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Tour de Force durch antike Philosophien

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen
Thales von Milet, kolorierter Holzschnitt von Michael Wolgemut aus der Schedelschen Weltchronik von 1493 (Ausschnitt).
© ullstein bild-histopics

In einer Monumentalstudie stellt Matthias Perkams die berühmtesten Denkschulen der Frühzeit dar.


Vielfach gilt die antike Philosophie - von den Vorsokratikern über Sokrates, Platon und Aristoteles bis zu den Stoikern und Epikureern - als das Fundament des abendländischen Denkens. In diesen facettenreichen Denkströmungen findet sich ein breites Spektrum philosophischer Themen wie Metaphysik, Naturphilosophie, Logik, Ethik oder Lebensphilosophie. Der an der Universität in Jena lehrende Philosoph Matthias Perkams hat nun eine über tausend Seiten umfassende Studie mit dem Titel "Philosophie in der Antike" vorgelegt, in der er eine trotz des Umfangs gut lesbare, weil übersichtlich gegliederte Gesamtdarstellung der verschiedenen Denkströmungen vornimmt.

Mit der Präsentation des vorsokratischen Denkens, das vom 6. bis zum frühen 4. Jahrhundert vor Christus erfolgte, startet Perkams seine Tour de Force durch die antike Philosophie. Vorsokratischen Philosophen wie Thales von Milet, Anaximander, Heraklit, Parmenides, Anaxagoras oder Empedokles ging es darum, den Urgrund der Welt (arché) - die erste Ursache für die Existenz aller Phänomene - zu bestimmen. Bei der Darstellung der vorsokratischen Denker ist davon auszugehen, dass deren Reflexionen nicht mehr in ihrer Gesamtheit vorliegen, sondern nur als Fragmente oder in indirekter Überlieferung.

Urgrund & ewiges Sein

Am Beginn der vorsokratischen Philosophie steht der Mathematiker, Naturphilosoph und Astronom Thales von Milet. Für ihn war das Wasser der Urgrund, aus dem alles Seiende hervorgeht. Thales beschrieb diesen Urgrund als natürliches Phänomen. Der Thales nahestehende Philosoph Anaximander unterscheidet sich von ihm durch die Annahme, dass das Urprinzip das Unendliche, das Unbegrenzte (apeiron) sei, aus dem die Wirklichkeit entsteht. Anaximenes - der dritte Naturphilosoph, der die Lehre seiner Vorgänger weiterentwickelt und modifiziert - bestimmte die Luft als arché. In weiteren Abschnitten beleuchtet Perkams das Denken von Pythagoras, Empedokles, Anaxagoras und Demokrit.

Ausführlicher geht der Autor auf die beiden Kontrahenten Parmenides und Heraklit ein. Dessen komplexe Theorie vermittelt Vielheit und Einheit: Heraklit bezog sich vorerst auf die kontingente Welt der Phänomene, die stets im Wandel begriffen sind - "Alles fließt" (pantha rei) -, um danach ein einheitliches Prinzip zu suchen, das er im Logos findet: "Alles geschieht nach diesem Logos, aber obgleich er ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen".

Parmenides - Heraklits Gegenspieler - lehnte es ab, sich mit den sich verändernden Phänomenen zu befassen. Er betonte, dass das Sein ewig sei: "Das Sein ist ungeworden, und unzerstörbar; es war nicht und wird nicht sein, denn im Jetzt ist es als Ganzes, Zusammenhängendes". Das Sein kann von den Menschen nicht sinnlich wahrgenommen werden; nur das Denken ermöglicht einen Zugang zum Sein: "Dasselbe ist Denken und Sein."

