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Die Einsamkeit der Kleinstadt

Von Andreas Wirthensohn

Reflexionen
© Foto: Manesse

Ohio ist nicht irgendein Bundesstaat der USA. Im Nordosten des Landes an der Grenze zu Kanada gelegen, ist er demographisch so etwas wie ein Spiegelbild der nationalen Bevölkerungsverteilung. Vor allem aber ist er einer der am heftigsten umkämpften battlegrounds bei Präsidentschaftswahlen, denn als swing state, der jeweils immer nur knapp an den einen oder den anderen Bewerber geht, ist ein Sieg hier Voraussetzung, um ins höchste Staatsamt zu gelangen. Nicht ohne Grund spielt George Clooneys jüngster Film, "The Ides of March", dieses desillusionierende Lehrstück in Sachen Moral, Loyalität und Politik, genau hier, an den Ufern des Eriesees.

Ob all der politischen Brisanz könnte man fast vergessen, dass in Ohio auch so etwas wie die Keimzelle der modernen amerikanischen Literatur liegt. 1919 erschien ein Buch mit dem eigenartigen Untertitel "Eine Reihe von Erzählungen aus dem Kleinstadtleben Ohios", an dem der Autor vier Jahre lang gearbeitet hatte.

Sherwood Anderson war sein Name, zur Welt gekommen war er 1876 in Camden und aufgewachsen in Clyde, beide Ohio; und dieser Anderson war mit rund vierzig Jahren endgültig aus seinem bisherigen Leben als Firmendirektor, Werbetexter und braver Familienvater ausgebrochen, um sich der Literatur zu widmen.

Groteske Gestalten

Als er 1941 starb - er hatte das Holzspießchen verschluckt, das in der Olive seines Martinis steckte, und daraufhin eine Bauchfellentzündung erlitten -, hatte er zahlreiche Romane, Erzählbände und andere Texte veröffentlicht, doch mit seinem Namen verband sich im Grunde immer nur ein Buch: "Winesburg, Ohio", dieser Reigen aus 24 Erzählungen, in dem die einfachen Menschen dieses fiktiven 1800-Seelen-Städtchens ihren großen Auftritt haben.

"Das Buch vom Grotesken" wollte Anderson sein Werk ursprünglich nennen, aber das wäre schon zu viel der Sinnbeschwerung für diese Episoden gewesen, die jeweils einem Bewohner von Winesburg und seiner vermeintlichen "Wahrheit" gewidmet sind. Sie tragen Titel wie "Hände", "Gottesfurcht", "Einsamkeit" oder "Der Denker" und könnten problemlos jede für sich bestehen, sind jedoch durch verschiedene Figuren und vor allem durch den Ort des Geschehens lose miteinander verbunden.

Nur einer taucht in allen Geschichten auf: George Willard, der junge Reporter des "Winesburg Eagle", der örtlichen Zeitung, die vor allem einem Grundsatz folgt: "Sie war bemüht, in jeder Ausgabe so viele Einwohner des Orts wie möglich mit Namen zu nennen." Mit einem solchen name dropping verschont uns Anderson zum Glück, aber George Willard, gerade einmal 17 Jahre alt, ist derjenige, dem die Menschen irgendwann ihr Herz ausschütten und ohne den wir nie etwas erfahren hätten vom "Begreiflichen und Liebenswerten an all den grotesken Gestalten im Buch des Schriftstellers".

Und es sind in der Tat seltsame Personen, die dieses Buch bevölkern. Etwa der ehemalige Lehrer Wing Biddlebaum, der seine Hände nicht bei sich behalten konnte und seinen Schülern ständig durchs Haar fuhr oder über die Wangen strich, woraufhin er mit Schimpf und Schande aus seiner Heimatstadt vertrieben wurde und nun in Winesburg lebt, "ständig verängstigt und verfolgt von einer gespenstischen Gedankenschar". Oder Jesse Bentley, ein gottesfürchtiger Farmer, den man heute wohl als religiösen Fanatiker bezeichnen würde und der in seinem Glaubenswahn kurz davor ist, Gott seinen Enkel David zu opfern. Oder der Pfarrer Curtis Hartman, der nicht gerne predigt und sich am liebsten in einen Raum im Glockenturm zurückzieht, von wo aus er die Nachbarin mit nackten Armen im Bett liegen sehen kann. Oder die Lehrerin Kate Swift, die sich in den deutlich jüngeren George Willard verliebt und ihn mit klugen Ratschlägen eindeckt, statt ihn einfach zu umarmen. Oder Enoch Robinson, dem nie etwas glückte in seinem Leben, der lange in einem New Yorker Zimmer lebte mit lauter Leuten aus einer Phantasie und aus dieser eingebildeten Welt herausfiel, als eine Frau dieses Zimmer betrat.

"Queer" nennt der Autor seine Gestalten, was man als "komisch" oder besser "wunderlich" übersetzen kann, und sie sind alle vom Leben geschlagen, "besessen von Ideen" und zugleich getrieben von einer Sehnsucht nach Liebe und Zuneigung, die ohne wirkliche Erfüllung bleibt. Sie wollen "vom Leben eine eindeutige Antwort" bekommen, doch die gibt es nicht, und so müssen sie weiterhin die Kämpfe ausfechten, die in ihnen toben. Die Männer haben "Frauenärger", die Frauen verzehren sich danach, zärtlich in den Arm genommen zu werden, und "zur Linderung ihrer Gefühle" laufen sie nachts durch die Stadt oder zu George Willard, um ihm ihre Geschichten zu erzählen. Diese Geschichten "begannen und endeten im Nirgendwo", sie sind voller Lücken und doch von einer berührenden Intensität, die ihresgleichen sucht.

