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Der Taufpate Amerikas

Von Wolfgang Ludwig

Wissen
Vespuccis Denkmal in den Uffizien seiner Heimatstadt Florenz.
© Foto: Deror avi/ Wikimedia

Bekanntlich gilt Cristoforo Colombo, auch Christoph Kolumbus genannt, als Entdecker Amerikas, obwohl er nicht der erste Europäer war, der den neuen Kontinent erreicht hatte. Am 12. Oktober 1492 betrat er die Bahamas. Dieser ersten Reise zum vermeintlichen Indien über die Westpassage folgten noch drei weitere. Eigentlich müsste der Kontinent also "Kolumbia" oder so ähnlich heißen. Die Frage, warum dem nicht so ist, führt zu Amerigo Vespucci, geboren am 9. März 1452 (oder 1454), gestorben am 22. Februar 1512.

Vespucci hatte mehr Glück und vor allem ein besseres Gefühl für Marketing als Kolumbus. Auch er unternahm unter spanischer und portugiesischer Flagge Expeditionen gegen Westen - mindestens zwei gelten als gesichert - und erreichte beide Male das südamerikanische Festland.

Im Unterschied zu Kolumbus veröffentlichte er nach seinen Reisen diverse Texte, darunter 1502 den kurzen Reisebericht "Mundus Novus", den er an Lorenzo di Pierfrancesco de Medici in seiner florentinischen Heimat sandte. Der detaillierte, in einfachen Worten abgefasste Bericht über die Lebensgewohnheiten der Einheimischen stieß auf reges Interesse und wurde sehr bald vom Italienischen ins Lateinische, Französische und in andere Sprachen übersetzt. Außerdem vermerkte Vespucci seine Neuentdeckung auf Landkarten, die ebenfalls pu-bliziert wurden.

Das neue Weltbild

Eine französische Übersetzung des "Mundus Novus" erreichte auf verschlungenen Wegen Saint-Dié-des-Vosges. Das ist heute ein kleines, eher verschlafenes Städtchen mit rund zwanzigtausend Einwohnern, knappe 100 Kilometer südwestlich von Straßburg. In der Renaissance sah die Sache allerdings anders aus: René II. von Lothringen wählte die Stadt zu seinem Stammsitz, förderte Kunst, Kultur und vor allem das Unterrichtswesen, das durch das örtliche Kloster organisiert wurde. Zahlreiche Persönlichkeiten des Humanismus unterrichteten in der Stadt, darunter Martin Waldseemüller, ein Geograph und Kartograph, und Matthias Ringmann, ein Philologe. Diese beiden arbeiteten gerade an einer Neuausgabe der geographischen Schriften des griechischen Gelehrten Claudius Ptolemäus.

Da kam Vespuccis Schrift aus Italien gerade recht, um das geographische Weltbild aktuell upzudaten. Die Idee, das beschriebene neue Land nach Amerigo Vespucci als "Amerika" zu bezeichnen, stammte von Waldseemüller, dem kleinen Geographen aus dem kleinen Saint-Dié. Auch auf einer von ihm erstellten Weltkarte ist das neue Land mit seiner dieser Bezeichnung vermerkt und wurde unter diesem Namen zum allgemeinen Sprachgebrauch.

Wer aber war dieser Amerigo Vespucci, dessen Vorname durch glückliche Fügungen so bekannt wurde? Er wurde in Florenz geboren in einer Zeit, als die Medici im Zenit ihrer Macht standen und Künstler wie Brunelleschi, Fra Angelico, Donatello am Höhepunkt der Renaissance ihre größten Kunstwerke schufen. Das damals rund vierzigtausend Einwohner zählende Florenz galt als Stadt, in der es lebenswichtig war, gute Beziehungen zum Herrscherhaus zu unterhalten. Genau das fehlte der Familie Vespucci. Die weitverzweigte Familie war zwar angesehen, kämpfte sich aber mit Woll- und Seidenproduktion, einem der wichtigsten Geschäftszweige in Florenz, so durch. Hin und wieder gelang es dem jungen Amerigo, einen fürstlichen Auftrag zu ergattern, zum Beispiel war er einige Zeit als Schuldeneintreiber für das Haus Medici unterwegs. Allzu einträglich dürfte dieser Job jedoch nicht gewesen sein, sodass er auch als Überbringer von intimen Botschaften von höhergestellten Personen an verschiedene Damen unterschiedlichsten Rufes tätig gewesen sein soll - böse Zungen behaupten, er hätte sogar Kupplerdienste geleistet.

