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Ein juridisches Kunstwerk

Von Werner Ogris

Reflexionen

"Habent sua fata libelli, habent sua fata et codices": Nicht nur Bücher im Allgemeinen, sondern auch Gesetzbücher im Besonderen haben ihre Schicksale! Auch wenn der gute alte Terentianus Maurus (Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr.) den Satz etwas anders gemeint hat (nämlich: ". . . je nach Fassungskraft des Lesers"), so trifft das bekannte Zitat sowohl in dieser wie natürlich auch in der Form, in der wir es heute meist verstehen, auf unser Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch zu: auf das ABGB, das vor genau 200 Jahren, also am 1. Jänner 1812, in Kraft getreten ist.

Ehrwürdiger Kodex

Es hat ein anstrengendes und turbulentes Jahr hinter sich. Die Zunft der Juristen im In- und Ausland ließ es sich nicht nehmen, den ehrwürdigen Kodex mit einer Fülle von Veranstaltungen und Symposien, von Festvorträgen und Festschriften und dergleichen zu feiern. Auch eine Liebeserklärung in Gedichtform ist erschienen. Und die "Wiener Zeitung" vom 2. September widmete ihm in den "Zeitreisen" ein "Handverlesen" mit vielen engagierten und kenntnisreichen Zuschriften!

Dieser Jubel ist ganz verständlich und auch völlig gerechtfertigt, handelt es sich doch beim ABGB um das nach dem französischen "Code civil" von 1804 zweitälteste noch (in der Republik Österreich und zum Teil auch im Fürstentum Liechtenstein) geltende Zivilgesetzbuch Europas und wohl der ganzen Welt.

Freilich: So ganz ohne Makel ist das 200-Jahr-Jubiläum nicht. Abgesehen davon, dass in manchen Gebieten der Habsburgermonarchie, die damals unter französischer oder bayerischer Herrschaft standen, das Gesetzbuch erst ein paar Jahre später in Kraft treten konnte, hat es im Laufe seines langen Lebens so manches Facelifting über sich ergehen lassen müssen. Von den ursprünglich 1502 durchgezählten Paragraphen sind gerade noch 861, also nur etwas mehr als die Hälfte, unverändert in Kraft. Die anderen wurden im Vormärz durch zahlreiche Hofdekrete und von 1851 bis heute durch 81 Novellen gestrichen, verändert oder eingefügt, was einen derzeitigen Stand von rund 1400 Paragraphen ergibt.

Gravierende Mängel

In den Jahren 1914, 1915 und 1916 etwa ist das ABGB in zahlreichen Punkten, deren Mängel schon in den ersten Kriegstagen als besonders gravierend hervorgetreten waren, erneuert worden. Drei Teilnovellen brachten unter anderem eine Stärkung des Schutzes der Persönlichkeitsrechte, eine Verbesserung der Rechtsstellung der Frauen, der Jugendlichen und der Unehelichen sowie eine Ausgestaltung des Dienstvertragsrechts im sozialen oder zumindest im sozialeren Sinne.

Doch natürlich (wie man sagen muss) genügte dies alles nicht, um das Gesetzbuch für die existenzbedrohenden Nöte der Nachkriegszeit zu wappnen. Die Lösung der mit Macht andrängenden Probleme zumal im Bereich des Mieterschutzes, des Jugendschutzes sowie des Arbeits- und Sozialrechts vollzog sich außerhalb des ABGB durch Sondergesetze, die weite Teile der Kodifikation obsolet machten oder zu einer bloß subsidiären Rechtsquelle herabdrückten. 1938 brachte das reichsdeutsche Ehegesetz eine grundlegende Neuordnung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung. Und seit den Reformen der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts ist im Ehe- und im Kindschaftsrecht kaum ein Stein auf dem anderen geblieben.

Nicht ganz ohne Berechtigung hat man daher das Gesetzbuch mit einem zwar jugendlich aussehenden, aber mehrfach gelifteten und verjüngten Society-Star verglichen, bei dem jeweils nur einzelne seiner Teile Geburtstag hätten. Nun, so boshaft wollen wir gegenüber dem alten, noch vom Naturrecht durchwehten Kodex nicht sein, zumal große Teile des Sachenrechts und des Schuldrechts die Zeiten ziemlich unbeschadet überstanden haben, wodurch sich zeigt, dass die geistigen Fundamente der Kodifikation zu einem beträchtlichen Teil noch intakt und tragfähig sind.

Transparenter Aufbau

Dementsprechend hymnisch wurden und werden von vielen seine Lebenskraft und seine conditions of excellence gepriesen. Zu diesen gehören ohne Zweifel sein transparenter Aufbau, seine jeder Kasuistik abholde Regelungsmethode und seine der individuellen Freiheit und Gleichheit verpflichteten Grundpositionen.

Ob auch seine Sprache? Das ist nicht ganz unbestritten. Für viele ist sie veraltet, mit heute unverständlichen oder wenigstens missverständlichen Ausdrücken und Wendungen gespickt, also ganz einfach nicht mehr zeitgemäß. Für andere, zu denen auch ich mich zähle, ist sie von klarer Einfachheit und Verständlichkeit, der man sich zwar mit einiger Aufgeschlossenheit zu nähern hat, die man aber wohl erst richtig zu schätzen lernt, wenn man sie mit Stil und "Sprachkunst" heutiger Gesetzgeber und/oder mit anderen Gesetzbüchern vergleicht, gar nicht zu reden von den Richtlinien der EU.

Würden doch alle Verfasser von Rechtsnormen dem Grundsatz huldigen: "Was sich nicht klar sagen lässt, verdient nicht, Rechtsinhalt zu werden"! Immerhin wurden vor einiger Zeit mit obsolet gewordenen Rechtsinstituten auch veraltete Ausdrücke wie "Erbzinsvertrag", "Widerlage" und "Morgengabe" aus dem ABGB entfernt. Freilich spricht Paragraph 1247 noch von Zuwendungen an Schmuck und anderen Kostbarkeiten, die ein Mann seiner Ehegattin "zum Putze" gegeben hat. Aber das ist wohl auch heute durchaus verständlich. Oder?

Wie auch immer: Tatsächlich hat das ABGB eine große Zahl von Verfassungsumbrüchen überstanden: zunächst die vielfältigen Reformen im Gefolge der Revolution 1848/49 und den Wechsel vom Absolutismus zum Verfassungsstaat im Zuge der Dezemberverfassung 1867; dann den Übergang von der Monarchie zur Ersten und schließlich zur Zweiten Republik. Und dazu noch, nicht zu vergessen, zwei Weltkriege und diverse Veränderungen der Gesellschaftsordnung im Inneren.

Auch manche methodische Schwenkungen der Privatrechtswissenschaft konnten es zwar modifizieren, nicht aber ernsthaft in Gefahr bringen. Bei alledem aber hatte das ABGB schlicht und einfach auch Glück gehabt: Wäre nämlich in der NS-Zeit das geplante Volksgesetzbuch tatsächlich gekommen oder wäre zumindest das deutsche BGB von 1900 in den Alpen-Donau-Gauen eingeführt worden, dann hätte dem österreichischen ABGB kein einziger und auch nicht die Summe aller seiner Vorzüge geholfen; es wäre rücksichts- und kompromisslos durch reichsdeutsches Recht ersetzt worden.

Es kommt bei Gesetzen und Kodifikationen offenbar nicht oder zumindest nicht primär auf ihre sachlich-fachliche Qualität an, sondern auf ihre Vereinbarkeit mit dem politischen und/oder nationalen Zeitgeist. Das Schicksal des Gesetzbuches in den sozialistischen Staaten des ehemaligen Ostblocks stellt ein anschauliches Beispiel für solch einseitig ideologisch motiviertes Vorgehen eines Gesetzgebers dar.

Umso erfreulicher daher die Tatsache, dass nicht nur in der Republik Österreich, sondern allenthalben auch in den anderen Nachfolgestaaten der alten, als staatsrechtliches Gebilde längst versunkenen Habsburgermonarchie des Gesetzbuches in Veranstaltungen aller Art gedacht wurde und noch wird. Zwar steht in den Ländern Osteuropas das ABGB nirgendwo noch (formell) in Geltung, doch wirkt es in Wissenschaft, Lehre und Praxis in vielfacher Hinsicht weiter. Kein Wunder, war es doch nicht etwa gleich mit oder nach dem Ende der Monarchie beseitigt worden, sondern, von Einzelmaßnahmen abgesehen, erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Übergang zur sozialistischen Rechts-und Gesellschaftsordnung. Bis dahin blieb es, ausdrücklich oder stillschweigend übernommen, als Teil einer jeweils national verstandenen Rechtsordnung in Kraft, wenn auch seine Fortbildung und Gestaltung ab 1918 individuell und separat verlief.

Ein gemeinsames Erbe

Die Weichenstellung für diese Entwicklung war schon in der Monarchie erfolgt, als das ABGB in praktisch alle Landessprachen übersetzt worden war und sich daran in vielen Ländern, zumal in Böhmen und Mähren, aber auch in Kroatien, Slowenien und Polen, eine jeweils eigenständige nationale Zivilrechtswissenschaft entwickelt hatte. Das Gesetzbuch ist daher auch kaum in den Nationalitätenhader verstrickt worden, unter dem die Monarchie in den letzten Jahrzehnten ihres Bestandes gelitten hatte; es konnte vielmehr nach deren Ende von den verschiedenen Nationalitäten gleichsam als jeweils eigenes Gesetzbuch angesehen und empfunden werden.

So ist das einstige gemeinsame Erbe bis heute greifbar, wie die zahlreichen Veranstaltungen zum ABGB-Jubiläum in den Ländern des CEE-Raumes (Central and Eastern Europe) erkennen lassen. Man wird diese Entwicklung politisch und praktisch nicht überschätzen dürfen; doch hat auf den diversen Kongressen und Symposien doch so etwas stattgefunden wie eine Besinnung auf den und eine Identifikation mit dem altösterreichischen Rechtsraum, in dem trotz aller Sonderentwicklungen, die das ABGB im Laufe der Jahrzehnte genommen hatte, im Grunde und historisch gesehen eine Vielzahl von Ländern, Sprachen und Ethnien einen rechtlichen Kristallisationspunkt zu finden und zu bewahren wusste.

Leider scheint man heute in der EU auf diese multikulturellen Erfahrungen keinen Wert zu legen. Denn die Beachtung unserer Kodifikation bei der Formulierung europäischer Modellgesetze ist praktisch gleich null. Es wäre daher entschieden zu wünschen, dass die österreichische Zivilrechtswissenschaft ihre einstige Funktion als Schaltstelle in Mittel- und Osteuropa wieder belebt, freilich in der Rolle eines Mitspielers unter mehreren gleichberechtigten Partnern.

Eine wissenschaftliche Vernetzung mit jenen Ländern, in denen das ABGB einstmals gegolten hat, könnte das Gesetzbuch als Rezeptionsquelle für die künftige europäische Privatrechtsentwicklung (neben dem deutschen BGB und dem französischen Code civil) wahrscheinlich breiteren Raum und größere Beachtung sichern.

Ob nun das ABGB dabei in der einen oder anderen Form oder in mehr oder minder großem Ausmaß eine Rolle spielen wird, ist unklar. Obsolet jedenfalls wird es in absehbarer Zukunft gewiss nicht werden. Ein europäisches Zivilgesetzbuch ist nicht in Sicht. Bestenfalls ist mit einem einheitlichen Vertragsrecht für den Binnenmarkt zu rechnen. Immerhin ist vor einigen Wochen ein Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments für ein "Gemeinsames Europäisches Kaufrecht" vorgestellt worden. Aber andere Materien, wie beispielsweise das Familienrecht und das Erbrecht werden sich nur schwer, wenn überhaupt, vereinheitlichen lassen, da die nationalen politischen Wertungen zu stark voneinander abweichen.

Auch innerstaatlich ist mit einem neuen Kodex des Privatrechts nicht zu rechnen. Wir Österreicher werden also noch längere Zeit mit dem ABGB leben müssen. Das ist beileibe keine Drohung, sondern vielmehr ein freudiges Bekenntnis zu einem Gesetzbuch, das uns alle, ob wir es wollen oder nicht, ob wir es wahrhaben oder nicht, von der Wiege bis zur Bahre begleitet.

Reformstau

Aber in eben dem Maße, in dem wir und unsere Lebensverhältnisse sich ändern, wird auch das ABGB sich ändern - und sich ändern müssen. Ein massiver Reformstau ist nicht zu leugnen. Im Eherecht etwa geht es um die brisanten Probleme der (Schein-)Migration und der Zwangsehe sowie um das umstrittene Verschuldensprinzip im Scheidungsrecht. Ferner steht eine Reform des Obsorge- und des Besuchsrechts bei ehelichen wie bei unehelichen Kindern an. Neben der klassischen Ehe sollte es nach dem Willen mancher einen Partnerschaftsvertrag zwischen Mann und Frau im Sinne einer Ehe light geben. Im Namensrecht ist eine liberale(re) Regelung nach dem Motto "Doppelnamen für alle" in Griffweite.

Beträchtlicher Änderungsbedarf besteht im Erbrecht, etwa beim gesetzlichen Erbrecht der Geschwister und beim Pflichtteilsrecht. Im Schadenersatzrecht bedürften jedenfalls die Gehilfenhaftung, der Ersatz des immateriellen Schadens und besonders das Angehörigenschmerzengeld einer Anpassung an die derzeitigen Verhältnisse. Auch der Schadenersatz wegen unerwünschter Geburt, ein gesellschaftspolitisch besonders heißes Eisen, müsste von Grund auf geregelt werden. Derzeit aktuelles Thema ist die Neugestaltung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts.

Ob und gegebenenfalls wann und in welcher Ausführung diese und viele andere Reformanliegen verwirklicht werden, ist derzeit nicht abzusehen. Ebenso wenig ist abzusehen, ob sie in das ABGB eingebaut oder ganz oder teilweise in Sondergesetzen geregelt werden, wie das jüngst mit der Eingetragenen Partnerschaft geschehen ist. Natürlich ist es wünschenswert, dass möglichst große Bereiche des Privatrechts im ABGB enthalten sind. Andererseits tut ihm zu viel Einbau auf die Dauer auch nicht gut, "weil es dann vorne wie ein Krokodil und hinten wie ein Nilpferd ausschaut", wie Rudolf Welser sagte. Der Gesetzgeber wird daher von Fall zu Fall entscheiden müssen, ob er ein derartiges Fabelwesen haben will oder nicht.

Richtlinienfunktion

Jubiläen tragen die Gefahr in sich, das zu feiernde Ereignis in rosarotes Licht zu tauchen. Das schadet nichts, sofern man sich der historischen Bedingtheit jeder kulturellen und sozialen Erscheinung, also auch einer Rechtsquelle, bewusst bleibt. Im konkreten Falle wird man dem ABGB nur gerecht werden, wenn man es nicht zu einem unantastbaren Götzen hochstilisiert. Das kann und will es nicht sein! Niemals zum Beispiel war in ihm das gesamte bürgerliche Recht enthalten, stets standen mehr oder weniger umfangreiche privatrechtliche Sondergesetze neben ihm. Niemals auch konnte es sich den politischen und/oder sozialen Bedürfnissen seiner Umgebung auf Dauer entziehen, sodass von Anfang an zahlreiche Korrekturen an seinem Textbestand nötig waren.

Erkennen wir dies, sehen wir also im ABGB nicht ein allumfassendes und unveränderliches Rechtskompendium, sondern einen großen Wurf mit Richtlinienfunktion und betrachten wir es als dynamisches Element, dann erschließen sich seine Stärken und Schwächen. Dann wird es uns Österreichern auch im Zeitalter der Globalisierung und Europäisierung des Rechts noch lange Zeit ein unentbehrlicher Begleiter sein.

Werner Ogris, geb. 1935, ist em. Universitätsprofessor an der Universität Wien sowie Obmann-Stellvertreter der Kommission für Rechtsgeschichte der Österr. Akademie der Wissenschaften.