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Der unsichtbare Herrscher

Von Andreas Walker

Reflexionen

Aristoteles berichtet in seiner "Politik", dass der Philosoph Thales sämtliche Ölpressen in Chios und Milet bereits zur Winterzeit mietete, als das Klima im westlichen Teil Kleinasiens eine reiche Ölfruchternte für die kommende Saison versprach. Zur Zeit der Ernte verdiente er durch den Verleih der Pressen ein Vermögen. Damit konnte Thales denjenigen entgegentreten, die ihm seine Armut vorhielten, und beweisen, dass auch Philosophen ökonomische Erfolge erzielen können - wenn sie nur wollen. Exemplarisch demonstrierte er damit, dass ein Zug der Macht darin besteht, über ein Potenzial zu verfügen, das nicht unbedingt realisiert werden muss.

Harald Katzmair und Harald Mahrer haben ihre "Formel der Macht" vorgelegt. Die Potenzialität der Macht, so lautet die Formel der Autoren, richtet sich nach Ressourcen mal Beziehungen. Dies klingt nicht gerade überraschend, da sich jeder Wirkungsspielraum gemäß dem Einfluss des Akteurs und der Handlungsoptionen, die sich aus seinen ihm zu Verfügung stehenden Mitteln ergeben, ermisst. Vereinfacht wird die Formel zudem noch, wenn man Ressourcen durch Geld ersetzt. In einem Netzwerk (wobei die Autoren Netzwerke weder kybernetisch denken noch sozialphilosophisch im Sinne Bruno Latours) hätten folglich diejenigen den größten Einfluss, die die wichtigsten und potentesten Entscheidungsträger kennen. Das Netzwerk, das Katzmair und Mahrer bedenken, ist also in erster Linie ein Beziehungsnetzwerk.

Mengenlehre

Die Quantisierung von Beziehungsnetzwerken hat der mit 26 Jahren verstorbene Mathematiker Frank Plumpton Ramsey in einem Satz formuliert: In jeder chaotischen Menge gibt es eine Untermenge, die geordnet ist. Diese - hier sehr vereinfachte - Darstellung der Ramseyzahlen wurde auch als Partyproblem bekannt: Wie viele Personen n muss man zu einer Feier einladen, damit sich x Personen untereinander kennen bzw. vollkommen fremd sind? Bei einem kleinen Fest liegen n und x ziemlich nahe beieinander. Ist die Party groß, so wächst auch der Abstand zwischen n und x.

Bezogen auf die Frage der Macht, bedeutet dies: Je größer eine Gesellschaft ist, umso weniger Menschen konzentrieren die Macht auf sich und verfügen über die wichtigen Ressourcen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung. Katzmair und Mahrer veranschaulichen diesen Umstand in einer Pyramide: Machtzentren halten sich durch wechselseitige Anerkennung aufrecht und sind immer auch auf Zentren bzw. Peripherien angewiesen, die weniger mächtig sind. Macht stabilisiert sich somit durch horizontale und vertikale Ströme.

Ein Credo der Autoren lautet, dass Macht "immer im Besitz einer Gruppe" sei, womit ihr Netzwerkcharakter unterstrichen werden soll. Je mehr Macht sich in einer Gruppe stabilisiert, umso besser kann sie auf Unvorhergesehenes reagieren. Dies mache ihre "Resilienz" aus. Nachdem die Autoren Innovationen prinzipiell als Motor von Macht beschworen haben, offenbaren sie dem Leser, dass die Zukunft der Macht den Softwareentwicklern und den Energiekonzernen gehöre.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es Katzmair und Mahrer gar nicht um eine ernsthafte Analyse der Macht geht, sondern um eine Bestätigung offensichtlicher ökonomischer Entwicklungen, die einer substanziellen Betrachtung nicht standhalten. Schon seit Jahrzehnten besteht eine erfolgreiche Etablierung am Softwaremarkt darin, Imitat mit Neuerung zu verschmelzen oder das Imitat als etwas Neues zu verkaufen. Die jüngeren Entwicklungen zeigen zudem, dass das Design in den Vordergrund rückt und weniger die tatsächlichen Anwendungsmöglichkeiten.

