Wohnen ist ein menschliches Grundbedürfnis, der dafür benötigte Raum ein Wirtschaftsgut, und sein Preis ein Spielball des Marktes. Damit wird Wohnraum, diese unabdingbare Grundlage des Daseins, zu einer Manövriermasse von gesellschaftspolitischer Brisanz. Für den Bewohner selbst sind die eigenen vier Wände oft eine wirtschaftliche Herausforderung, immer aber eine emotional aufgeladene Zone. Sie sollen ein Bollwerk gegen die Außenwelt bilden, eine Sphäre der Geborgenheit, einen privaten Freiraum abseits gesellschaftlicher Normen.

Die Gestaltung des Wohnraums hingegen sendet sehr wohl Signale nach außen. Sie macht Charakter, Kultur und sozialen Status des Bewohners lesbar. Die Grenzen zwischen Drinnen und Draußen verlaufen mithin fließend - und werden stets aufs Neue unterminiert. So haben etwa Corona-Pandemie, Homeoffice und globale Vernetzung wesentliche Merkmale bürgerlichen Wohnens ausgehebelt: die strikte Trennung von Arbeit und Privatsphäre und die funktionale Festlegung der Räume.

"Räume wie Kleider"

Gerade urbane Wohnverhältnisse erweisen sich seit je auch als ergiebiges literarisches Motiv. Das Mehrparteienhaus liefert Stoff für facettenreiche Kaleidoskope und Soziogramme. Gleich drei Autoren haben sich jüngst der Wohnung - als der prototypischen Unterkunftsform der Stadt - gewidmet. Was macht eine Behausung eigentlich zu einem Zuhause?, fragt etwa der italienische Philosoph Emanuele Coccia (Jg. 1976) in seinem Buch "Das Zuhause. Philosophie eines scheinbar vertrauten Ortes" (Hanser 2022, 160 S., dt. Übersetzung Andreas Thomsen). Der in Paris Philosophiegeschichte Lehrende schöpft aus reicher Erfahrung, verbucht er in seinem bisherigen Dasein doch 30 Wohnungswechsel.

- © Hanser
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Der geometrische Raum oder die Stadt per se seien nicht bewohnbar, so Coccia. Für ein Zuhause brauche es die "Hilfe von Schlafzimmern und Küchen, Stühlen, Schreibtischen, Schränken, Badewannen und Heizkörpern". Ein Zuhause fungiere aber nicht nur als Kokon, es wirke auch auf unser Verhältnis zur Welt, zu den Menschen und Dingen. Die Philosophie habe bisher vor allem der Stadt Beachtung geschenkt, als einem Brennpunkt der Macht und des Spektakels, kaum aber dem häuslichen Raum. Coccia begründet dies mit dem patriarchalischen Gesellschaftsbild und der vorwiegend männlich besetzten Domäne der Philosophie. Das heimische Ambiente galt als Domäne der Frau. Doch gerade diese vernachlässigte Sphäre sei "die Brutstätte der meisten Ideen, die sich auf den Planeten und seine Geschichte ausgewirkt haben".

Es folgen Aperçus zu den Funktionen der Räume, ihrer Auffüllung mit Erinnerungen, Empfindungen und Erfahrungen - und zur Beseeltheit der Dinge. Ein Zuhause sei einerseits eine "Raum-Zeit-Falte, in der auch noch der kleinste Materieklumpen ,Ich‘ sagt", andererseits eine an Moden orientierte Dauerbaustelle. "Wir betreten eine Wohnung, wie wir in ein Kleidungsstück schlüpfen." Daraus leitet der Philosoph die radikale Forderung ab, Wohnungen regelmäßig zu tauschen, eben wie Kleider.

Coccia geht der Frage nach, welche Bedeutung die Wohnung für das menschliche Glück hat, verzichtet aber auf ein philosophiehistorisches Panorama. Er durchwirkt seine Essays mit architekturtheoretischen und autobiografischen Bruchstücken. Da und dort blitzt eine anthropokosmische Perspektive auf oder ein Gedanke zum Hyperraum der Sozialen Medien. Nicht an jeder Stelle vermag der Philosoph zu überzeugen, manchen Ausführungen mangelt es an Stichhaltigkeit, andere wiederum muten ein wenig an wie Literatur aus dem Rayon Lebenshilfe. (Siehe auch das Interview mit Emanuele Coccia zum Thema Pflanzen in der "Wiener Zeitung".)

