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Verbannte Blicke

Von Adrian Lobe

Reflexionen
Bereits vor dem Zeitalter des gläsernen Menschen war es nicht immer einfach, sich vor neugierigen Dritten zu schützen.
© getty images / Ivan Bliznetsov

Die Privatsphäre verdankt sich historischen Erfindungen wie Rauchfang oder Badezimmer. Eine kleine Kulturgeschichte.


In der Tate Modern in London gibt es eine Aussichtsplattform, von der der Besucher einen fantastischen Ausblick auf die Millionenmetropole an der Themse hat: St. Paul’s Cathedral, Canary Wharf, Wembley-Stadion. Der Gast bekommt aber nicht nur ein Panorama der Sehenswürdigkeiten geboten, sondern auch private Einblicke in das Leben der Bewohner eines Luxus-Apartment-Komplexes, der sich in rund 30 Metern Luftlinie gegenüber befindet. Tische, Sessel, Anrichten - man sieht die gesamte Inneneinrichtung der Wohnungen. Und natürlich, was die Bewohner den ganzen Tag darin so tun.

Verärgerte Eigentümer

Als das Wohnprojekt Bankside Neo im Londoner Süden 2012 fertiggestellt wurde, gab es noch keine Gaffer in direkter Nachbarschaft. Entsprechend wurden die Wohneinheiten mit großzügigen, bodentiefen Fenstern verglast. Als vier Jahre später die vom Schweizer Architekten-Duo Jacques Herzog und Pierre de Meuron entworfene Besucherterrasse eröffnete, begannen die Probleme: Die Museumsbesucher lugten in die Wohnungen hinein, machten obszöne Gesten und posteten fröhlich Fotos in sozialen Medien.

Die Wohnungseigentümer waren verärgert. Zwei Millionen oder noch mehr Pfund dafür, dass man sich von 500.000 Museumsbesuchern im Jahr auf den Frühstückstisch schauen lässt und wie in einer Zelle in einem Panoptikum lebt? Ein anonymer Bewohner schimpfte, er fühle sich wie im Zoo, eine Bewohnerin klagte, sie stünde permanent unter Beobachtung und verspüre den Zwang, sich "angemessen zu kleiden". Das Hinweisschild auf der Plattform, man möge die Privatsphäre der Nachbarn respektieren, konnte die voyeuristische Begierde der Besucher nicht stoppen. Also klagten die Eigentümer auf Unterlassung.

Es kam zum Prozess. 2019 lehnte ein Gericht die Klage mit der Begründung ab, die Anwohner könnten - quasi als "privacy by design" - ihre Sonnenmarkise herunterlassen oder Vorhänge installieren. Doch die Bewohner wollten dem nicht folgen und klagten sich durch alle Instanzen - bis zum Obersten Gericht. Das gab den Klägern recht und entschied Anfang des Jahres, die Besucherplattform stelle ein "konstantes visuelles Eindringen" in den privaten Lebensbereich der Bewohner und damit eine Störung des Wohngebrauchs dar. Die Aussichtsplattform wurde auf richterliche Anordnung für Besucher vorübergehend gesperrt.

Ein Teil der Tate Modern (rechts) und das Wohnprojekt Bankside Neo.
© Fred Romero from Paris, France, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

Der panoptische Blick ist ein Symbol der Transparenzgesellschaft, in der jeder Bürger gläsern ist. Doch auch wenn digitale Technologien die heiligen Mauern der Intimität längst durchbrochen haben und die Apologeten der Post-Privacy-Bewegung weiter behaupten, Privatheit sei ein Relikt der Vergangenheit, sind die Wohnräume etwas, was man der Öffentlichkeit verbergen möchte - eine Trutzburg, in die sich das Neo-Biedermeier vor den Wirren der Spätmoderne zurückzieht. My home is my castle.

Gewiss, man gewährt durch das Schlüsselloch sozialer Medien tiefe Einblicke in sein Privatleben. Aber die meisten wollen - und das unterscheidet die sendungsbewusste Community von den Kommunarden der 68er-Bewegung - die Tür dann doch wieder schließen, wenn die private Vorstellung vorbei ist. Der kuriose Gafferfall macht aber auch deutlich, dass Privatsphäre von analogen, nämlich baulichen Voraussetzungen abhängt, die schon lange vor der Konzeptualisierung der Privatsphäre Gegenstand von Streitigkeiten waren.