Im Gegensatz zu den vorsokratischen Philosophen, die den Urgrund der Welt bestimmen wollten, stellte Sokrates den Menschen in den Mittelpunkt seiner philosophischen Tätigkeit. Er habe "die Philosophie als Erster vom Himmel auf die Erde heruntergerufen und unter den Menschen angesiedelt", bemerkte Cicero. Der streitbare Philosoph nimmt in der Geschichte der Philosophie eine ambivalente Rolle ein: Einerseits gilt er als Ahnherr und Begründer der abendländischen Philosophie; andererseits agierte er als Provokateur, der alle gültigen Normen der zeitgenössischen Gesellschaft radikal in Frage stellte.

Von Sokrates zu Platon

Die messerscharfe Entlarvungstechnik der herrschenden Meinung - die Maieutik oder Hebammenkunst - inszenierte Sokrates als Performance auf dem Marktplatz von Athen; Er forderte die Menschen auf, die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken und die "Sorge um sich" zu kultivieren - eine Devise, die bei dem französischen Philosophen Michel Foucault ein spätes Echo findet. Die Selbstsorge korrespondiert eng mit der Aufforderung zu einem Leben in Tugend (areté), "damit die Seele so gut wie möglich sei".

Sokratesbüste im Archäologischen Nationalmuseum Neapel.
© gemeinfrei, via Wikimedia

Platon, der Schüler von Sokrates, gilt als einer der einflussreichsten Denker in der philosophischen Tradition des Abendlandes; sie sei im Grunde nichts anderes als eine Reihe von Fußnoten zu Platon, bemerkte der britische Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead einmal. Platons Produktivität erfolgte auf den Gebieten der Metaphysik und Erkenntnistheorie, der Ethik, der Anthropologie, der Staatstheorie und der Sprachphilosophie. In seinen Ausführungen über die Ideenlehre entfaltete Platon keine systematische Darstellung; sie kann nur aus verschiedenen Passagen der Dialoge rekonstruiert werden. Es handelt sich bei den Ideen um metaphysische Instanzen - "um das wahrhaft seiende Wesen, das reine, immer seiende unsterbliche und in sich stets Gleiche".

Platonische Ideen sind beispielsweise "das Schönean sich", "das Gerechte (an sich)" oder "der Mensch (an sich)". Als Urbilder der einzelnen vergänglichen Sinnesobjekte sind die Ideen die Voraussetzung von deren Existenz. Dies ist den meisten Menschen nicht bewusst, wie Platon im "Höhlengleichnis" ausführt. In der Höhle befinden sich gefesselte Gefangene, die bloß Schattenbilder von Gegenständen sehen, die Menschen hinter einer Mauer vorbeitragen. Die Quelle der Schattenbilder ist ein Feuer, das diese Bilder an die Höhlenwand projiziert.

Platon erwähnte einen Ausweg, um aus der eindimensionalen Welt der Höhle zu entkommen: Sie weist einen Ausgang auf, der zu der von der Sonne beschienenen Welt des Lichts führt, in der sich das wahrhaft Seiende ereignet. Es ist dem Philosophen vorbehalten, den Weg von der Schattenwelt, die Martin Heidegger später als Sphäre des "Man" bezeichnen wird, zu beschreiten, um zu erkennen, dass die Trugbilder der Schatten nur defiziente Phänomene der Ideen darstellen.

Diese Ideen erfuhren eine Hierarchisierung; ihnen wird die Idee des Guten als oberste und voraussetzungslose Instanz übergeordnet. Sie ist, als Grund des Seins, "nicht selber Sein, sondern ragt an Würde und Kraft noch über das Sein hinaus", heißt es in dem Dialog "Politeia". Die Idee des Guten fungiert als unzugänglicher transzendentaler Grund des Seins - "jenseits des Seins". Georg Wilhelm Friedrich Hegel meinte, diese "platonische Abstraktion" könne "uns nicht mehr genügen", denn die Inhaltlosigkeit, welche der platonischen Idee anklebe, befriedige die reicheren philosophischen Bedürfnisse unseres heutigen Geistes nicht mehr.

