
Meine engere Heimat war die Krim. Nicht etwa die ukrainisch-russische Schwarzmeer-Halbinsel, sondern jener Ortsteil des neunzehnten Wiener Gemeinde-Bezirks, der zwischen Sieve-ringer Straße, der Vorortelinie und Glanzing liegt und dessen Name vermutlich auf den Gastwirt Johann Grimmer (!) in der Krottenbachstraße zurückgeht. Einst ein mehr als bescheidenes Vororte-Pflaster, dann eine Arbeiter-Hochburg, schießen heute in "Döblinger Bestlage" fünfstöckige, oft grotesk schmal anmutende Bauten aus den Gruben, welche die niedergerissenen Fuhrwerkshäuser hinterlassen haben.
In den Sechzigerjahren indes lebten dort in kleinen, meist nur ein- oder zweistöckigen Häusern Arbeiter, Angestellte, Gewerbetreibende und Handwerker. Die meisten davon sind heute verschwunden, ebenso wie die Fabriken mit den stolzen Namen Danubia (Strom-Zähler), Graef & Stift (KFZ), Schauer (Uhren) oder Bensdorp (Kakao). Der Charakter dieses Industrie-, Garten- und Gewerbeviertels hat sich dramatisch verändert - nicht wirklich zum Besseren. Denn die überteuerten Wohnghettos produzieren vor allem Verkehr. Jeden Morgen wälzen sich PKW-Kolonnen Richtung Innenstadt, jeden Abend kommen sie zurück.
Neben Thomas Bernhard
Anfang der Sechzigerjahre herrschte noch ein postindustriell angehauchtes Idyll mit Fabriken, zahlreichen wilden Gärten und wenig Verkehr. Wir wohnten in der Obkirchergasse, nur zwei Häuser neben dem Wiener Wohnsitz von Thomas Bernhard. Als ich zur Welt kam, schrieb er dort gerade in der Wohnung seines "Lebensmenschen", Hedwig Stavianicek, die Endfassung von "Frost" in einem heißen Sommer. Wahrscheinlich bin ich ihm öfters begegnet. Er kaufte sich von einem Preisgeld den gleichen Wagentyp wie mein Vater, einen Triumph "Herald". Seiner war rot-weiß, unserer gelb-weiß lackiert. Die kleinen englischen Benzin-Brüder lebten nicht lange. Bernhard vernichtete sein Fahrzeug in Kroa-tien, mein Vater verlor seines an einen Betrunkenen, der vom Heurigen heimfuhr und den "Triumph" gegen einen Baum drückte. Für uns Kinder erwies sich das als Vorteil, weil der 1965 erworbene "Fiat 1500" ungleich mehr Platz auf der braunen Skai-Rückbank bot.
Als Kind glaubte ich, dass unsere Gasse nach der Krim-Kirche Judas Thaddäus benannt sei und wunderte mich darüber, da unsere Wohnung unterhalb und nicht "ob" der Kirche lag. Hingegen war die in der Hofzeile gelegene Sankt Paul-Kirche viel zu weit weg, um den Ortsnamen zu rechtfertigen. Eines Tages fand ich heraus, dass "Obkircher" der Eigenname eines Pfarrers war, dem die vom Sonnbergplatz und dem Karl-Mark-Hof unterbrochene Gasse ihren Namen verdankt.
Karl Mark (1900-1991), der noch persönlich im Döblinger Gymnasium, seiner und meiner ehemaligen Schule, als Zeitzeuge auftrat, war von 1921 bis 1934 Bezirkssekretär der Sozialdemokraten und wurde im April 1945 von den Besatzern kurzerhand zum "Bürgermeister von Döbling" ernannt. Die Rote Armee hatte bereits am 9. 4. 1945 den Vororte-Bezirk erobert. Die provisorische Bezirksvorstehung amtierte bis zum Oktober 1945 in der Realschule (heute Bundesrealgymnasisum) in der Krottenbachstraße, unterstützt vom Krim-Pfarrer und KZ-Opfer Zeininger, zwei Liberalen und ehemaligen Schutzbündlern. Der russische Kommandant saß in der Arbesbachgasse, wo auf meinem Schulweg noch lange Zeit die KPÖ ihren Sitz hatte. Döbling fiel dann aber in die US-amerikanische Besatzungszone und die stalintreuen Kommunisten wurden zu Exoten.
Damals war die Obkirchergasse eine Kastanien-Allee, noch keine Einbahn und der Verkehr zwischen Krottenbach- und Sieveringerstraße war noch erträglich. Im Zeitraum vom 9. Oktober 1946 bis zum 2. Dezember 1958 verkehrte die Oberleitungs-Buslinie 22, teils mit Anhänger zwischen der Stadtbahnstation Nußdorferstraße und Salmannsdorf auf der meist menschenleeren und ländlich wirkenden Straße.
Fotos der Fünfzigerjahre zeigen viel Grün, ein paar Villen, Fuhrwerks- und Gasthäuser, aber kaum Wohnbauten entlang dem Krottenbach.
Ja, die Bäche. Die drei aus dem Wienerwald mehr oder minder parallel bergab fließenden Gewässer, der Krotten-, der Erbsen- und der Sieveringer Bach, verursachten regelmäßige Überflutungen. Durch Auffangbecken und Regulierungen wurde die größte Gefahr gebannt, aber nach wie vor stehen Keller und tief gelegene Geschoße in Oberdöbling unter Wasser, wenn es heftig regnet. Aber die Gegend hat auch ihre Vorteile. Das, was man heute gern "Infrastruktur" nennt, war schon aus Sicht des Kindes optimal. Eine Schaumtütenfabrik im Souterrain unweit der Schule, ein "Zuckerlgeschäft" ein paar Häuser von der Wohnung, daneben die Papierhandlung der Maria Rauscher mit den ungeahnten Schätzen in ihrem winzigen Kontor. Einzelhandel im wahrsten Sinn des Wortes: ein Radiergummi, ein Bogen Spinnwebpapier zum Einbinden eines Schulhefts und eine Faschingsmaske aus Papier. Frau Rauscher, die sich nicht zu gut war, wegen dieser Minimalumsätze schwindelnde Regal-Höhen zu erklimmen, liegt längst am Döblinger Friedhof begraben.