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Große Bühne der Gefühle

Von Ingeborg Waldinger

Reflexionen
Bahnhöfe dienen als Bühne für theatrale Momente: etwa die große Abschiedsszene . . .
© © Ed Holub/Photex/Corbis

Croniamantal heißt der schlussendlich "ermordete Dichter" einer gleichnamigen Erzählung von Guillaume Apollinaire. Dieser Croniamantal trifft eines Tages, von Paris kommend, in Köln ein. Auf dem Bahnhof der Rheinmetropole wird gerade ein großer Empfang vorbereitet. Der gilt allerdings nicht dem verfemten Poeten: "Auf dem seinem Zug gegenüberliegenden Bahnsteig machten eine rote Bahnhofsvorsteher-Mütze, silberkugelige Polizeihelme und die Zylinder von Honoratioren deutlich, dass man mit dem nächsten Zug eine wichtige Persönlichkeit erwartete." Schon fällt der Name des prominenten Ankömmlings: "Krupp".

Der Text des französischen Rheinland-Kenners Apollinaire stammt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs - den der Autor als Anbruch einer neuen Zeit verherrlichte und freiwillig ins Feld zog. Welchem Vertreter der Krupp-Dynastie er die Episode mit dem sprichwörtlichen "Großen Bahnhof" wohl zudachte, lässt sich erahnen: Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Ehemann der Alleinerbin Bertha Krupp, steuerte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Geschicke des Stahlkonzerns.

Topos der Moderne

Im wirklichen Leben waren Große Bahnhöfe für die mächtigen Krupps Routine, ob sie dabei nun den passiven oder aktiven Part innehatten. Berthas Vater, Friedrich Alfred Krupp, ließ im Park der Familienvilla (Villa Hügel) 1890 sogar eine private Bahnhofstation erbauen. Die bei der königlichen Eisenbahn-Direktion beantragte "Haltestelle Bredeney" (heute Haltepunkt Essen-Hügel) sollte Kaiser Wilhelm II. und diversen illustren Staatsgästen die Anfahrt von den nächstgelegenen Bahnstationen zur Villa ersparen, aber auch der Bevölkerung als Ausgangspunkt für Ausflüge offen stehen. Der Zugang von den Bahnsteigen in den Park blieb freilich der Familie Krupp, deren Angestellten und Gästen vorbehalten. In der Bahnstation war bis 1914 sogar ein privates "Krupp-Postamt" untergebracht.

Der Krupp’sche Bahnhof rangiert zwar nicht in der Kategorie "Kathedrale der Moderne", dafür fehlt ihm die Dimension. Der Prestigewert einer solchen privaten Bahnstation im ausgehenden 19. Jahrhundert war aber enorm. Die technische Einrichtung hatte Symbolcharakter - als ein Topos der Moderne, der Mobilität.

Im selben Jahr, in dem Krupps Privatbahnhof den Betrieb aufnahm, veröffentlichte Émile Zola seinen Roman "Das Tier im Menschen". Darin verschränken sich die abgründigen Schicksale des stellvertretenden Bahnhofsvorstehers von Le Havre, Roubaud, und des auf der Strecke Paris-Le Havre eingesetzten Lokführers Lantier. Der Roman eröffnet mit einer Schilderung des Pariser Bahnhofs Saint Lazare, den Claude Monet in eindrucksvollen Momentaufnahmen auf Leinwand bannte. Zola stilisiert den Betrieb, das Licht, den Dampf der Lokomotiven zu Sinnbildern des Flüchtigen, der Bewegung: Der Protagonist Roubaud logiert während seiner Paris-Aufenthalte in einem Haus der Bahngesellschaft, für die er arbeitet. So auch an jenem grauen Februartag, an dem der Roman einsetzt. Von seinem Zimmerfenster sieht Roubaud auf das Bahnhofsgebäude und die Gleisanlagen. Er beobachtet den langsam und kerzengerade aufsteigenden schwarzen Qualm einer Lokomotive, dann das quellende Weiß einer anderen Dampflok, das Teile des Viertels einnebelt. Sein Blick folgt den fächerförmig sich verzweigenden Schienensträngen, sucht das Gemenge von Waggons und Maschinen zu entwirren und bleibt an einem roten Haltesignal haften, das im fahlen Wintergrau aufflammt wie ein Menetekel.

