 durch die Habsburger-Monarchie. Ursprünglich eine Spiritual-Interpretin, begeisterte sie ein paar Jahre später das Publikum im Wiener Gartenbau-Theater mit dem Lied "Nach Zigeuner Art", das der österreichische Komponist Theodor Wottitz für sie geschrieben hatte.

The Black Troubadours, The Darktowns, The Florida Creole Girls und vor allem der Sänger und Tänzer Louis Douglas feierten in Wien Erfolge. Douglas hatte seine ersten Auftritte 1909 und später, in den 1920er Jahren, seine große Zeit in Europa, wo er wesentlichen Anteil am Erfolg der "Revue nègre" mit Josephine Baker hatte. Im Raimundtheater und im Ronacher konnte man Louis Douglas erleben.

Da das Publikumsinteresse an der amerikanischen Unterhaltungsmusik schnell zunahm, wurden nun auch heimische Komponisten auf sie aufmerksam. So schrieb der Wiener Ernst Reiterer für seine Operette "Frühlingsluft" einen Cakewalk. Und der Wiener Kapellmeister Robert Hügel führte 1913 "When The Midnight Choo Choo Leaves For Alabama" auf.

Zäsur Erster Weltkrieg

Die Salonkapelle des Alfred Himmel brachte die erste in Wien produzierte Schallplatte mit dem Wort Jazz im Titel heraus: "Bobby Jazz", eine Komposition von Robert Stolz. Und die Wiener Volksmusiker Josef Mikulas und Franz Kriwanek spielten ihre Version des Ragtime "Black And White" ein. "Mysterious Rag" nannte sich eine Grammophonplatte des Ersten Wiener Salonorchesters. Der Erste Weltkrieg setzte ab 1914 eine Zäsur im aufkeimenden Interesse an der neuen Musik aus Amerika. Jetzt stand Marschmusik auf dem Programm. Patriotismus wurde den Menschen verordnet.

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Als der Krieg zu Ende und die k.u.k. Monarchie Geschichte war, zeigten sich erste Spuren eines Jazzlebens in Wien. Der New Yorker Jazzmusiker und Filmkomponist Lud Gluskin, der seine Karriere im Orchester Paul Whiteman begonnen hatte, war 1924 als Drummer im Orchester des Belgiers Paul Gason im Tabarin zu hören. Und im Café Sacher spielte die Band des deutschen Saxofonisten Eric Gehrsen jazzige Tanzmusik. Authentischen amerikanischen Jazz gab es, als das von Will Marion Cook gegründete Syncopated Orchestra im Metropoltheater im Prater auftrat.

Der Orchesterchef George W. Lattimore brachte den Trompeter Tommy Smith, den Posaunisten und späteren englischen Big-Band-Leader Ted Heath sowie den Drummer Buddy Gilmore und den Sänger William Burns mit. Teile der Wiener Kulturprominenz, darunter Adolf Loos, zeigten sich begeistert. Nun entstanden immer mehr österreichische Jazzensembles und die RAVAG, die 1924 gegründete Rundfunkgesellschaft, übertrug ab 1926 regelmäßig aus dem Café Sacher, dem Café Westminster, dem Graben Café oder dem Grillroom des Hotel Bristol jazzige Tanzmusik.

Der Saxofonist Charly Gaudriot, der ursprünglich Klarinettist bei den Wiener Philharmonikern war, machte mit seinem Orchester, das neben reiner Tanzmusik auch Jazznummern wie "Georgia Swing" oder "Jelly Roll Blues" im Repertoire hatte, Furore. Und in der Weihburg Bar standen der Geiger Oskar Virag und der Pianist Ralph Erwin auf der Bühne. Erwin wurde als Komponist des Liedes "Ich küsse Ihre Hand, Madame" für den gleichnamigen Film mit Marlene Dietrich international bekannt. In der Weihburg Bar sorgte ab 1925 auch der afroamerikanische Trompeter Arthur Briggs mit seiner Jazzband für gute Stimmung.