"Wörterwohnung"

Ein nächster Umzugskünstler aus Italien, Andrea Bajani, führt in seinem "Buch der Wohnungen" (Kampa, Zürich 2022, 301 S., dt. Übersetzung von Maja Pflug) all die Wohnstätten auf, die seinen Lebensweg und die Geschichte seiner Familie prägten. Von sich spricht er als einem "Ich" in der dritten Person. Der Parcours des 1975 in Rom geborenen Übersetzers und Autors beginnt in einer Souterrain-Wohnung "auf einem der sieben Hügel Roms".

- © Kampa
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Hier verbrachte er mit Eltern, Schwester und Großmutter die ersten Lebensjahre; mit im Verband auch die verkörperte Antithese zu seinem Nomadismus: die mit ihrer Bleibe verwachsene Schildkröte. Die Chronologie sprengend, blickt der Autor auf diverse Wohn-Etappen zurück, holt gar bis zur "Ursprungswohnung" im Leib der Mutter aus. Die Familie zieht von Rom ins piemontesische Städtchen Cuneo, der Sohn schlägt seine Zelte danach in Turin auf. Dort errichtet er seine erste Ehewohnung, seine "Wörterwohnung" und die "mobile" Familienwohnung (Auto). All dies bleibt Etappe, wie später auch die "herrschaftliche Familienwohnung", zumal die Ehe scheitert.

Bajanis Panorama ist mit Zeit-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte unterlegt. Es schließt sogar seine Gastspiele in fremden Unterkünften mit ein, etwa das Mädchen-Zimmer einer Mitschülerin ("Sexwohnung"), die "Ehebruchwohnung" seiner verheirateten Geliebten oder seine Pariser Mansardenkammer mit poète-maudit-Flair. Auch Erinnerungsorte der italienischen Geschichte flackern auf. Die "Dichterwohnung" erzählt von Pier Paolo Pasolini, die "Gefangenenwohnung" und die "Rote Wohnung auf Rädern" von Aldo Moros Geiselhaft und Ermordung. Schließlich präsentiert Bajani noch eine Reihe virtueller Habitate: die "Sparwohnung" (Bankkonto), die "Für-immer-Wohnung" (Ehering), oder die "Notizenwohnung". Ihre "Bewohner" warten darauf, als Sätze auf gedruckten Seiten zu reüssieren.

Gelegentlich wechselt der Autor die Perspektive, lässt etwa "die Straße" zu Wohnungsfenstern hochblicken und über das Leben dahinter mutmaßen. Bajanis Wohnungsbilanz liest sich zugleich als Entwicklungsroman, als die Geschichte zerfallender Familiengefüge. Der Auflösungsprozess erfasst auch das Inventar. So landet die Asche von Bajanis 20-jährigen "Irrfahrten" in einem Hangar am Stadtrand, um dort verramscht und Teil neuer "Collagen" zu werden. Ganz unsentimental klingt das nicht. Bajanis Odyssee geht weiter. Zurzeit lebt er in Houston, Texas, wo er Creative Writing unterrichtet.

"Raum-Zeit-Reichtum"

Wohnungen sind wie Palimpseste, überschrieben von immer neuen Geschichten, ohne dass die alten ganz verschwänden. Manche Wohnung trägt auch Spuren dunkler Geheimnisse. Solche aufzudecken, ist etwa Gegenstand des detektivischen Brettspiels Cluedo. In Thomas Clercs leichtfüßig-geistreichem Roman "Interieur" (Matthes & Seitz 2023, 344 S., dt. Übersetzung von Nicola Denis) kehrt das Spiel leitmotivisch wieder. Getreu dem Titel des Buchs, beschränkt sich der französische Schriftsteller (Jg. 1965) auf das Innere seiner Pariser Wohnung, klammert das große Ganze aber nicht aus: "Die Funktionalitäten 1 Wohnung sind (...) auf diskrete Weise politisch, und 1 Grundriss wird noch bis in die letzte Ritze von gesellschaftlichen Prozessen diktiert."