Genie Aristoteles

Da war Hegel bei diesem (Meister-)Denker ganz anderer Ansicht: "Aristoteles war wohl eines der tiefsten wissenschaftlichen Genies, die je erschienen sind", schrieb er. "Er führt dessen Ausarbeitung des Konzepts der Philosophie als einer methodisch-rational fundierten Suche nach einem wahren, handlungsleitenden Wissen fort", fügt Perkams hinzu. Wie kein anderer Philosoph der Antike verfügte Aristoteles über einen Großteil des Wissens seiner Zeit, das er in verschiedenen Schriften thematisierte - wie in dem Werk "Metaphysik", in dem er als "Erste Philosophie" eine Untersuchung des Seienden vornahm. Dabei bestimmte er die Substanz als Seins- und Erklärungsgrund alles Seienden.

Aristoteles-Porträt in moderner Büste, römische Kopie nach einer Skulptur des Bildhauers Lysipp. Rom, Palazzo Altemps
© gemeinfrei, via Wikimedia

Aristoteles begründete auch die formale Logik, auf deren Basis er eine Wissenschaftstheorie erarbeitete. In seinen naturwissenschaftlichen Texten untersuchte er Verhaltensweisen des Menschen und sogar der Tiere und verfasste Beiträge zur zoologischen Biologie.

Während diese Schriften vornehmend für Philosophiespezialisten geeignet sind, können seine Ausführungen über Ethik noch heute allgemeine wertvolle Anregungen vermitteln. Aristoteles plädierte für eine Ethik, in der das höchste Gut die Glückseligkeit (eudaimonia) des Menschen darstellt. Eine wesentliche Voraussetzung für ein glückliches, erfülltes Leben bestand für ihn in einem vernunftgeleiteten Handeln, das die Leidenschaft und Sinnlichkeit kontrolliert.

Endziel des Handelns

Diese Ausführungen über das höchste Glück lassen nunmehr die Frage auftauchen, welche Lebensformen, welche Lebensstrategien zur Erlangung des höchsten Glücks führen können. Aristoteles unterschied drei Formen der Lebensführung: ein tugendlos-lustvolles Leben, ein verantwortlich-politisches Leben - und ein betrachtend-philosophisches Leben. Es ist unschwer zu erraten, welches davon er für die höchste Lebensform hielt: jawohl, das betrachtende Leben des Philosophen. Denn dieses stellt ein Leben nach der Vernunft dar, befasst sich mit den ewigen, unvergänglichen Dingen und führt zu einer vollendeten Glückseligkeit.

Diese liegt wiederum im tugendhaften Handeln. Wir sind in dem Maße glücklich, wie wir das menschlich Beste in uns verwirklichen. "So scheint also die Glückseligkeit das vollkommene und selbstgenügsame Gut zu sein und das Endziel des Handelns." "Mit Aristoteles wird die Philosophie Theorie, wenn auch eine zur glücklichen Tätigkeit führende Theorie", schreibt der Autor dieser großen Studie.

Weitere Stationen von Perkams’ Expedition sind die Philosophie der Stoiker mit den Protagonisten Epiktet, Marc Aurel und Seneca und der Epikureismus. Während die Stoiker für ein vernunftgeleitetes Handeln eintraten, das vom Streben nach Tugendhaftigkeit geleitet wird, plädierte Epikur für einen gemäßigten Hedonismus, der ihm bei den mittelalterlichen christlichen Theoretikern den Ruf eines Wüstlings eintrug.

Perkams erweitert seine Darstellung der antiken Philosophie noch um Ausführungen über das Judentum, das Christentum, über verschiedene Fachwissenschaften bis zur Gnosis und Kirchenvätern wie Tertullian. Somit präsentiert der gelehrte Philosophiehistoriker ein unglaublich vielfältiges Panorama an Denkströmungen, das - mit den Worten von Johann Wolfgang von Goethe - als "großes Kapital geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet".

Matthias Perkams
Philosophie in der Antike
Von den Vorsokratikern bis zur Schule von Nisibis. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2023, 1.344 Seiten, geb., 100,80 Euro.

Nikolaus Halmer, geboren 1958, Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.