Nazi-Hetze

Im Raimundtheater war in diesem Jahr die amerikanische Revuetruppe Chocolate Kiddies mit der späteren Sängerin im Orchester von Duke Ellington, Adeleide Hall, zu hören. Schließlich gastierte in den 1920ern der US-Jazzgeiger Eddie South zweimal in der Weihburg Bar. Und 1928 war im Moulin Rouge die Band von Sam Wooding mit dem Trompeter Doc Cheatham live zu erleben.

Josephine Baker im Jahr 1949.
© Carl Van Vechten, Public domain, via Wikimedia Commons

1928 sollte die afroamerikanische Sängerin und Tänzerin Josephine Baker ein sechswöchiges Gastspiel im Ronacher antreten. Der Wiener Magistrat verweigerte die Genehmigung, nachdem eine konservative Hetzkampagne eingesetzt hatte. Schließlich konnte die Baker am 1. März im Johann- Strauß-Theater auf der Wieden mit ihrer Revue "Noir et Blanc" auf der Bühne erscheinen.

Die "Deutschösterreichische Tageszeitung" schrieb von einem "Negerskandal" und die christlich-soziale "Reichspost" fragte: "Josephine Baker mit dem Bananenschurz nach wildtrunkenen Negerweisen tanzend, in der Stadt Schuberts, Strauß’ und Beethovens - ist es nicht ein letztes Haltesignal vor der Fahrt ins Weite, Unermessliche des Abgrunds?"

Die Baker selbst erinnerte sich später an den Empfang in der österreichischen Metropole: "Hier muss es äußerst einflussreiche Sittlichkeitsvereine gegeben haben, denn die Stadt war von Traktaten überschwemmt, in denen ich als ‚schwarzer Dämon‘ bezeichnet wurde. Ich bin die Ausschweifung, das Laster, der Sexus in Person. Gewiss, man hat mir nicht die Einreise in die Stadt verweigert, aber ich wurde als der lebende Beweis für den Sittenverfall dargestellt. Ein Jesuitenpater hielt in seiner Kirche sogar eine feurige Predigt gegen den Charleston und am Tag meiner Ankunft läuteten die Glocken Sturm. Der Jesuitenpater hatte ein volles Haus, aber ich auch!"

Wenige Wochen vor dem Gastspiel von Josephine Baker, am 31. Dezember 1927, hatte die Jazzoper "Jonny spielt auf" von Ernst Krenek in der Staatsoper Premiere. Jonny ist Musiker in einer afroamerikanischen Jazzband. Schon die ersten Aufführungen wurden von Unruhen, ausgelöst von Nazis, gestört. Ab 1929 wurden auch in München Aufführungen dieses Werkes immer wieder durch Gegner unterbrochen.

Mitten im "Jazz Age"

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde die Oper als "entartete Musik" gebrandmarkt. In den 1930er Jahren wurde es für den Jazz angesichts der politischen Entwicklung auch in Österreich sehr ungemütlich. Die absoluten Top-Stars wie Louis Armstrong oder Duke Ellington traten nun zwar in mehreren europäischen Ländern wie England, Holland, Frankreich oder der Schweiz auf, in Deutschland und Österreich konnte man sie aber erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bewundern.

Nicht alles, was sich damals hierzulande Jazz nannte oder als solcher verkauft wurde, war tatsächlich Jazz. Aber der Funke der Begeisterung für diese Musik war von Amerika auf Europa übergesprungen. Amerikanische Jazzplatten fanden reißenden Absatz, bekannte Protagonisten dieser Musik kamen über den großen Teich und europäische Musiker übten sich in der Improvisation. Und bedeutende Komponisten wie Milhaud oder Ravel ließen sich vom Jazz beeinflussen.

