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Freiheit ist machbar

Von Clemens M. Hutter

Reflexionen

Die "Umsturz GmbH", die aus der jugoslawischen "Otpor"-Bewegung hervorgegangen ist, berät heute die Widerstands- und Freiheitsbewegungen der arabischen Welt.


Ein Kernsatz des Kommunistischen Manifests von 1848 zeitgemäß abgewandelt: "Ein Gespenst geht um in der arabischen Welt, das Gespenst der gewaltlosen Revolution." Dieses Gespenst verscheucht berühmte Rezepte. Etwa Mao Zedong: "Politische Macht kommt aus Gewehrläufen." Oder Bin Laden: "Unterdrückung kann nur durch einen Kugelhagel beendet werden."

Fünf knapp 25-jährige Belgrader Studenten setzten dieses Gespenst 1998 im Kampf gegen das Regime Milošević in die Welt, tauften es "Otpor" ("Widerstand"), entwickelten aus ihren Erfahrungen und jenen der unblutigen Wende in Osteuropa ein System der gewaltlosen Revolution, stellten ab 2005 "Lehrbücher" ins Internet und bauten das wissenschaftliche Institut "Canvas" auf. Weil es gewaltfreie Revolutionäre ausbildet, bekam es von der verblüfften Welt auch den Namen "Umsturz GmbH". Ihre Lehrbücher sind die geheimen Bestseller im arabischen Raum.

Als alle Welt Anfang Februar die Demonstrationen Hunderttausender auf dem Tahrirplatz in Kairo staunend am Bildschirm verfolgte, feierte Otpor in Belgrad einen Triumph: Soldaten schossen nicht auf die Massen, sondern liefen zu ihnen über, und Hunderttausende Fäuste reckten sich in die Luft - die Faust ist Otpors Logo.

Mobilisierung des Volks

Gewaltfreie Revolution setzt nicht auf Guerilla und Terror, sondern auf Mobilisierung eines unterdrückten Volks. Dann entsteht nach Lenins klassischer Definition eine revolutionäre Lage, "weil die unten nicht mehr tun, wie sie sollen, und die oben nicht mehr können, wie sie wollen". Daraus folgerte Mao: "Wir ersäufen die Ausbeuter in den Volksmassen."

Damit sich Widerstand entwickelt, bedarf es nach Mao einer "Kristallisationsparole", die alle Formen jener Unterdrückung plakativ bündelt, unter der alle Schichten des Volkes gleichermaßen leiden. Menschen kämpfen und opfern sich für Ziele, die für ihren Alltag bedeutend sind.

Damit Menschen das Gefühl der Hoffnungs- und Hilflosigkeit überwinden, muss man den Gehorsam brechen, denn "Gehorsam ist das Herz der politischen Macht". Die Macht der Diktatoren gründet aber u. a. in Polizei, Armee, Geheimdienst, willkürlicher Justiz und Kontrolle der Medien - und in auffallender Belohnung besonders Gehorsamer. Verweigert das Volk den Gehorsam und geht das Fass des Unmuts über, dann gewinnt mobilisierter Widerstand seine Legitimation. Es bedarf nur noch einer Organisation und Strategie. An diesem Punkt trennen sich die Wege der "üblichen" und der gewaltfreien Revolution: Keine "Militarisierung" des Widerstandes gegen einen militärisch überlegenen Gegner. Che Guevara missachtete das: Er meinte, man solle nicht auf eine revolutionäre Stimmung warten, denn "ein Aufstand Bewaffneter schafft sie". Deshalb scheiterte er in Bolivien, Lamarca in Brasilien, die Montoneros in Argentinien die Baader-Meinhof-"Stadtguerilla" in Deutschland. Hingegen "ersäuften" die Massen in Tunesien und Ägypten repressive Regimes.

Strategische Planung

Aktiver Widerstand setzt den "konspirativen" Aufbau einer Organisation voraus und erfordert nüchterne Analysen: Welche soziale Schicht ist aus Selbstinteresse dem Regime (nicht) loyal, wessen Interessen vertritt das Regime (nicht)? Denn gewaltloser Kampf ist nur möglich, wenn das Ziel "Freiheit" über alle Teilinteressen hinweg das Volk eint. Und wie fällt der strategische Vergleich der Stärken und Schwächen beider Seiten aus? Erst diese strategische "Bestandsaufnahme" ermöglicht detaillierte Planung und die Werbung fähiger Aktivisten, ehe dieser "revolutionäre Kern" die Mobilisierung des Volkes aufnehmen kann. Ohne präzise Planung bliebe eine Kampagne "nur eine Liste schöner Wünsche".

