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Ein Preuße mit britischem Pass

Von Oliver vom Hove

Wissen

Der Publizist Sebastian Haffner gehörte zu den maßgeblichen Intellektuellen der Nachkriegszeit. Jürgen Peter Schmied hat eine materialreiche Biographie über ihn veröffentlicht.


Seine "Anmerkungen zu Hitler" waren vor fast dreieinhalb Jahrzehnten der Sensationserfolg auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Zu einer Zeit, da die meisten Deutschen meinten, bereits alles über den brutalsten Verführer und skrupellosesten Tyrannen ihrer Geschichte zu wissen, bot ihnen diese schmale Studie noch einmal die gründlichste und lesbarste Aufklärung. Plötzlich war der 1954 als erfolgreicher Publizist aus der englischen Emigration zurückgekehrte Sebastian Haffner nicht mehr nur der seit Jahrzehnten wortgewaltig wirksame journalistische Begleiter der weltpolitischen Ereignisse. Er stieg, neben Joachim Fest und Golo Mann, zum herausragenden historischen Essayisten der Deutschen auf, dessen Bücher über "Preußen ohne Legende", "Die verratene Revolution 1918/19", "Von Bismarck zu Hitler. Das deutsche Reich 1871-1945", vor allem aber die prägnante, mit großer Empathie geschriebene Churchill-Biographie, nun buchstäblich weggekauft wurden.

Tatsächlich war Winston Churchill als englischer Kriegspremier für den freiwillig emigrierten Feuilletonisten die wichtigste politische Bezugsfigur im Zweiten Weltkrieg, eine Lichtgestalt - sowie Hitler die finsterste Erscheinung blieb. Der promovierte Jurist Raimund Pretzel - so lautete sein wahrer Name - hatte nach dem nationalsozialistischen Ermächtigungsgesetz seinen Wunsch, in Deutschland Richter zu werden, aufgegeben. Als die Nazis seine Freundin und spätere Ehefrau als Volljüdin einstuften, entwich er mit ihr 1938 ins englische Exil. In London wurde er erst Redakteur einer von den Briten finanzierten deutschsprachigen Emigrantenzeitung. Unter der Schirmherrschaft des Verlegers Fredric Warburg begann er 1939, die autobiographische Erzählung "Geschichte eines Deutschen" zu verfassen. Diese hellsichtige Entwicklungsgeschichte des deutschen Verhängnisses blieb unvollendet und wurde, ein Jahr nach dem Tod des Autors aus dem Nachlass herausgegeben, des Autors zweiter großer Publikumserfolg.

St. Marx und St. Hitler

Darin deutete er mit bitterer Ironie den Triumphzug des Hakenkreuzes als Religionsersatz: "St. Marx hatte nicht geholfen. St. Hitler war offenbar stärker. Zerstören wir also St. Marx’ Bilder auf den Altären und weihen wir sie St. Hitler. Lernen wir beten: Die Juden sind schuld, anstatt: Der Kapitalismus ist schuld. Vielleicht wird uns das erlösen."

Haffners Biograph Jürgen Peter Schmied bemerkt dazu: "Wenn Pretzel hier Nationalsozialismus und Kommunismus als politische Religionen beschrieb, dann verwendete er ein zukunftsweisendes Interpretationsmodell, das sich bis heute einer gewissen Beliebtheit erfreut. Freilich stand er mit dieser Einsicht schon damals nicht alleine da. Auch Eric Voegelin oder Raymond Aron haben in den dreißiger Jahren den Begriff der Religion herangezogen, um die beiden totalitären Großsysteme zu erklären. Während aber die beiden politischen Denker zu dieser Erkenntnis in historisch und theoretisch fundierten Analysen gelangten, war Pretzels Deutung eher einer intuitiven Auffassungsgabe sowie einem besonders anschaulichen Stil geschuldet, und damit zwei Fähigkeiten, die ihn Zeit seines Lebens auswiesen."

Um seine in Deutschland gebliebene Familie zu schützen, schrieb Pretzel fortan in England unter dem Pseudonym Sebastian Haffner: Die Salzburger Patrizierfamilie Haffner stand unwissentlich Pate bei dieser Namenswahl, hat doch Mozart seine berühmte Haffner-Symphonie mutmaßlich in deren Auftrag komponiert. Die Wahl des Vornamens indes war eine Hommage an Bach.