Die 1920er Jahre werden auch das "Jazz Age" genannt. Diese Bezeichnung geht auf den amerikanischen Schriftsteller F. Scott Fitzgerald zurück. Damals begann das Zeitalter der Massenkommunikation mit der Expansion von Film, Radio und Schallplatte. Diese neuen Massenmedien waren natürlich für die Verbreitung des Jazz von eminenter Bedeutung. Übrigens war der erste amerikanische Tonfilm, der im deutschsprachigen Raum gezeigt wurde, 1929 in Berlin "The Jazz Singer" mit dem weißen Broadway-Star Al Jolson, der schwarz geschminkt einen Afroamerikaner mimte.

Mit Jazz im engeren Sinn hatte dieser Streifen ebenso wenig zu tun wie die Auftritte der Unterhaltungskünstlerin Josephine Baker. Aber der Film bot Broadway-Sound mit Jazzanklängen und bereitete damit so wie die Baker-Auftritte dem "echten" Jazz den Weg zu einem breiten europäischen Publikum. Schon Anfang der 1920er Jahre hatte der Schriftsteller Klaus Mann über die Jazz- und Tanzbegeisterung der Deutschen und Österreicher geschrieben: "Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult."

Popstar-Status

Einer, der sehr früh auf dieser Stimmungswelle surfte und in Europa große Erfolge feierte, war der englische Bandleader Jack Hylton. Er tourte 1927/28 auf dem Kontinent, wobei er auch in Österreich Station machte. Bis in die 1960er Jahre blieb Hylton ein gefeierter Orchesterchef, dessen Begeisterung für den Jazz auf dem Konsum von Schallplatten des amerikanischen Orchesters von Paul Whiteman in den frühen 1920ern fußte.

Der Jazz, vor mehr als 120 Jahren in den Spelunken des amerikanischen Südens entstanden, war ursprünglich Unterhaltungsmusik. Seine größte Popularität erreichte er in der Big-Band-Ära der 1930er Jahre. Die Orchester von Benny Goodman, Glenn Miller oder Count Basie hatten nach heutigen Maßstäben Popstar-Status.

Mit dem im Vergleich zum Swing komplexeren Bebop-Stil, der in den 1940er Jahren von Musikern wie Charlie Parker oder Dizzy Gillespie kreiert wurde, wandelte sich der Jazz endgültig zur Kunstmusik, wenngleich der Kornettist Louis Armstrong mit seinem epochalen Solo in einer Aufnahme des "Westend Blues" schon in den 1920ern eine Markierung in diese Richtung gesetzt hatte. All das erlebten die Österreicher ab 1945, als nach Lionel Hampton und Woody Herman alle Jazzgrößen aus den USA hier auftraten. Jazzclubs wie jener des Wiener Klarinettisten Fatty George entstanden, und bald schon kamen Jazzfestivals in verschiedenen Landesteilen in Mode.

Lebender Totgesagter

Der Jazz eroberte Klassiktempel wie das Wiener Konzerthaus, den Musikverein, die Staatsoper oder das Salzburger Festspielhaus. Oft totgesagt, gibt der Jazz nach wie vor kräftige Lebenszeichen von sich, gerade auch in Europa, wo Österreich heute als eines der Länder mit der interessantesten Jazzszene gilt.

Jazz war und ist beides: Unterhaltung und ein künstlerisches Statement des Protestes gegen jede Form von Unterdrückung und Unfreiheit. Und er verändert sich ständig. Schon vor Jahrzehnten bemerkte Joachim Ernst Berendt: "Der Jazz als eine Musik des Aufstandes gegen das allzu Bequeme kann von seinen Zuhörern verlangen, dass sie Maßstäbe, die vor Jahren gültig waren, umdenken und dass sie ständig bereit sind, neue Maßstäbe zu finden."

Johannes Kunz, geboren 1947, war von 1973 bis 1980 Pressesprecher von Bundeskanzler Bruno Kreisky und von 1986 bis 1994 ORF-Informationsintendant. Autor mehrerer Bücher zu politischen Themen und Jazz.