Zola benutzt die Brille der Impressionisten, um das Wechselspiel von Licht und Farbe zu schildern; er zückt die Feder der Naturalisten, um die Bahnwelt so sachlich wie detailreich zu erfassen; und er langt nach dem Ins-trumentarium der Symbolisten, um die Eisenbahn metaphorisch aufzuladen - als Faszinosum wie als zerstörerische Kraft. Das Keuchen der Lokomotive gleicht fiebrigen Atemzügen, ihre Pfiffe menschlichen Schreien.

Seit Beginn des Eisenbahnwesens zogen Bahnhöfe die Aufmerksamkeit der Dichter auf sich. Ihr Interesse galt zunächst naturgemäß der modernen Technik, mochten sie nun einem positivistischen Fortschrittsglauben oder einem Technik-skeptischen Konservativismus anhängen. Die Architektur der Metropolen-Bahnhöfe spielte eine relativ nachgeordnete Rolle. In Joseph Roths Roman "Radetzkymarsch" etwa rückt die imposante, palastartige Kulisse des ehemaligen Wiener Nordbahnhofs völlig in den Hintergrund: Wenn Leutnant Carl Joseph von Trotta seine verstohlene, "sündige Wallfahrt" aus der galizischen Garnison nach Wien antritt, genießt er die "zivile Anonymität" des Bahnhofs, wo ihn seine reife Geliebte, Frau von Taußig, erwartet. Auch sie ist nicht vom Bauwerk berückt, sondern von der befreienden Dynamik des Betriebs: "Sie stieg auf den Perron wie in ein Verjüngungsbad. Sie tauchte unter im beizenden Dunst der Steinkohle, in den Pfiffen und Dämpfen der rangierenden Lokomotiven, im dichten Geklingel der Signale." Von eben diesem Nordbahnhof wurde Joseph Roth, "eine Woche nach dem Tod des alten Kaisers", mit seiner Marschkompanie an die Front geschickt.

Melodien von Lehár und Strauß, dargeboten von einer Militärkapelle, begleiteten den Trupp, und das Startsignal "der Lokomotive, die uns zum Schlachtfeld führen sollte, verlor sich in den verwehten Trommeln und Trompeten, während unser Zug dem Tod entgegenglitt". Dies schrieb Roth am 17. April 1932 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, als Vorwort zum "Radetzkymarsch" vor dessen Feuilletonabdruck.

Ort der Erinnerung

Endlos lang ist die Liste all der Züge, die von Bahnhöfen in das Grauen fuhren. Auch der 2001 verstorbene deutsche Schriftsteller W. G. Sebald wählt den Bahnhof als Erinnerungsort dunkler Historie, thematisiert allerdings auch die Bahnhofsarchitektur. In seinem letzten Werk, "Austerlitz", kreuzen sich auf der Antwerpener Centraalstation die Wege des architekturbegeisterten Ich-Erzählers und des jüdischen Kunsthistorikers Jacques Austerlitz.

Austerlitz erläutert seinem Gegenüber anhand des Antwerpener Bahnhofs den "Baustil der kapitalistischen Ära". Ein Londoner Bahnhof wiederum legt ihm den Weg in seine eigene, verdrängte Lebensgeschichte frei: "Jedesmal, sagte Austerlitz, wenn ich auf dem Rückweg ins East End in der Liverpool Street Station ausgestiegen bin, habe ich mich ein, zwei Stunden zumindest dort aufgehalten, saß mit anderen, am frühen Morgen schon müden Reisenden und Obdachlosen auf einer Bank oder stand irgendwo gegen ein Geländer gelehnt und spürte dabei dieses andauernde Ziehen in mir, eine Art Herzweh, das, wie ich zu ahnen begann, verursacht wurde von dem Sog der verflossenen Zeit." Austerlitz war von seiner Mutter 1939 mit einem Kindertransport von Prag nach England geschickt worden. An der Liverpool Street Station übernahmen ihn walisische Pflegeeltern. Seine Mutter wurde Opfer des Holocaust, die Spur des Vaters verliert sich in einem Internierungslager in den Pyrenäen.