Planung braucht viel Zeit. Offensichtlich setzten die gewaltfreien Revolutionäre in Tunesien und Ägypten das Belgrader Modell sehr gründlich und intelligent um. Sie brauchten Jahre von der "Infektion" zur "Inkubation", ehe der Massenprotest ebenso überraschend wie gut organisiert losbrach. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in Teheran Nervosität grassiert, seit die Anleitung zur gewaltlosen Revolution auf Farsi den Iran über das Internet infiziert.

Gewaltloser Widerstand muss sich gegen "Vergiftung" vor allem durch Geheimdienste schützen. Diese analysieren das Muster des üblichen Verhaltens von Personen und Gruppen, rekrutieren Spitzel und versuchen es mit Unterwanderung. Deshalb machen Kontakte nur zwischen Aktivisten verdächtig. Hingegen wecken Veränderungen der üblichen Aktivitäten Aufmerksamkeit. "Nimm immer an, dass du beobachtet wirst, dann brauchst du dich nie zu fürchten." Ebenso "vergiftend" wirkt, sich zu Gewaltanwendung provozieren zu lassen, irgendjemandes Eigentum zu zerstören oder Sabotage zu betreiben. Das raubt dem Widerstand die Legitimität und liefert dem Regime einen Vorwand, noch härter zuzuschlagen.

Die Mobilisierung des Volkes bedarf einer "Kristallisationsparole". Ein klassisches Beispiel dafür ist der Zündfunke der mexikanischen Revolution von 1910 - "Land und Freiheit". Griffige Parolen stellen Missstände, Sorgen und Ängste heraus, die alle Schichten gleich betreffen: Bauern und Studenten, Arbeiter wie Intellektuelle und sogar die "Säulen des Regimes" - jene Organisationen, "die soziale Funktionen haben".

Das Regime sichert diese Transmissionsriemen seiner Macht mit Korruption und Privilegien und bestraft Ungehorsam, um funktionsfähig zu bleiben. Repressive Regimes haben nämlich "keine Freunde, sondern nur Interessen". Folglich gewährleisten die Zwangsmittel Militär, Polizei und Geheimdienste die Kontrolle über Justiz, Bildungssystem, Medien, Wirtschaft und den bürokratischen Apparat. Erodieren diese Säulen, bricht das Regime zusammen. Mithin bringt eine gewaltlose Revolution Vorteile für alle.

Zur Mobilisierung des gewaltlosen Widerstands nennt die "Umsturz Gmbh" ein einfaches Rezept: "Man kann kein Produkt verkaufen, wenn man einen Interessierten nicht binnen zehn Minuten überzeugt, dass er es unbedingt benötigt." Also erkläre man den Menschen bündig, dass ein Diktator nicht herrschen kann, wenn ihm das Volk den Gehorsam aufkündigt.

Damit die Erosion dieser Säulen gelingt, operiert Gewaltfreiheit defensiv: "Nicht in die Säulen eindringen, sondern Personen herausholen. Abnützen der Loyalität jener, die das Regime stützen." So könnten Soldaten den Schießbefehl auf Demonstranten verweigern, Bürokraten die Verwaltung hemmen, Arbeiter und Techniker in Transport oder Kommunikation unnötige aber zeitraubende "Reparaturen" einschieben und Lehrer statt der verordneten "Ideologie" unverdächtige Werte behandeln. Das strategische Ziel lautet also "Nicht-Kooperation" erst an vielen Punkten im Kleinen und schließlich durch Streiks. Denn noch immer wirkt das alte Rezept der Arbeiterbewegung: "Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will."

Für den Übergang von der Mobilisierung zur gewaltlosen Aktion gilt: "Wer gewinnen will, muss in die Offensive gehen", weil "Passivität nichts ändert". Also muss Protest zu konkreten Aktionen führen: Besetzung von Amtsgebäuden, Blockade der behördlichen Kommunikation u. a. durch eine Flut von Emails und Anrufen sowie Blockaden des Verkehrs durch Massendemonstrationen.

