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Unpolitisch und ohne Berührungsängste

Von Thomas Karny

Reflexionen

Ein Leben zwischen kühl kalkulierendem Opportunismus und wissenschaftlichem Glanz.


Wernher von Braun.
© Nasa

Mit der Gewalt von 4000 Tonnen Schubkraft hebt am 16. Juli 1969 die 110 Meter hohe Saturn V von der Startrampe des Weltraumbahnhofs Cape Kennedy, Florida, ab. Fünf Tage später setzt Neil Armstrong den "kleinen Schritt für den Menschen, aber den großen Sprung für die Menschheit". Die Mondlandung ist eine Sensation, die den USA nicht nur die technologische Vorherrschaft in der Welt sichert, sondern auch das nationale Selbstbewusstsein, das in den letzten Jahren erheblich gelitten hat, deutlich hebt.

Zweieinhalb Jahrzehnte zuvor, am 8. September 1944, schlugen die ersten deutschen V2-Raketen in Paris und London ein. Sie kamen ohne das vorwarnende Dröhnen der Bombergeschwader buchstäblich aus dem Nichts und töteten 5000 Menschen. Der Prototyp der amerikanischen Mondrakete war eine nationalsozialistische Terrorwaffe. Technischer Leiter beider Raketenprogramme war Wernher von Braun. Die Tätigkeit des hoch begabten und unterschiedliche politische Strömungen geschickt nutzenden Ingenieurs ist im Spannungsfeld zwischen kühl kalkulierendem Opportunismus und technologischer Glorie angesiedelt.

Der Spross einer angesehenen Familie, am 23. März 1912 als zweiter von drei Söhnen im posischen Wirsitz geboren, begeisterte sich bereits als Gymnasiast für die Raketentechnik. Sehr zum Leidwesen seines Vaters, der unter Reichskanzler Franz von Papen Landwirtschaftsminister war und für seinen Sohn eine Tätigkeit im diplomatischen Dienst oder als Offizier für standesgemäß hielt. Doch dieser inskribierte an der Technischen Hochschule in Berlin, knüpfte schnell Kontakte zur Gruppe um die Raketenpioniere Rudolf Nebel und Hermann Oberth - und in weiterer Folge zum Militär, in dem er den einzigen potenten Finanzier für seine Raketenpläne sah.

Ende 1932 trat Braun als ziviler Sachbearbeiter ins Ballistische Referat des Heereswaffenamtes ein. Die in dieser Tätigkeit erzielten Forschungsergebnisse über Flüssigkeitsraketen reichte er im April 1934 als Dissertation ein. Die Zeiten hatten sich seit gut einem Jahr geändert, die Weimarer Republik war dem Dritten Reich gewichen, Brauns Arbeit galt nun als "geheime Kommandosache" und durfte nicht veröffentlicht werden.

Im September 1933 hatte Hitler die Raketenbauer zum ersten Mal besucht und die revolutionäre Antriebstechnik - bei all ihrer Unausgereiftheit - als Zukunftstechnologie erkannt. In der Folge wurden finanzielle Mittel freigemacht, die für die Entwicklung einer neuartigen Waffe gedacht waren, für Wissenschafter wie Braun aber einen regelrechten Geldsegen für ihre Forschungen darstellten. Braun war jung, unpolitisch und kannte keine Berührungsängste, wenn es um die Förderung seiner Idee ging.

"Aus seiner Sicht", versucht Neffe Christoph von Braun seinen Onkel zu verstehen, "wurde nicht er vom Regime ausgebeutet, sondern er beutete das Regime aus." 1937 wurde in Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom ein Entwicklungszentrum für Raketen, die "Heeres-Versuchsanstalt", eröffnet und Braun zu ihrem Technischen Leiter bestimmt. Er war gerade 25 Jahre alt und nun Chef von 350 Mitarbeitern.

Wernher von Braun (links) im Gespräch mit US-Präsident John F. Kennedy.
© Nasa

Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 brachte die Peenemünder zunächst unter starken Legitimationsdruck. Die hohen Kosten schienen in keinem Verhältnis zu den Resultaten zu stehen, und die Konzeption des Blitzkrieges gab der Produktion anderer Waffen den Vorzug. Dies änderte sich jedoch nach der Niederlage in der Luftschlacht um England. Am 15. September 1941 erließ Hitler den Befehl, dass der Entwicklung der A4 (Aggregat 4) und der Vorbereitung auf ihre Serienproduktion nunmehr die höchste Dringlichkeitsstufe einzuräumen sei.

Am 3. Oktober 1942 glückte der erste erfolgreiche Start einer A4. Auf ihrem 192 Kilometer langen Flug stieg sie mit einer Geschwindigkeit von 5400 km/h auf 85.000 Meter, ehe sie entsprechend der vorausberechneten Parabel in die Ostsee stürzte. Was für die Peenemünder Forscher der Beginn der Raumschifffahrt war, war für das NS-Regime der Auftakt zur Massenfertigung.