Mitunter werden Bahnhöfe zu Schauplätzen der Weltgeschichte, ohne dass die Tragweite einer Ankunft oder Abreise sich sogleich für jedermann offenbart: Am 9. April 1917 traf am Bahnhof Zürich eine Gruppe von etwa dreißig Leuten ein: "Ihre Ankunft . . . verursacht keinerlei Aufsehen. Es sind keine Reporter erschienen und keine Photographen. Denn wer kennt in der Schweiz diesen Herrn Uljanow, der . . . da inmitten eines Trupps mit Kisten beladener, korbbepackter Männer und Frauen schweigsam und unauffällig einen Platz im Zuge sucht . . . Um drei Uhr zehn Minuten gibt der Schaffner das Signal. Und der Zug rollt fort nach Gottmadingen, zur deutschen Grenzstation. Drei Uhr zehn Minuten, und seit dieser Stunde hat die Weltuhr andern Gang." Herr Uljanow ging unter dem Namen Lenin in die Weltgeschichte ein (Stefan Zweig, "Der versiegelte Zug", in: "Sternstunden der Menschheit").

Seit es Bahnhöfe gibt, faszinieren sie vor allem als sozialer Raum. Der Bahnhof bietet, mit Robert Walser gesprochen, eine einzigartige Bühne des "Lebensschauspiels". Da wird Abschied genommen und Wiedersehen gefeiert, angespannt oder erfolglos gewartet, um passende Worte gerungen, geküsst, geweint. Bahnhöfe sind Projektionsflächen großer Gefühle und Sehnsüchte.

Kurt Tucholsky relativiert das theatrale Moment des Bahnhofs-Geschehens: In seinem Text "Der Bahnhofsvorsteher" sinniert er über die emotionale Abstumpfung des Bahnbediensteten: Er erfasse seine Welt mit der kalten Erfahrung des Routiniers, habe kein Auge mehr für die Dramen der "Taschentuchleute".

Tor in fremde Welten

Tagtäglich kommt es an Bahnhöfen zu geplanten oder zufälligen Begegnungen zwischen den Kulturen: Der italienische Autor Antonio Tabucchi entrückt die Leser seines "Indischen Nachtstücks" nach Mumbai, an den viktorianischen Prachtbahnhof "Chhatrapati Shivaji Terminus", wo ein Inder und ein Europäer einen lebensphilosophisch-kulturellen Austausch pflegen.

In der sozialen Sonderzone Bahnhof stranden mitunter auch Heimat-, Obdach- und Gesetzlose. Doch die Rückzugsecken werden rar: Der Konsum verwandelt Kassen- und Bahnsteighallen in Shoppingwelten, deren Klangteppich das menschliche Stimmengewirr und den Sound der Züge übertönt. Der Bahnhof ist eben "ein Gefäß für höllischen Lärm"; Stille hat nur in der Sixtinischen Kapelle etwas Heiliges; in der Bahnhofshalle ist sie heillos (Peter Weber, "Bahnhofsprosa", 2002).

Die als "Kathedralen der Moderne" bezeichneten Großbahnhöfe der Gründerzeit mit ihren historisierenden Fassaden, pompösen Kuppeln und gläsernen Bahnsteigüberdachungen boten Künstlern eine inspirierende Atmosphäre. In den nüchternen, funktionalen Bahnhofsneubauten gehen Romantik und Poesie verloren. Automaten lösen Schalterbeamte ab. Wie würde Peter Handke seine herrliche Groteske "Zugauskunft" (in: "Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt") heute abfassen, die mit dem schlichten Satz beginnt: "Ich möchte nach Stock."?

Die Literatur stößt immer neue Bahnhofstore auf, in fantastische, fremde Welten. Ein solches Portal befindet sich im Londoner Bahnhof King’s Cross, zwischen den Gleisen 9 und 10: Dort, auf Bahnsteig 9 ¾, hat Joanne K. Rowling die Schwelle zu Harry Potters Fantasyland verortet.

Ingeborg Waldinger, geboren 1956, lebt als freie Journalistin in Wien und schreibt regelmäßig Reportagen und kulturhistorische Beiträge fürs "extra" und fürs "Wiener Journal".