Am Ende ihres Buches verbinden die Autoren ihr Machtmodell mit einer Art Gewaltenteilung, da sie weder ein technisches noch ein autoritäres noch ein zynisches Modell vertreten. Ihr "vierter Weg" sieht vor, dass "Staat, Markt und Netzwerke mit ihren komplementären und einander korrigierenden Strategien" es schaffen, resilient zu sein und Krisen zu bewältigen. Dieser unterschwellige moralisch-normative Appell an Haltungen und gegenseitigen Respekt hat beinahe etwas unfreiwillig Komisches. Man denke nur an die Aufarbeitung des Finanznetzwerks in Österreich oder die Entscheidung über den Euro-Rettungsschirm. Gewiss begreifen die Autoren ihren Vorschlag als Vision, verstricken sich aber über weite Strecken in Plattitüden.

Guter Rat für Machtlose

Fast erfrischend ist dagegen Jeffrey Pfeffers Buch "Macht - Warum manche sie haben und andere nicht", da es mit einer Fülle anekdotischen Materials aufwartet. Zwar gibt es auch in diesem Werk nicht viel Erhellendes zur Frage der Macht, allerdings will der Professor für Organisationstheorie an der Stanford University auch nichts anderes, als Leuten, die keine Macht haben, ein paar Ratschläge erteilen, die etwas polternd daherkommen. In Pfeffers Buch wird der Leser über die Gemeinplätze informiert, dass nicht der Beste/Intelligenteste einen spezifischen Job erhält, sondern derjenige, der über ein bestimmtes Auftreten verfügt, dass man seinem Chef durchaus mal schmeicheln sollte, um voranzukommen, und dass Sympathie überbewertet wird.

Stilistisch orientiert sich Pfeffer an psychologischer Ratgeberliteratur, die häufig überflüssig ist. Auch Pfeffers Buch gehört, was die Machtanalyse anbetrifft, in diese Kategorie, da es Macht bloß im Kontext erfolgreicher Unternehmen sieht. Sicherlich ist es ganz das Gegenteil der "Formel der Macht", da es auf den Einzelnen abzielt und Netzwerke allein insofern bedenkt, wie sie dem eigenen Fortkommen dienen.

In einer ganz anderen Liga ist Giorgio Agambens Buch "Herrschaft und Herrlichkeit" anzusiedeln, das sich nichts Geringeres vorgenommen hat, als eine Genealogie der Ökonomie und der Macht zu schreiben. Dabei begreift der italienische Philosoph die christliche Theologie als ein ökonomisches Unternehmen, das geteilt ist in einen Herrscher und mehrere Verwaltungen, da es der Verwaltung des göttlichen Lebens und der Regierung der Geschöpfe bedarf.

Die christliche Theologie/Ökonomie, die für Agamben eine einzige Maschine darstellt, bildet für ihn den Vorläufer der modernen Betriebswirtschaft. Folgt man Agambens Logik, so ist jeder Monarch auf die Struktur von Absenz, Repräsentanz und Verwaltung angewiesen. Die Herrschaft ist das, "was bleibt, wenn man die Regierung abzieht; Regierung ist ihrerseits das, was aus der Subtraktion der Herrschaft hervorgeht; aus der Verschränkung beider Pole geht die Regierungsmaschine hervor."

Der Witz der Agamben’schen Argumentation besteht darin, dass das Zentrum, um den diese Pole kreisen, leer bleibt. So kann nach dem Niedergang theologischen Wirkens an dessen Stelle eine Logik der Natur treten oder die Gesetze des Marktes, auf die sich die Regierenden berufen, um Herrschaft zu legitimieren und die Maschine in Gang zu halten.

Der berühmteste Vorläufer einer solchen Argumentation ist Adam Smith mit der Metaphorik der durch ihn bekannt gewordenen "unsichtbaren Hand": Der Einzelne kann die Folgen seines Handelns im Rahmen des gesellschaftlichen Zwecks nicht absehen. Wenn jedoch sein Handeln das Volkseinkommen mehrt, ist es so, als hätte eine unsichtbare Hand eingegriffen.