Wie dem auch gewesen sein mag - eine allzu rosige Zukunft bot Florenz dem jungen Amerigo und seinen Brüdern nicht. Der Entschluss, ins Ausland zu gehen, war daher eine logische Konsequenz: Ein Bruder ging nach Ungarn an den Hof des Königs Corvinius; Amerigo entschied sich für Sevilla, eine Stadt von ähnlicher Größe wie Florenz und ein wichtiger Handelsort für die agrarischen Produkte des Hinterlandes, wie Olivenöl und Wolle. Ob hinter der Übersiedlung ein Auftrag von einem Mitglied der Herrscherfamilie steckte oder ob es Abenteuerlust war, die ihn zu eigenen Geschäften trieb, lässt sich nicht genau nachvollziehen.

Eine schlechte Wahl war Sevilla jedoch keinesfalls: Die Stadt erlebte damals mit der Seidenproduktion und dem Handel mit landwirtschaftlichen Gütern einen enormen Wirtschaftsboom, mehrere Dutzend Florentiner und andere Italiener waren zu Geschäftszwecken ebenfalls schon dort - darunter ein gewisser Gianotto Berardi, Geschäftsmann und Vertrauter von Lorenzo di Pierfrancesco de Medici, und ein Abenteurer namens Cristoforo Colombo, der gute Beziehungen zu Bankhäusern unterhielt.

Als Vespucci Ende 1491 oder Anfang 1492 in Sevilla ankam, hielt er sich zunächst einmal an Berardi, der alles unternahm, um Kolumbus bei seiner wahnwitzigen Idee, einen Seeweg nach Indien zu finden, finanziell zu unterstützen. Die Dinge liefen gut für Vespucci: Da es in Sevilla nicht die streng hierarchische Gesellschaftsschichtung wie in Florenz gab, fand er schnell eine Frau, die er heiratete.

Sein Gesellschaftsstand oder die Tatsache, dass er Neuankömmling war, spielte eine untergeordnete Rolle. Hingegen erwiesen sich die gesellschaftlichen Beziehungen der Familie seiner Frau als sehr nützlich.

Berardi hingegen spielte ein waghalsiges Spiel: In seinem Bestreben, Kolumbus zu unterstützen, setzte er einen großen Teil des Vermögens seines Auftraggebers aus Florenz in den Sand. Die Reisen des Entdeckers wurden nur zum Teil vom spanischen Königshaus finanziert, zum größeren Teil aus diversen Spenden - unter anderen eben von Berardi.

Als Kolumbus im März 1493 von seiner ersten Reise zurückkehrte, war nicht wirklich klar, wo er eigentlich gelandet war, aber er brachte "überzeugende Beweise, dass es ein exotisches und ausbeutbares Land" gewesen ist (das heutige San Salvador). Am spanischen Hof hielt man seine Erkenntnisse für "göttlich", egal, wo er gewesen sein mochte, und erhob ihn in den Adelsstand.

Rückschläge

Deutlich weniger euphorisch war die Stimmung im Juni 1496, nach der Rückkehr von seiner zweiten Reise. Die auf einer anderen entdeckten Insel (Haiti) zurückgelassene Mannschaft war (wahrscheinlich nach internen Streitigkeiten und durch Gegenwehr der Indios) ermordet worden, Klima und Landschaft stellten sich für Europäer als siedlungsungeeignet dar und mit den Einheimischen war es nicht möglich, einen geregelten Bergbau zu beginnen, um an vermutetes Gold zu kommen. Auch Colombos und Berardis Vorschläge, die mitgebrachten Einheimischen als Sklaven zu verkaufen - Berardi hatte mit Sklavenhandel einschlägige Erfahrung -, wurde vom spanischen Königshaus aus grundsätzlichen Gründen abgelehnt. Die Einheimischen mussten auf Befehl von Königin Isabella sogar wieder zurückgebracht werden. Außerdem setzte sich immer mehr die Erkenntnis durch, Colombo hätte nicht irgendeine Inselgruppe nahe Indien, sondern bloß ein Hindernis am Weg nach Indien entdeckt.

Nur Berardi glaubte immer noch blind an Colombo, wollte eine weitere Expedition mitfinanzieren, brachte aber das Geld nicht mehr auf. Er hoffte doch noch auf eine mehr oder weniger illegale Art, billige Arbeitskräfte zu importieren und einen Teil seines Geldes wieder zu sehen.

Kurz bevor er im Dezember 1495 starb, kam ihm die späte Erkenntnis, dass er "sein Vermögen und das seiner Freunde" vernichtet hätte. Trotzdem empfahl er seinen Mitarbeitern - darunter Vespucci -, Colombo weiter zu unterstützen.

