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Glänzende Versündigungen

Von Andrea Traxler

Reflexionen
J. R. Brown: Charles Dickens, von seinen Romanfiguren umgeben.
© © © Bettmann/CORBIS

Lediglich entspannen müsse man sich, um "Bleak House" zu lesen, alles Übrige würde unser Rückenmark erledigen, meinte Vladimir Nabokov über Dickens’ neunten Roman (1852), den er sich in seiner 1948 in den USA gehaltenen Vorlesung "Meisterwerke der europäischen Literatur" vorgenommen hatte. "Zwar lesen wir mit dem Kopf, aber künstlerisches Entzücken wird zwischen den Schulterblättern wahrgenommen. Der kleine Schauer, der uns über den Rücken läuft, ist gewiss die höchste Form innerer Bewegung, welche die Menschheit bei der Entwicklung zweckfreier Kunst und Wissenschaft erreicht hat. [. . .] Es hat überhaupt keinen Sinn ein Buch zu lesen, wenn man es nicht mit dem Rückenmark liest." Das impliziert hier die genaue Beobachtung der Dickens’schen Sprachbilder, seiner Motive, Symbole, Metaphern und der Attribute, die seine Figuren begleiten (von soziologischen oder historischen Untersuchungen könne man absehen).

Eine solche Lesehaltung anzuregen, wäre noch zu Dickens’ 100. Geburtstag vielfach heftigst abgelehnt worden. Befasst man sich mit der Kritik, die schon während Dickens’ Lebzeiten zu wallen begonnen hat und nach seinem Tod, 1870, relativ stark kochte, könnte einen die Frage tangieren: was, um alles in der Welt, konnte Dickens eigentlich? - Es sei denn, es kam einem etwa schon die liebenswürdige Mähre unter, die durch ein erhebliches Unwetter zu traben hat, "mit herabhängenden Ohren, dann und wann den Kopf schüttelnd, als wolle sie ihr Missfallen über dieses höchst unhöfliche Benehmen der Elemente zu erkennen geben" ("Die Pickwickier", Dickens’ erster Roman, 1836).

Verstöße, Schnitzer

Aber genau dieser Animismus wurde ihm besonders verübelt: Im herbeiströmenden Ästhetizismus (1860) und Naturalismus (1880) konnte das Beseelen von Tieren und allerlei Gegenständen nicht mehr für zulässig gehalten werden. Auch die Einbindung von gewissen Absichten, sozialen Tendenzen, von Zierrat, Theatralik und umfassenden Gemütsbildern hatte etwas Sündiges. Minderbemittelt mussten Leser sein, die an derlei Unfug Gefallen finden konnten.

Dass Dickens zu Zeiten einen geradezu exorbitanten Erfolg hatte - dem Schicksal von Little Nell ("Der Raritätenladen", 1841), Paul Dombey ("Dombey & Sohn", 1848) und Jo ("Bleak House") bebten unzählige Leser in höchster Aufregung entgegen -, wurde späterhin "allein auf die Dummheit und den schlechten Geschmack seiner Leser" zurückgeführt.

"Man dürfe Dickens nicht länger dulden" hieß es 1884 - er sei ein "exaltierter Moralist" (1888), ein "ungehobelter Apostel des Selbstverständlichen" und der "Romanschriftsteller der Halbgebildeten" (1897), ein "ordinärer Karikaturist" (1909) und "literarischer Barbar" (1912). Er könne weder reflektieren, noch habe er "intellektuelle Brillanz". Seine Ansichten entsprängen "weder einer tieferen Einsicht des Verstandes, noch einem sorgfältigen Denkprozess" (1912). Außerdem habe er einen entsetzlichen Stil.

Die also durch Dickens gründlich verdorbenen Leser machte dann Arnold Bennett 1898 für die geringe Resonanz auf seinen Roman "A man from the North" verantwortlich. Marie Louise de la Ramée hatte gar den Eindruck, "für die englische Literatur wäre es besser gewesen, wenn Dickens nie gelebt hätte".

Warum? Dickens’ Romane erschienen (meist in von ihm selbst herausgegebenen Blättern) zunächst in monatlichen Lieferungen. Diese Art der Publikation hatte den Vorteil, unmittelbar die Wirkung zu wissen, und den Nachteil, dass portioniert und an einer spannenden Stelle angehalten werden musste, was der Qualität nicht immer förderlich war. Sobald nun Dickens das Sinken der Verkaufszahlen bemerkte, oder ihm ein Leser seinen Unmut über irgendeinen Umstand bekundete, reagierte er darauf und modifizierte entsprechend: schleuste eine Figur ein, ließ eine andere verschwinden oder anders handeln als vorgehabt. In Zeiten hoch gelagerter Ansprüche an Literatur wie Literaten ein vollkommen abstruses Verfahren.

Zudem arbeitete Dickens häufig an zwei Romanen gleichzeitig, wodurch er zuweilen mit den Lieferungen nicht nachkam, aber im Zugzwang stand. Unter Umständen holte er dann eine eigenständige Erzählung aus der Schublade und legte sie, wie eine Arie in eine Oper, in seine Geschichte ein, bzw. einer seiner Figuren in den Mund. Ein solcher Vorgang (durchaus dynamisch) konnte dazumal nur als unkünstlerisch gelten - womit ihm das Künstlerpodest entzogen war.