Dieser ökonomische Standpunkt läuft folglich auf ein Argument der Vorsehung und damit auf eine theologische Perspektive hinaus. Wenn jeder seinem Eigennutz frönt, geht es der Gesamtgesellschaft besser, könnte man liberalistisch in dieser Logik argumentieren.

Diese Form der Herrschaft kann sich nach Agamben jedoch nur dort etablieren, wo es Akklamateure gibt, wenn es also Riten der Bindung und der gemeinsamen Erfahrung gibt. Deshalb ist für ihn die Liturgie auch die eigentliche Religionswissenschaft, bei der sich die theologische Maschine bestätigt. Allein in der Glorie gegenüber dem Absenten, des nicht näher Fassbaren, kann sich die Herrschaft behaupten. Der nicht präsente Herrscher, der nie ruht, ist das Paradigma moderner Ökonomie. Er selbst hat keinen Ursprung, ist an-archisch. Nur im Glauben an ihn, bekundet in Lobpreisungen, und an seine Gesetze manifestiert er sich.

Die Darlegung Agambens ist bestechend, da die moderne Politik keinen Hehl aus der Ursprungslosigkeit der Ökonomie macht, der sie folgt. An die Stelle göttlicher Allmacht trat der Glauben an globalisierte Kapitalflüsse oder weltumspannende ökonomische Netzwerke. Selbst neue Propheten in Gestalt von Ratingagenturen stärken eher das Motiv der Vorsehung, als dass sie es bloßstellen würden.

Aber auch die säkularisierte Macht ist - wie auch schon die theologische - anarchisch-ökonomisch. Sie bleibt auf eine voraussetzungslose Voraussetzung angewiesen, die ohne Legitimation ist - außer von denjenigen, die ihr applaudieren.

Die Verschwendung

"Ökonomie" war am Ende des 19. Jahrhunderts ein Schimpfwort in den USA, da Ökonomen den Verzicht predigten, von dem die meisten nichts hören wollten. Heutzutage ist Ökonomie im Sinne beständigen Wachstums etwas Selbstverständliches - auch unter Ökonomen. Die Forderung nach Wachstum wird begleitet von normativen Parametern wie Gerechtigkeit und Fairness im Hinblick auf die Verteilung von Gütern.

Macht indes fußt nicht bloß auf einem Austausch von Informationen und Ressourcen oder schlummert in Netzwerken. Macht im gegenwärtigen ökonomischen Sinn basiert auf Verschwendung und der Produktion von Ausschuss. Dies bedenken alle drei Bücher unzureichend bis gar nicht. Zwei von ihnen setzen die Macht, von der sie sprechen, gar als naturgegeben und alternativlos voraus.

Die "Herrlichkeit" moderner Industrieunternehmen ist jedoch nur verstehbar, wenn man bedenkt, dass sie gleichzeitig Schrott für Müllhalden produzieren, von anderen "Kollateraleffekten" ganz zu schweigen. Die Obsoleszenz, ob geplant oder nicht, ist essenzieller Bestandteil gegenwärtiger Machtstrukturen. Eine Macht, die sich nicht verschwendet, bliebe bloß für sich.

Andreas Walker, geboren 1971 in Hamburg, ist Philosoph und Autor. Zuletzt erschienen: "Platons Pati-ent - Ein Beitrag zur Archäologie des Arzt-Patienten-Verhältnisses", Halle (Saale) 2010. Er lebt in Bochum.

Harald Katzmair/Harald Mahrer:Die Formel der Macht. Ecowin, Salzburg 2011, 179 Seiten.

Jeffrey Pfeffer: Macht - Warum manche sie haben und andere nicht. Börsenmedien AG, Kulmbach 2011, 325 Seiten.

Giorgio Agamben:Herrschaft und Herrlichkeit Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung. Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 368 Seiten.