Beschwerdegründe

So ist im London Assize of Nuisance, einer Art Beschwerdeprotokoll des mittelalterlichen Londons, in einem Eintrag vom 13. Juli 1341 zu lesen: "Isabel, die Witwe von John Luter, beschwert sich, dass John Trappe, genannt ,skynerre‘, der ein an ihren Garten angrenzendes Haus in der Gemeinde St. Stephen de Walbrok besitzt, vier Fenster mit gebrochenen Glasscheiben hat, durch die er und seine Diener in ihren Garten blicken können." "Dieselbe Isabel", heißt es weiter, "beschwert sich, dass John le Leche, der Fischverkäufer, einen bleiernen Wachturm über der Mauer seines an ihr angrenzenden Anwesens in derselben Gemeinde hat, wo er und seine Haushaltsmitglieder täglich stehen und die privaten Angelegenheiten (private affairs) der Klägerin und ihrer Diener beobachten."

Die Witwe Isabel war damals wohl etwas, was man heute eine Querulantin nennen würde. Telefon und Internet-Beschwerdeportale gab es damals freilich noch nicht, also musste man sein Anliegen persönlich bei einem Alderman, einem Mitglied des Stadtrats, vorbringen. Und Beschwerdegründe gab es zahlreiche: Latrinen, die zu dicht an Mauern gebaut wurden. Abwasser, das vom Nachbargrundstück auf das eigene Grundstück fließt. Oder rücksichtslose Nachbarn, die über den eigenen Garten trampeln - das Beschwerdeprotokoll böte genügend Fallbeispiele für jedes juristische Lehrbuch zum Bau- und Mietrecht.

Frühes Zeugnis

Die Chronik ist insofern interessant, als sie nicht nur nachbarschaftliche Streitigkeiten im mittelalterlichen London dokumentiert, sondern auch ein frühes Zeugnis der Privatsphäre ist. Die Menschen hatten schon damals in den dicht besiedelten Stadtquartieren Londons ein Bedürfnis nach Abgeschiedenheit, einem räumlich geschützten Bereich, der den Blicken der Nachbarn entzogen ist.

Das Frühmittelalter kannte keine strikte Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Es gab keine Intimräume, man teilte sich die Zimmer mit allen Bewohnern, und es konnte sein, dass in einem Raum gleichzeitig gekocht, gegessen, gelesen und geschlafen wurde. Das Einzige, was der heutigen Vorstellung von Privatsphäre nahekommt, waren Truhen, in denen persönliche Kleider aufbewahrt wurden. Die Familien wohnten eng an eng, nächtliche Ruhestörungen und Indiskretionen waren an der Tagesordnung. "Im London des 14. Jahrhunderts", schreibt der Historiker David Vincent in seiner Abhandlung "Privacy: A Short History" (2016), "war Privatsphäre ein knappes und umkämpftes Gut." Es sei weder ein Besitz noch ein verbrieftes Recht gewesen, sondern eher ein Anspruch, dessen Erfüllung gegen andere berechtigte Interessen ausgehandelt werden musste.

Fensterglas war damals noch sehr teuer und wurde daher vor allem in Kirchen, Münstern oder in Häusern des Adels verbaut. Doch das Bauelement brachte neue Probleme mit sich: Denn wo man rausschauen kann, kann man auch reinschauen. Die Londoner Chronik berichtet, dass einige Anwohner die Fenster, wo das Tageslicht im trüben London einfallen konnte, wieder abdunkelten. Im mittelalterlichen Frankreich legten Vögte und Schildknappen in Verträgen bestimmte Höhen fest, auf der Fenster errichtet werden durften. Die Privatsphäre, wie wir sie heute kennen, verdankt sich einer anderen Erfindung: dem Rauchfang.

Bis zum Frühmittelalter gab es in Häusern nur einen geheizten Raum mit einer zentralen Feuerstelle, um die sich alle Mitglieder eines Haushalts scharten. Der Rauch wurde meist durch ein im Dach befindliches Loch abgeleitet, das nächtens mit einer Klappe verschlossen wurde. Als im 12. Jahrhundert in Europa die ersten Kamine in den Wänden installiert wurden, ließen sich Räume ganz anders nutzen: Die Menschen konnten sich in die beheizten Räume zurückziehen und ihren Mitbewohnern aus dem Weg gehen.

Badewanne statt See

Die neue Technik erlaubte es nicht nur, niedrigere Decken, sondern auch zweistöckig und kleinere Zimmer zu bauen - und schuf damit die architektonischen Voraussetzungen für Foren, Empfangssäle und Salons, die für Jürgen Habermas der Kristallisationspunkt der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit waren.