- © Matthes & Seitz
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In sieben Kapiteln, die nach den einzelnen Räumen benannt und in zahlreiche Miniaturen untergliedert sind, geht es durch das 50-m2-Appartement im aufstrebenden 10. Pariser Arrondissement. Thomas Clerc wuchs übrigens in keinem Souterrain der Seine-Metropole auf, sondern in einer Beletage des noblen 16. Arrondissements. Läutete jemand an der Tür der 14-Zimmer-Wohnung, dauerte es eine Weile, bis geöffnet wurde, "sodass sich der Reichtum an der Raum-Zeit bemaß".

Gelegentlich löst ein auktorialer Erzähler den Ich-Erzähler ab, manchmal wird der Leser direkt angesprochen. Die formale Regel, die sich der Autor auferlegt (er schreibt den unbestimmten Artikel "ein" ausnahmslos in Form der Ziffer "1"), erinnert an die Sprachspiele der Schriftstellergruppe "Oulipo".

Clerc lehrt an der Universität Paris-Nanterre Literatur und ist nebenbei als Kritiker und Performer tätig. Sich selbst definiert der poeta doctus als "postkonzeptuellen" Grenzgänger zwischen Kunst und Bürgerlichkeit. Seine Expedition variiert ein von Xavier de Maistre 1794 begründetes Genre, die "Zimmerreise". Auf den Vorgänger nimmt Clerc explizit Bezug. Schalkhaft zitiert er auch aus eigenen Werken. Seine durch Fiktion gebrochene Dokumentation ist reich an Verweisen auf Literatur, Kunst, (Rock-)Musik und Film. Zu besonderen Ehren kommen Frankreichs große Ding- und Raum-Poeten, unter Ersteren etwa Balzac oder Francis Ponge, unter Zweiteren vor allem Georges Perec.

"Gläserne Autobiografie"

Die Entfremdung zwischen Ding und Mensch, wie sie der Nouveau Roman postuliert, scheint in Clercs Privatkosmos überwunden. Sein Interieur ist Bedeutungsträger. Eine "gläserne Autobiografie", ein "irritierendes Psycho-Mosaik" nennt es der Autor - und kann seine Lust am Spiel doch nicht verhehlen. Minutiös schildert Clerc Ausmaße, Beschaffenheit und Ausstattung der Räume. Er nennt Herkunft, Stil, Marke und Preis der Objekte, vermittelt deren "Haptik und Optik".

Er bekennt sein Bedürfnis, den beliebigen Modernismus der Räume durch Trouvaillen vom Flohmarkt und Versatzstücke bürgerlichen Wohnens zu kontrastieren, etwa durch einen pompösen Spiegel oder das ererbte Möbelstück. Gemeint ist ein robuster Schrank, "Zeitgenosse von Rabelais oder Jean Bart (Freibeuter im Dienste des Sonnenkönigs, Anm.).

Der Autor gewährt sogar Einblick ins Innere der Möbel. Sein Spiel mit dem Voyeurismus des "Schubladenlesers" reicht bis zur Offenlegung der Kontoauszüge. Clerc erweist sich als ein Großmeister der (Selbst-)Ironie; seine Guckkastenperspektive ist durchwoben von subtilem Witz. So leuchtet er die Untiefen einer Lade aus, wo sich, zwischen Slips und Socken gebettet, etwa eine Freud-Puppe findet: "Ich sehe nicht, worin ohne Philosophie der Einrichtung der Reiz des Interieurs bestünde." Das gilt auch für den Standort der Champagner-Gläser, ganz unten im Küchenschrank: "Vor dem Champagner in die Knie zu gehen hat gleichzeitig etwas Protestantisches und etwas Gottloses, und aus diesem Grund habe ich an verschiedenen anderen Stellen weitere Gläser aufgestellt mit nicht ganz so lustvoll-jesuitischen Zugangsbeschränkungen."

Aber hat der Autor tatsächlich alle Fäden in der Hand? Wurde sein Interieur nicht von einem Einbrecher durchwühlt? Und ständig dieses mysteriöse Klingeln an der Tür, doch nie steht jemand davor. Auch Clercs Zuhause scheint ein fragiles Konstrukt, ein brüchiges Terrain der krisenhaften Moderne.