Als besonders publikumswirksame Methode empfiehlt die "Umsturz Gmbh" die "Dilemma-Taktik": Man fordere die Aufhebung einer allgemein bedrückenden Schikane, und schon steckt das Regime im Dilemma, klein beizugeben oder aber hart zu reagieren. In beiden Fällen verliert es Legitimität und der Widerstand gewinnt Anhang.

In ein klassisches Dilemma manövrierte Gandhi 1930 die britische Kolonialmacht, deren Salzmonopol die Inder als teure und demütigende Unterdrückung empfanden. Also organisierte Gandhi den gewaltlosen "Salzmarsch" der Massen zu den Küsten, wo sie Meerwasser kochten, bis Salz "gratis" übrig blieb. Hätte die Kolonialmacht nichts getan, hätte sie das Monopol und Steuern verloren. Aber sie verhaftete Gandhi und Hunderte Aktivisten, schuf damit Helden und blamierte sich vor aller Welt.

Kommunikationsnetze

Für die "Umsturz GmbH" zählen nicht "Absichten, sondern Fähigkeiten" wie ein clever angelegtes Kommunikationsnetz über Internet und Handy, damit Aktivisten die Menschen in ihrem Wohnviertel "aus dem Nichts" zu Massendemonstrationen mobilisieren können. Deren geheim gehaltenen Zeitpunkt und Ort bestimmt die Führung des Widerstands. Jede Aktion bedarf aber strenger Disziplin: Niemand lässt sich zu Gewaltakten provozieren.

Gegen Polizisten, Soldaten oder Anhänger des Regimes tritt man nie bedrohlich auf, vielmehr sucht man mit ihnen das freundliche Gespräch. Das sicherte der "Nelkenrevolution" von 1974 in Portugal den Erfolg: Die Armee lief zum Volk über und steckte rote Nelken statt Patronen in die Gewehrläufe.

"Wer Schwierigkeiten macht, bekommt Schwierigkeiten." Mit dieser Drohung verschärft das Regime das Risiko. Verhaftungen schaffen eine Atmosphäre durchdringender Angst und zielen darauf ab, einen Keil zwischen Aktivisten und Volk zu treiben. Den Verhafteten drohen Verhöre, Folter, harte Strafen und sogar "Sippenhaft". Das bringt den gewaltlosen Widerstand in ernste Gefahr. "Aber es ist keine Schande, Gefangener zu sein, der freiwillig und trotz des Risikos für Freiheit und Demokratie gekämpft hat. Das demonstriert Tapferkeit." Solcher Mut stärkt die Moral der Anhänger, kann Militär und Polizei beeindrucken, Überläufer motivieren und entscheidende Säulen des Regimes korrodieren - wie in Tunesien und Ägypten geschehen.

Gleichwohl hat die "Umsturz GmbH" keine konkreten Anweisungen für den Fall, dass ein repressives Regime alle Gewaltmittel brutal gegen Massenproteste einsetzt. Sie rechnet aber mit Unterstützung der Demokratien. Ebenso wenig schlägt sie konkret vor, was mit der errungenen Freiheit zu machen sei, wenn der siegreiche Widerstand wieder in unterschiedliche Gruppeninteressen zerfällt. Die errungene Freiheit schafft nicht automatisch Arbeitsplätze, sie lindert weder Armut noch Elend. Das Volk sieht sich in seinen überzogenen Erwartungen enttäuscht und demonstriert abermals - wie in Tunesien oder Ägypten.

Das ist der "Umsturz GmbH" nicht anzulasten. Sie erkämpft die Freiheit auch für jene, die dann vor der schwierigen Aufgabe stehen, einem befreiten Land demokratische Strukturen als Voraussetzung für materiellen Fortschritt einzuziehen.

Das Buch "Nonviolent Struggle - 50 Crucial Points. A Strategic Approach to Everyday Tactics" ist im Internet zugänglich unter: www.canvasopedia.org/

Clemens M. Hutter, geboren 1930, war bis 1995 Ressortleiter "Ausland" bei den "Salzburger Nachrichten" und ist Autor zahlreicher Bücher.