Unter diesem Decknamen veröffentlichte der Autor 1940 auch sein erstes Buch: "Germany: Jekyll & Hyde". Am Beispiel der gespaltenen Persönlichkeit von Stevensons Erzählfigur stellte er darin Hitler den Briten als typischen Spieler und künftigen Selbstmörder vor. Bis in die Reihen der Parlamentarier hinterließ die luzide politische Analyse Eindruck. Thomas Mann suchte sie in Amerika bekannt zu machen, und Churchill veranlasste, dass das Buch seinen Ministern im Kriegskabinett zur Pflichtlektüre vorgelegt wurde.

Seit Ende 1942 war Haffner, auch dank seiner Freundschaft mit dem Herausgeber-Sohn David Astor, Mitarbeiter der angesehenen Londoner Sonntagszeitung "The Observer". Dieses älteste englische Wochenblatt erschien in einer Auflage von 250.000 Exemplaren und zählte einen Gutteil der politischen und intellektuellen Elite des Landes zu seinen Autoren, darunter George Orwell, der anfangs Haffners englisch verfasste Artikel aufpolierte.

Haffner erklärte den Engländern im "Observer" den Kriegsgegner und machte sich früh daran, über mögliche Friedenskonzepte nachzudenken. Seitdem er unter dem Titel "United States of Europe?" im August 1942 in der Zeitschrift "World Review" seine Gedanken zu einem vereinigten Nachkriegseuropa dargelegt hatte, hielt er in dieser Frage Kurs. "Wenn die Welt eine neue Balance und Stabilität und dadurch eine Aussicht auf dauerhaften Frieden und Wohlstand erhalten soll, muss Westeuropa ein integriertes Ganzes werden, um es mit Amerika, Russland und China aufnehmen zu können", schrieb er Mitte September 1945 im "Observer".

In Europa unterwegs

Im Herbst 1953 schickte der "Observer"-Herausgeber David Astor seinen Starredakteur auf Europa-Tour. Unter dem Titel "Zwischen den Fronten des Kalten Krieges" berichtete Haffner, der 1948 die englische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, in einer dreiteiligen Artikelserie über Schweden, Deutschland und Österreich. Leitthema war eine mögliche Neutralisierung Mitteleuropas, um die Spannungen zwischen den Machtblöcken in Ost und West abzubauen. Lobend schrieb der Autor damals aus Wien: "Historisch gesehen, scheint mir, ist Österreich gegenwärtig dem Rest Europas um 25 Jahre voraus (mit Ausnahme Schwedens, das um 150 Jahre voraus ist)." Haffner zeigte sich gegenüber seinen englischen Lesern beeindruckt von der erstaunlichen Zusammenarbeit von Sozialisten und Konservativen in der Wiener Regierung, vom wirtschaftlichen Aufschwung und von dem beachtlichen Spielraum, den sich die Diplomaten vom Ballhausplatz seit Kriegsende freigeräumt hatten. Über Julius Raab vermerkte der "Observer"-Chronist anerkennend, dass "der österreichische Kanzler heute, ohne dass er jemanden um Erlaubnis bitten muss, freie und ungehinderte Kontakte zu Russland unterhalten kann, während die Regierungschefs anderer und größerer Länder solche diplomatische Freiheit nicht genießen." Das war als Wink mit dem Zaunpfahl für den von ihm sons so bewunderten Premierminister Churchill gedacht, der zögerte, ein angestrebtes Gipfeltreffen mit den Sowjets stattfinden zu lassen.

Jürgen Peter Schmieds großflächige Biographie, die erstmals sämtliche verfügbaren Archiva-lien einbezieht, stellt eine ebenso verdienstvolle wie unverzichtbare Fleißaufgabe dar. Allerdings ist sie gespickt mit nachträglichen Belehrungen und Besserwissereien des Politikhistorikers, die das Wesen eines beherzt zupackenden Meinungsjournalismus verkennen: nämlich Erkenntnis ad hoc et nunc zu formulieren. Zuweilen lässt der Biograph seinem Protagonisten gegenüber eine geradezu eifersüchtige Abneigung erkennen: "Haffners spektakulärste Gedankenflüge waren in der Regel mit der kurzen Halbwertszeit eines Geniestreichs behaftet und konnten von ihrem Schöpfer jederzeit unvermittelt fallengelassen werden, sei es, dass sie ihm gerade nicht in die Argumentationslinie passten, sei es, dass sie von einer noch brillanteren Eingebung verdrängt wurden." Da wirkt es beinahe beruhigend, wenn Schmied immerhin zugesteht, "dass Haffner es meisterhaft verstand, komplexe Sachverhalte sprachlich auf den Punkt zu bringen".