Dieser unternahm noch zwei weitere Reisen, die aber auch nicht den wirtschaftlichen Erfolg brachten, und bei denen er, wie schon zuvor, Gräueltaten gegen die ursprünglich friedlich gesinnte einheimische Bevölkerung mit zu verantworten hatte.

Vespucci hingegen löste die Verbindungen zu Colombo und unternahm eigene Reisen nach Amerika. Überfahrtsmöglichkeiten gab es inzwischen einige: Die Portugiesen organisierten eigene Erkundungsfahrten gegen Westen, von spanischer Seite gab es Fahrten, um in den neuen Kolonien, wo es unter Colombo recht chaotisch zuging, nach dem Rechten zu sehen.

Vespucci entschied sich 1499 bis 1501 zu einer Expedition in den Westen, bei der er die Amazonas-Mündung erreichte. Von 1501 bis 1502 unternahm er eine weitere Reise unter portugiesischer Führung. Eine dritte Reise ab 1504 sowie eine andere im Jahr 1497 gelten als ungesichert.

Die Fahrt von 1499 bis 1501 stand unter dem Kommando des am spanischen Hof geschätzten Alonso de Hojeda, dem man auch zutraute, in die von Colombo gegründeten, schlecht verwalteten und von dubiosen Männern besetzten Kolonien Ruhe und Sicherheit zu bringen.

Die nächste Reise von 1501 bis 1502 unter dem in portugiesischen Diensten stehenden Gonçalo Coelho führte die südamerikanische Küste entlang bis zum heutigen Uruguay und hatte weitreichende Folgen.

Was Vespucci auf seinen Reisen antrieb, wissen wir nicht; wir wissen nur, wonach ihn die Nachwelt beurteilte - das war der nach seiner Rückkehr im Jahr 1502 in italienischer Sprache verfasste und zum Druck vorgesehene Reisebericht "Mundus Novus", den Amerigo an seinen früheren Kontaktmann Lorenzo di Pierfrancesco in Florenz schickte. In lateinischer Übersetzung fand die Schrift mit der Beschreibung der Neuen Welt rasante Verbreitung in Europa und kam um 1507 eben auch an den Kartographen Martin Waldseemüller.

Der nur wenige Seiten umfassende Text ist stark von Gefühlen geleitet, beschreibt mehr, als er Zusammenhänge oder Ursachen erklärt und klingt somit im heutigen Sinn wenig wissenschaftlich. Dennoch ist er trotz dieser Einschränkungen die erste Beschreibung der Neuen Welt.

Staunende Worte

Über die tropische Vegetation Südamerikas findet Vespucci staunende Worte: "Wir gingen an Land und fanden so viele Bäume, dass es einfach wunderschön war - nicht nur die Größe der Bäume, sondern auch der grüne Farbton, so intensiv wie ihn Blätter noch nie produziert haben. (. . .) Das steigerte unsere Eindrücke dermaßen, dass wir uns wunderbar erholt fühlten." Der (Regen-)Wald war so dicht, "dass ein Vogel kaum durchfliegen konnte".

Auch in Bezug auf die Menschen bleibt Vespucci an der Oberfläche: Es fällt ihm nicht auf, dass die besuchten Indios unterschiedlichen Stämmen mit verschiedenen Sprachen angehören; statt dessen weist er ausführlich darauf hin, dass sie unbekleidet waren, das Land Allgemeingut sei und jeder sich nehmen könne, was er wolle - Aussagen, die in dieser Verallgemeinerung stark in Zweifel gezogen werden. Wiederholte Anspielungen auf das Sexualverhalten der Indios dienten wahrscheinlich auch dazu, die Sensationsgier der Leser in Europa zu steigern.

Die zahlreichen Veröffentlichungen von "Mundus Novus" dürften für Vespucci einträglich gewesen sein, sodass er sich 1504 zu einer weiteren Publikation entschloss, die auf Briefen an das florentinische Staatsoberhaupt Piero Sonderini basiert. In dieser Schrift werden Realität und Fik- tion, Zahl und Ziele der Reisen und viele Fakten aber derart verändert, dass sie nicht als seriöse Quelle angesehen wird.

Vespucci galt bis ins 16. Jahrhundert als Entdecker Amerikas, bis die Erben von Colombo gerichtlich diese Ehre für ihren Vorfahren durchsetzen konnten.

Zitate nach Fernandez-Armesto: Amerigo. New York, 2007.Wolfgang Ludwig, geboren 1955, unterrichtet Deutsch an der Österreichischen Schule in Shkodra (Albanien) und schreibt Kulturreportagen.