Historisch und zeitlos

Das Städtchen in Ohio, das Anderson uns hier im Zustand der 1890er Jahre präsentiert, ist gezeichnet von Industrialisierung und Technisierung, von gesteigerter Mobilität und Massengesellschaft, und all das bedeutet "eine gewaltige Veränderung im Leben und in den Denkgewohnheiten unseres Volks der Mitte".

Und doch ist dieses wundersame Buch erstaunlich zeitlos, fast hat man das Gefühl, man könnte noch heute durch so manche Kleinstadt im Mittleren Westen der USA streifen und sich wie auf der Main Street oder dem Trunion Pike in Winesburg fühlen. Denn Anderson geht es nicht um Sozialkritik, sondern um die allgemeinen Fragen menschlicher Existenz: um die eigene "Bedeutungslosigkeit im Entwurf des Daseins", um den Protest "gegen alles, was das Leben hässlich macht", um den Traum von der "Erlösung", die schlicht darin bestehen kann, dass der Geliebte einen zärtlich in den Arm nimmt.

Winesburgs "schattenhafte Wesen" wirken wie aus der Zeit gefallen und sind uns Heutigen gerade darum umso näher in ihrem Ringen mit den "Gegebenheiten des Lebens".

Die Übersetzungen

Nun will es das literarische Schicksal, dass pünktlich siebzig Jahre nach dem Tod des Autors, da seine Texte nicht mehr urheberrechtlich geschützt sind, zwei Neuübersetzungen dieses modernen Klassikers erscheinen. Die eine stammt von Eike Schönfeld, einem der renommiertesten Literaturübersetzer, die andere von Mirko Bonné, der bisher selbst Romane, Gedichte und Gedichtübertragungen vorgelegt hat. Welche von beiden die bessere ist, lässt sich beim besten Willen nicht sagen.

Schönfeld wird vermutlich dem Original eher "gerecht" in seiner zurückhaltenden, aber nie altbackenen Diktion, während Bonnés Übertragung zupackender, moderner wirkt und dem "Urtext" etwas mehr Leben einhaucht, was ihm allerdings nicht an allen Stellen gut bekommt, wie ein einfaches Beispiel verdeutlichen mag. So übersetzt Bonné an einer Stelle das schlichte "brain" arg ambitioniert mit "Hirnwindungen", während sich Schönfeld mit "Gehirn" begnügt; andererseits würde man im gleichen Satz kurz zuvor eher Bonné den Vorzug geben, der aus "odd delicate thoughts" "merkwürdig feinsinnige Gedanken" macht, während Schönfeld nur "seltsame Gedanken" zu bieten hat. Aber das sind Kleinigkeiten. Viel entscheidender ist, dass beide Übertragungen ihren ganz eigenen Ton besitzen und diesen konsequent durchhalten.

Im deutschsprachigen Raum lag die erste Gesamtübersetzung von Hans Erich Nossack erst 1971 vor (alle vorherigen Ausgaben waren unvollständig gewesen oder stammten von mehreren Übersetzern), doch in den USA wurde "Winesburg, Ohio" schon bald zu einem der wirkmächtigsten Bücher. William Faulkner, John Steinbeck, Carson McCullers, Raymond Carver, John Updike, Richard Ford - sie alle und noch viele mehr sind bei Anderson in die Lehre gegangen, und noch Philip Roths Roman "Empörung" (2008) siedelt das College, in dem der sterbende Protagonist seine Schulzeit verbracht hat, in Winesburg, Ohio an. Selbst im amerikanischen Film wirkt die Gattung der "interlinking short stories" bis heute nach: Man denke nur an "Short Cuts" von Robert Altman (1993) oder an den oscarprämierten Thriller "L.A. Crash" (2004).

Das Amerikanischste an diesem Buch sind seltsamerweise die Melancholie und das Gefühl der Vereinzelung, die das Leben der Menschen durchwehen. Daniel Kehlmann zitiert in seinem wundervollen Nachwort den Philosophen George Steiner mit der Bemerkung, Amerika sei nahe seiner Mitte das traurigste Land der Erde. Das mag man angesichts der gängigen Klischees vom Optimismus der Amerikaner kaum glauben. Doch der schon in der Unabhängigkeitserklärung beschworene "pursuit of happiness", das Streben nach Glück, macht müde, und die amerikanische Literatur hat sich schon immer bevorzugt für diejenigen interessiert, die nicht zu den "happy few" gehören -für die einfachen Menschen, die mit dem Leben hadern, sich durchschlagen und am Ende unglücklich zurückbleiben.

Als George Willard schließlich, bepackt mit einem Koffer und all den Geschichten, die man ihm anvertraut hat, die Stadt verlässt, um in Chicago oder New York Karriere zu machen, sitzt er gedankenverloren im Zug, "und als er sich aufsetzte und wieder aus dem Fenster schaute, war die Stadt Winesburg verschwunden, und sein Leben dort war zu einem bloßen Untergrund geworden, um darauf die Träume seines Mannseins zu malen". Doch ohne Belle Carpenter, Seth Richmond, Tom Foster und all die anderen wäre er ein Niemand ohne Träume, die festzuhalten sich lohnte.

Andreas Wirthensohn, geboren 1967, ist freier Lektor, Übersetzer und Literaturkritiker und lebt in München.

Sherwood AndersonWinesburg, Ohio
Übersetzt von Eike Schönfeld, mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Manesse Verlag, München 2012, 300 Seiten, 22,60 Euro.

Winesburg, Ohio
Übersetzt und mit einem Essay von Mirko Bonné. Schöffling & Co., Frankfurt/M. 2012, 311 Seiten, 23,60 Euro.