Haffners vermeintlich abrupte Meinungswechsel waren vielfach den drastischen Richtungsänderungen der internationalen Politik geschuldet. So blieb der Publizist beispielsweise in den fünfziger Jahren, auch angesichts der immer bedrohlicher angehäuften Atomwaffenarsenale, der leidenschaftliche Advokat einer umfassenden Verständigungspolitik - bis die Sowjetunion 1958 mit der als "Berlin-Ultimatum" bekannten Aufkündigung des Viermächtestatus ihren Griff nach der ehemaligen Reichshauptstadt unmissverständlich verstärkte. Nun riet er zur Unnachgiebigkeit und einer Politik des Abwartens. Damit seien bei ihm, tadelt Schmied, "mit einem Mal alle Zweifel an der Logik der atomaren Abschreckung verstummt." In Wahrheit sah Haffner voraus, dass die "nächsten fünfzig Jahre" durch "zunehmende Machtstreuung, wechselnde Kombinationen und begrenzte Kriege für begrenzte Ziele" gekennzeichnet sein werden und "ein universaler Selbstmord höchstwahrscheinlich vermieden werden wird". Mehr Weitblick konnte ein überzeugter Kommentator 1959 nicht aufbieten, um sich ein halbes Jahrhundert später von der politischen Entwicklung glänzend bestätigt zu sehen.

Nach dem Bau der Berliner Mauer verließ der Kalte Krieger Haffner nach und nach den Konfrontationskurs gegenüber dem Osten und setzte auf Verständigung. Heftig griff er nun auch in die innenpolitischen Debatten in Deutschland ein, nicht nur schriftlich, sondern obendrein als Dauergast im Fernsehen. Aufsehen erregte seine scharfe Stellungnahme gegen den damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß in der "Spiegel"-Affäre. Bald danach trennte sich Haffner von den Blättern der Springer-Presse und wurde Kolumnist bei der Illustrierten "Stern" sowie Buchrezensent bei "Konkret".

Ruck nach links

Als es während der Studentenbewegung 1968 zu massiven Polizeiübergriffen kam, gab Haffner jede bürgerliche Zurückhaltung auf und stellte sich entschieden auf die Seite der aufbegehrenden Jugend: "Man muss sich nach links legen können, wenn das Boot rechts zu kentern droht, und nach rechts, wenn es Schlagseite nach links bekommt", paraphrasierte er Thomas Mann.

Freilich konnte er nicht umhin, sich über manche "Ikarusflüge nach Utopia" zu mokieren. So schrieb er der Neuen Linken im Jänner 1968 ins Stammbuch: "Sozialismus ist überhaupt etwas Prosaisches. Es ist der Irrtum - scheint mir - vieler Revolutionäre, ihn für etwas Begeisterndes und Aufregendes zu halten. Der Kapitalismus ist viel aufregender, viel abenteuerlicher und unterhaltender. Er produziert ständiges Auf und Ab, Krisen, Überraschungen und Sensationen, allerdings auch manchmal Katastrophen. Der Sozialismus ist nüchtern, solide, schwerfällig, vernünftig und spießbürgerlich."

Dem bildungsbürgerlichen Fundus einer Erziehung im Berliner Haushalt seines reformpädagogisch orientierten Lehrervaters Louis Pretzel entsprang laut Schmied "jene spannungsvolle Mischung aus Liberalität, Vernünftigkeit und altpreußischem Idealismus", die den 1907 geborenen und 1999 verstorbenen Publizisten ausgezeichnet hat. Uwe Soukup, sein erster Biograph, schrieb 2002 in einem Essay treffend: "Haffners Bücher waren immer Ausdruck seiner persönlichen Lebenssituation und seiner politischen Überzeugungen. Aber es ist wohl so: Etwas an diesem Leben fasziniert die einen, verstört die anderen."

Jürgen Peter Schmied: Sebastian Haffner. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2010, 683 Seiten, 30,80 Euro.Oliver vom Hove, geboren in Großbritannien, lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.