Die Historikerin Alison K. Hoagland verweist in ihrem Buch "The Bathroom: A Social History of Cleanliness and the Body" (2018) auf einen weiteren Katalysator der Privatsphäre: das Badezimmer. Erst mit der Verlegung von Wasserrohren und Leitungen in Häusern konnte man in seinem eigenen Wohnbereich Wäsche waschen oder seinen Körper reinigen. Badewannen ersetzten Seen und öffentliche Badeanstalten, und statt sich an einem Brunnen Hände und Gesicht zu waschen, verlegte man diese Hygienepraktiken in die eigenen vier Wände. War Baden vormals ein öffentlicher Akt, wurde er durch die Installation von Wasseranschlüssen und Abwassersystemen privatisiert.

Als US-Präsident Thomas Jefferson 1801 ins Weiße Haus einzog, ließ er als eine seiner ersten Amtshandlungen die maroden Donnerbalken abbauen und ein Wasserklosett von einem Händler in Philadelphia beschaffen, um mehr Privatsphäre zu haben. Doch ein eigenes Bad zu besitzen, das man sich mit niemandem teilen muss, war bis ins 20. Jahrhundert ein Luxus, den sich nur wenige wohlhabende Familien leisten konnten. Bis in die 1960er Jahre war es üblich, dass sich Familien beim samstagabendlichen Baderitual das Wasser in der Badewanne teilten, und noch heute findet man in Pariser Wohngebäuden Etagentoiletten. "Privatsphäre", schreibt Hoagland, "ist oft eine Funktion von Wohlstand; je mehr Geld man hat, desto mehr kann man sich separate, private Räume leisten."

Die Privatisierung der Körperhygiene hat jedoch nicht nur mit Privatheit im engeren Sinn zu tun, sondern auch mit Intimität, die mehr über die Scham reguliert wird. Denn mit der räumlichen Abgrenzung suchte sich der Bewohner nicht nur den Blicken des Nachbarn, sondern auch des Ehepartners oder anderer Familienangehörigen zu entziehen.

Brüderlich geteilte Badewanne.
© getty images / Archive Photos / Dennis Hallinan

Je mehr Menschen um einen herum sind, desto mehr Abstriche muss man bei der Privatsphäre machen. In einem Mehrfamilienhaus kann der Nachbar sehen, ob man Reizwäsche auf der Wäscheleine hat, welche Abfälle man in die gemeinsam genutzten Mülltonnen wirft, wann man das Licht ausmacht, was ja auch eine gewisse Sozialkontrolle ermöglicht.

Mit dem Ausbau zum Smart Home wird das Zuhause faktisch auf Werkseinstellungen zurückgesetzt: Es gibt zwar Fenster und Türen, doch künstliche Agenten können sich über die Netze jederzeit ins Zuhause einklinken und Konsum- und Verhaltensgewohnheiten beobachten. Wie lange man fernsieht, was man isst, was man im Kühlschrank hat, wie viel Strom man verbraucht, all das kann analysiert werden.

Das Smart Home ist ein Ort, an dem Daten ein und aus gehen. Die Rückkehr der Diener, die in Gestalt von Dienstleistungsrobotern Einzug in bürgerliche Wohnstuben halten, geht einher mit einem Verlust an Privatsphäre, wobei die digitalen Domestiken wie Siri und Alexa mehr Indiskretionen ihrer vermeintlichen Dienstherren ausplaudern als die Gouvernanten im Zeitalter des Gilded Age.

In Zukunft könnte Privatsphäre wieder ein Privileg der Reichen werden. Fluggesellschaften locken zahlungskräftige Kunden mit "mehr Privatsphäre" in die First Class, wo man eigene Schlafkabinen und Duschen hat. Der durch Sichtwände und Schiebetüren getrennte Nachbar sieht nicht, welches Buch man liest oder welchen Film man schaut. "Jeder Moment gehört Ihnen, weil Schall- und Sichtschutz für kostbare Privatsphäre sorgen", wirbt Lufthansa für seine First Class, die ab kommendem Jahr sogar mit Doppelbetten ausgestattet sein wird.

Die First Class reproduziert nicht nur im Namen, sondern auch räumlich die Stratifikation der Klassengesellschaft. Die erste Klasse logiert, umsorgt von Butlern, hinter dicken Wänden und Vorhängen im Oberdeck, während unten in der Holzklasse der Pöbel in enge Sitzreihen gepfercht wird und sich die Bordtoilette mit 100 weiteren Passagieren teilen muss. Doch ein Flugzeug ist nur eine temporäre Behausung, und Geld allein ist noch kein Garant für Privatsphäre, wie das Beispiel der Luxus-Apartments in London eindrücklich zeigt.

Adrian Lobe, geboren 1988 in Stuttgart, studierte Politik- und Rechtswissenschaft und schreibt als freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum.