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Fährtensuche zum Wähler

Von Andreas Kirschhofer-Bozenhardt

Reflexionen

Das Bundeskanzleramt macht laut einer Recherche der "Wiener Zeitung" am wenigsten von der Meinungsforschung Gebrauch. Damit ist dem Regierungschef der Beifall jener sicher, die glauben, ein Kapitän könne im Grunde ohne Sextanten und Seekarte sein Schiff durch die raue See steuern. Der offenkundige Verzicht auf demoskopische Orientierung lässt zwei Deutungen zu: Entweder, die Staatsführung missversteht die Möglichkeiten der modernen Meinungsforschung und ihren Nutzen für die politische Situationsdiagnose, oder sie bestätigt den Untertitel des "W.Z."-Berichts vom 3. November 2011: "Was das Volk denkt, ist der Politik herzlich wenig wert."

Dieser Beitrag von Peter Muzik, der unter Titel "Umfrage-Dilemma der Politiker" erschien, hat in jedem Fall die Tür zu einer längst überfälligen Diskussion aufgestoßen in einer Zeit, in der es zum Ritual geworden ist, nach Bürgermitbestimmung und plebiszitärer Demokratie zu rufen. Wenn von direkter Demokratie die Rede ist, muss unweigerlich auch über die Demoskopie und ihre Funktion im gesellschaftlichen Getriebe nachgedacht werden.

Kein Zweifel: Die Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten funktioniert nicht. Wäre es anders, gäbe es keine Politikverdrossenheit, die sich in miserablen Umfragewerten über die Koalition ausdrückt. Wüssten die Entscheider mehr darüber, wie die Wählermeinung wirklich aussieht, hätte sich beispielsweise Hannes Androsch das kläglich verlaufene Bildungsvolksbegehren ersparen können. Vor allem hätte er in Verkennung der Situation nicht von 800.000 Unterschriften geträumt, die zu keinem Zeitpunkt realistisch waren.

Missachtete Prognose

Für die Umfrageforschung bedeutete der trotz großer publizistischer Unterstützung enttäu-schende Ausgang des Volksbegehrens jedenfalls keine Überraschung. Das IMAS stellte bereits am 14. Juni in einem Gutachten fest: "Die breite Bevölkerung schert sich im Grunde nicht um die Bildungsreform. Das Schulwesen gilt nur einer elitären Minderheit als marode; die große Mehrheit der Österreicher sieht keinen wirklichen Sanierungsbedarf. Das lautstarke Aufeinanderschlagen der Parteien geht am öffentlichen Bewusstsein völlig vorbei . . ."

Der faktische Ausgang des Volksbegehrens entsprach (man mag es bedauern oder nicht) letztlich voll und ganz der fünf Monate zuvor niedergelegten demoskopischen Einschätzung. Rückblickend betrachtet, war es von den Betreibern der Unterschriftenak-tion naiv, zu glauben, man könne in der Wählermeinung etwas ins Rollen bringen, ohne die Öffentlichkeit zuvor geduldig davon zu überzeugen, warum überhaupt etwas rollen soll.

Was die Demoskopie allgemein betrifft, so wird sie unbestreitbar auch von denen, die aus ihr einen Erkenntnisnutzen ziehen, häufig als Ärgernis erlebt: Die Politiker und Parteien scheuen sich vor dem demoskopischen Urteil über ihr Tun; die Medien hingegen fürchten insgeheim um ihr Privileg, alleiniges Sprachrohr der öffentlichen Meinung zu sein und von der Empirie womöglich widerlegt zu werden. Dazu gesellt sich der von politischen Schwät-zern oft leichtherzig geäußerte Verdacht, Demoskopen seien Handlanger dunkler Mächte.

Demoskopie im politischen Bereich reduziert sich für Außenstehende fälschlicherweise auf Parteipräferenzen oder Popularitätswerte der Politiker, die häufig in Schnellschüssen von kleinen, lautstarken Instituten auf zumeist schmaler statistischer Basis erhoben werden. Die Politiker selbst starren wie hypnotisiert auf solche Zahlen und verkennen, dass es sich dabei im Grunde um einen Vulgärgebrauch der Meinungsforschung handelt. Der Sinn der Demoskopie besteht nämlich nicht im Einfangen momentaner Stimmungsbilder. Es geht nicht darum, ausfindig zu machen, mit welchen Versprechen oder rhetorischen Tricks eine Wahl zu gewinnen ist, sondern um die elementare Tatsache, dass in jeder Entscheidung eine gesellschaftspolitische Problematik steckt.

Ein genereller Vorzug der Meinungsforschung besteht darin, dass sie die Reaktionsfähigkeit eines Systems auf den sozialen Wandel erhöht und überdies das Planungsrisiko in Politik und Wirtschaft reduziert. Demoskopie ist, demokratiepolitisch betrachtet, ein Instrument der Informa- tionsrückleitung von der gesellschaftlichen Basis in die Organe der politischen Repräsentation.

Sie ist gewissermaßen das Telefon, mit dem sich die Wählerschaft der politischen Führung verständlich machen kann. Eine seriös betriebene Umfrageforschung ist in der Lage, den Regierenden eine bessere Kenntnis von den Regierten zu verschaffen und zu einer Harmonisierung beider Teile beizutragen. Umso unverständlicher ist es, wenn "oben" niemand den Hörer abhebt.

Die Informationsaskese des Kanzleramts, aber auch anderer Entscheidungsträger bedeutet gleichzeitig den Verzicht auf den Nutzen der Demoskopie als Frühwarnsystem zum Erkennen von neuen Entwicklungen. Nachweise für demoskopische Frühdiagnosen sind in reicher Zahl vorhanden. Der Vorwurf muss jedoch in den Raum gestellt werden, dass die Politik auf Entwicklungen und künftige Probleme, die von der Meinungsforschung klar beschrieben wurden, entweder gar nicht, zu spät oder falsch reagiert hat. Beispiele dafür sind etwa der von der Demoskopie früh erkannte Pflegenotstand und andere Folgen des Alterungsprozesses, außerdem Vorgänge in der Arbeitswelt, wie etwa Fachkräftemangel, schwindende Innovationsfähigkeit, sinkende Reformbereitschaft, Fehleinschätzungen im Problemkomplex Verwaltungsreform etc.

Den Kritikern einer vermeintlich von der Demoskopie verursachten populistischen Gefälligkeitsdemokratie ist entgegenzuhalten, dass sich die Politik in den vergangenen Jahrzehnten nicht etwa zu viel, sondern zu wenig an den Nöten und Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert hat. Richtschnur des Handelns der Volksvertreter war (und ist) weit eher die veröffentlichte, zum Teil zeitgeistige Meinung, als die öffentliche, nämlich repräsentative.

Im Übrigen haben kraftvolle Politiker wie die legendären deutschen Kanzler Konrad Adenauer und Helmut Schmidt sowie Österreichs Regierungschef Bruno Kreisky mehrmals gezeigt, dass man sich - (Stichworte: Soziale Marktwirtschaft, Wiederbewaffnung, NATO-Doppelbeschluss, Fristenlösung anstelle der Indikationslösung) - nicht in jedem Fall nach der Mehrheitsmeinung richten muss, sondern auch gegen ein widerspenstiges Stimmungsklima eigene Konzepte durchsetzen kann.

Diagnostische Fähigkeit

Allerdings: Der Politiker muss dabei - ähnlich wie ein Arzt bei einer Operation - ständig den "Blutdruck" seines Patienten kontrollieren. Die Frage lautet nicht in jedem Fall: "Was möchte das Volk?" sondern: "Wie weit darf sich ein Politiker auf der Basis seiner besseren Informationslage von der manchmal auf unzureichendes Wissen gestützten öffentlichen Meinung entfernen, ohne abgewählt zu werden?"

Natürlich kann und möchte die Demoskopie nicht als ein Denkautomat verstanden werden, bei dem man oben das Geld hineinwirft und unten fertige Lösungen herauszieht. Sie hat nicht den Ehrgeiz, den Volksvertretern das Denken abzunehmen und sie von ihrer historischen Verantwortung zu entbinden. Wohl aber kann sie Zustandsbeschreibungen von Nö-ten, Wünschen, Erwartungen, Denkweisen und Wissensständen liefern, aus denen sich problemgerechte politische Entwürfe erstellen lassen. Nicht zuletzt kann sie Aufschlüsse darüber geben, mit welchen geistigen Kräften in einer alternden, eher kontraktierenden als expandierenden Gesellschaft gerechnet werden darf.

In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die more-and-more-Parolen allmählich ihre Sinnhaftigkeit verlieren und von Forderungen nach sozialer und wirtschaftlicher Askese übertönt werden. Wahlsiege der Zukunft werden nicht länger allein auf politischen Versprechungen beruhen, sondern auch von überzeugenden Antworten auf die Frage nach dem Warum von Verzichten abhängen.

Die Behauptung ist erlaubt, dass die Demoskopie, die zugleich ein plebiszitäres Element im demokratischen Getriebe darstellt, aufgrund ihrer diagnostischen Fähigkeiten einen mindestens so großen Beitrag zu einer bürgernahen Politik leisten kann wie schwerfällige, aufwendige und mit vielen Nachteilen behaftete Volksbefragungen.

Mit einer verstärkten Rolle der Umfrageforschung im demokratischen Prozess verbindet sich freilich auch der Anspruch an ein Höchstmaß ihrer Qualität. Es ist leider unbestreitbar, dass diese Qualitätsnorm gegenwärtig nicht immer erfüllt wird und es lässt sich nicht übersehen, dass in den letzten Jahren eine Verwilderung der methodischen Sitten stattgefunden hat. Daran haben freilich auch die Medien ihren Anteil , indem sie Umfragebefunde zu einem Element der politischen Unterhaltung degradierten. Zu beklagen ist freilich auch die Gleichgültigkeit der Medien gegenüber der Machart von Umfragen und das Unvermögen, deren Qualität einzuschätzen.

Ein Grundübel besteht darin, dass Umfragebefunde geradezu fließbandartig auf indiskutablen Stichprobengrößen produziert werden und eine Scheingenauigkeit suggerieren, die statistisch nicht gedeckt ist. Dies betrifft insbesondere die Messung von Parteineigungen, aber auch der Politikerpositionen.

Nicht immer entzündet sich der Ärger an einer solchen Fastfood-Forschung, manchmal erregt auch ein geringes Methodenverständnis von politischen Kommentatoren Verwunderung. In eine Mischung von Empörung und homerischem Gelächter versetzte ein prominenter Politologe beispielsweise die Fachwelt, als er kürzlich in einer "Club-2"-Sendung bedeutungsvoll erklärte, die Motivhintergründe für politisches Verhalten seien nicht durch quantitative (also repräsentative) Umfragen, sondern mithilfe von Focus groups (also Kleingruppen-analysen auf der Basis von unstrukturierten Gesprächen mit 15-20 Personen) zu ermitteln.

Mangel an Kompetenz

Zum näheren Verständnis: Focus groups spielen im Vorfeld einer demoskopischen Untersuchung eine wichtige Rolle zur Bildung von Hypothesen, die später auf statistisch repräsentativer Basis zu überprüfen sind. Es ist jedoch eine wahrhaft abenteuerliche Idee, die Ergebnisse solcher Kleingruppen auf die Gesamtbevölkerung zu verallgemeinern. Dies kann nur über den Weg von Repräsentativerhebungen geschehen. Für die spätere Motivanalyse steht im Übrigen ein breites Repertoire von analytischen Techniken zur Verfügung. Sollte das dem Professor nicht bekannt sein?

Vorsicht geboten ist schließlich bei Online-Umfragen, die sich zwar gut für bestimmte Spezialprobleme der Marktforschung, nur sehr bedingt jedoch für die Ermittlung politischer Einstellungen eignen. Das liegt an der immer noch sehr unterschiedlichen Internetnutzung innerhalb der Altersgruppen. Faktum ist, dass Online-Umfragen eine extreme Unterrepräsentanz der älteren Bevölkerung aufweisen und Gewichtungsprozesse in einem nicht mehr tolerablen Ausmaß erzwingen. Wenn sie dennoch vollzogen werden, spricht auch dies nicht gegen die Methode, sondern gegen die Anwender.

Mit Sicherheit schmälert der gelegentliche Methodenmissbrauch nicht den Stellenwert der Umfrageforschung als das unbestreitbar mit Abstand beste Instrument für die Massendiagnose.

Andreas Kirschhofer-Bozenhardt ist Gründer des Markt- und Meinungsforschungsinstituts IMAS und war von 1972 bis 1992 dessen Leiter.