Auch deswegen, weil er ein Zuviel an Gefühl und Phantasie beförderte. Seine ungestüm sprudelnde, glänzende Wirkungen hervorbringende Einbildungskraft wurde zunehmend als lästig empfunden. Wie auch seine laute Präsenz als Autor im Text. Oscar Wildes Gebot "Die Kunst offenbaren, den Künstler verbergen" kannte Dickens noch nicht. Mehr ein Literat fürs Herz als für den Kopf, wie spöttisch angemerkt wurde, produziere er - "ähnlich wie ein Wilder, der der Venus von Medici eine Halskette aus Glasperlen umhängen möchte" (George Stott, 1869) - Kitsch, fröne einer barocken Maßlosigkeit, ergehe sich in Manierismen (unverzeihlich) und entwickle unglaubwürdige Charaktere, anstatt sich zu bescheiden.

Anders etwa Gustave Flaubert, der 1846 schon über sich berichten hat können: "Ich bemerke, dass ich kaum noch lache und dass ich nicht mehr traurig bin. Ich bin reif." Er war davor gefeit, aus lauter emotionaler Beteiligung sich in Tränen zu finden, wie Dickens, als er den Tod von Little Nell niederschrieb.

Dickens nahm Kritik durchaus ernst und äußerte sich dazu in den Vorworten seiner Buchausgaben. So in jenem zu "Die Pickwickier" (fragwürdig war Pickwicks Wandlung gegen das Romanende hin): "Ich glaube nicht, dass dieser Wandel meinen Lesern forciert oder unnatürlich erscheinen wird, wenn sie im Auge behalten, dass im wirklichen Leben die Eigenheiten und Absonderlichkeiten eines Menschen, der etwas Exzentrisches an sich hat, uns zuallererst auffallen. Erst wenn wir ihn besser kennengelernt haben, sehen wir, was sich unter dieser Oberfläche verbirgt und verstehen sein besseres Selbst."

Gut, aber er hätte vermittels wissenschaftlicher Methoden seine Figuren von vornherein plausibler, differenzierter, komplexer gestalten müssen, deren Verhalten sezieren, dann auf farceartiges Angebind verzichten, wie auch auf die in Romanen deplazierten, das Prosaohr beleidigenden Blankverse und eine das Auge schmerzende unrichtige Interpunktion - genug, zumal selbst seine stofflichen Umhüllungen analysiert wurden (er war kein Gentleman).

Da nun so Strömungen meist in einer gewissen Enge strömen, irgendwann fad werden und ein Bedürfnis nach Weite entsteht, wurde Dickens allmählich in Ruh gelassen. Aus den dogmatischen Gewässern gezogen sodann, wurden auch seine Qualitäten wieder sichtbar: sein subtiler Umgang mit Sprache, seine scharfe Beobachtungsgabe, sein Erfindungsgeist, seine unkonventionelle Energie. "Man kann nur etwas schaffen, wenn man sich um etwas sorgt", schrieb George Orwell in seinem Dickens-Essay. Dickens sorgte sich des Unrechts wegen, von dem er sich umgeben sah, und kämpfte auf seine Art dagegen an. Wobei dies nicht sein einziger Antrieb war. Sehr emphatisch in allem, folgte er auch seiner vielfarbigen Schaffenslust, der Freude am Theatralischen und am Theater, dem er insofern zugetan war, als er immer wieder selbst Aufführungen organisierte, die Regie übernahm und seine schauspielerischen Talente integrierte, die faszinierend gewesen sein müssen. Diese zeigten sich auch schillernd bei seinen Lesungen, wie berichtet wird.

Gegenreden

Zu seiner Rehabilitierung beigetragen haben u. a. Gilbert Keith Chesterton (1906), Stefan Zweig (1919), André Maurois (1927), Edmund Wilson (1939), George Orwell (1940). Wie auch der 1902 in London installierte "Dickens Fellowship", ein Verein, der Dickens und sein Werk zu würdigen sich vornahm.

Zwar verpufften die Angriffe auf ihn erst gegen Ende der 30er-Jahre, waren aber 1906 schon soweit wirkungslos, sodass der Kritiker Brimley Johnson sagen konnte: "Es erfordert nicht länger moralischen Mut zu gestehen, dass man Dickens schätzt."

Und zu Recht, denn der Autor von "Oliver Twist" (1837) und "David Copperfield" (1849) hat nebst seinen Londoner Skizzen, Weihnachtserzählungen, Kurzgeschichten insgesamt 15 umfangreiche Romane komponiert, die (einmal mehr, einmal weniger) zu allen Zeiten mit bemerkenswerter Anteilnahme wahrgenommen wurden - und werden: Zu Dickens’ letztem Roman "Das Geheimnis des Edwin Drood" (er blieb unvollendet) publizierte 1989 Don R. Cox eine kommentierte Bibliographie von 1800 sogenannten "Droodiana", darin mögliche Enden erwogen werden. Derartige Ausuferungen lassen zwar nicht zwingend Schlüsse auf die Qualität von Texten zu, auf deren Genialität aber recht wohl.

Mag nun Dickens gewandet gewesen sein wie ein Geck, der ein oder andre Einwand gegen ihn auch Berechtigung haben, und sollen seine "amorphen Produkte" da und dort nach wie vor ungestört in Regalen stehen - er werkte, wirkte und wirkt.

Andrea Traxler, geboren 1962, Typographin, lebt und arbeitet als freie Lektorin in Wien.