In Peenemünde, Friedrichshafen und den Rax-Werken bei Wiener Neustadt peilte man mit zur Zwangsarbeit eingesetzten KZ-Häftlingen einen monatlichen Ausstoß von jeweils 300 Raketen an, die unter der Bezeichnung V2 ("Vergeltungswaffen") zum Einsatz kommen sollten. Bei einem alliierten Bombenangriff auf Peenemünde im August 1943 kamen 735 Menschen ums Leben.

Tragischerweise hatten die britischen Bomben vor allem das Häftlingslager getroffen, während die meisten Prüfstände und Labors intakt blieben. Nach einer kurzen Unterbrechung konnten die Wissenschafter weiterarbeiteten, die Produktion wurde in der Folge im thüringischen Nordhausen konzentriert. Dort waren bis Kriegsende 60.000 Häftlinge des neu errichteten KZ Dora-Mittelbau für den Bau einer gigantischen Untertagefabrik und in der Raketenfertigung eingesetzt worden. Allein bei der Errichtung der Stollen starben 3000 Häftlinge, bis zum Produktionsende im März 1945 erhöhte sich die Zahl um weitere 10.000.

Mit dem Einsatz der "Vergeltungswaffen" trat der Krieg im Sommer 1944 in eine neue Phase. Am 13. Juni schlugen die ersten V1, die mit ihren Tragflächen eher fliegende Bomben als Raketen waren, in London ein und töteten sechs Menschen. Nur jede sechste der 244 abgeschossenen V1 hatte das Ziel erreicht. Auch die wenige Wochen später zum Einsatz kommenden V2-Raketen erwiesen sich als unzuverlässig und wenig zielgenau. Freilich war der Blutzoll bei ihrem Ersteinsatz gegen London und Paris am 8. September 1944 und wenig später gegen Antwerpen mit insgesamt 8500 Toten hoch. Doch für eine Kriegswende kamen die "Wunderwaffen" zu spät.

Als die Rote Armee am 5. Mai 1945 Peenemünde eroberte, fiel ihr nichts Brauchbares in die Hände. Wernher von Braun und seine Kollegen hatten sich mit allen wichtigen Unterlagen in die bayerischen Alpen abgesetzt. 500 Peenemünder warteten in einer SS-Kaserne in Oberammergau auf die Amerikaner, zu denen sie auf Grund ihres speziellen Know-how’s überlaufen zu können hofften. Für 127 von ihnen erfüllte sich diese Hoffnung nach ausführlichen Verhören, in denen Colonel Holger N. Toftoy vom US-Raketenwaffenamt die Wertigkeit ihres Wissens abklopfte, tatsächlich.

Die Deutschen wurden über das streng geheime "Project Overcast" ("Verdunkelung") in die USA gebracht. 1949 wurde für sie der USA-Aufenthalt mittels einer fingierten Einreise über Mexiko im Nachhinein legalisiert. Das Ausschließungskriterium, der NSDAP angehört zu haben, spielte bald keine Rolle mehr. Brauns SS-Zugehörigkeit als Sturmbannführer schönten die Amerikaner im Abschlussbericht zu einem "Ehrenrang".

Braun hatte sein wissenschaftliches Comeback zwei Krisen zu verdanken: Die Sowjetunion hatte am 29. August 1949 ihre erste Atombombe gezündet und Nordkorea 1950 den Süden des Landes überfallen. Die westliche Welt sah sich herausgefordert, das Wort "Aufrüstung" war in aller Munde. Braun entwickelte auf dem Red-stone Areal in Huntsville, wo er als Technischer Direktor mit einem altbewährten Team und ähnlichen Strukturen seine Arbeit von Peenemünde fortsetzte, die erste funktionsfähige strategische Atomrakete der Welt.

Anders als im Dritten Reich konnte Braun in den USA lautstark die Werbetrommel für seine Raumflugpläne rühren. In Magazinen warb er für seine Idee des Mondflugs, gemeinsam mit Walt Disney gestaltete er mehrere Raumfahrttrickfilme. Die Wende vom militärischen zum zivilen Raketenprogramm brachte der Kalte Krieg, in dem es neben Armeegrößen und Waffenarsenalen auch um den Wettstreit der Systeme ging.

Als die als technologisch rückständig eingeschätzte Sowjetunion 1957 mit dem Sputnik den ersten Satelliten in die Erdumlaufbahn schoss und vier Jahre später Juri Gagarin als ersten Menschen in den Weltraum - und auch heil wieder zurück - brachte, saß der Schock bei den Amerikanern tief. Mit Wernher von Braun als Frontmann nahmen die USA die sowjetische Herausforderung an. Am 31. Jänner 1958 setzten sie ihren ersten Satelliten aus, am 20. Juli 1969 löste Apollo 11 John F. Kennedys Versprechen, noch vor Ende des Jahrzehnts am Mond zu landen, postum ein. Neben Neil Armstrong ist Wernher von Braun der große Held. In einem Triumphzug wird er durch die Straßen getragen und als "Mr. Space" gefeiert. Der Beutedeutsche - seit 1955 US-Staatsbürger - ist am Höhepunkt seiner Karriere. Wenige Jahre später wird ein Krebsleiden diagnostiziert, dem er am 16. Juni 1977 erliegt.

Jahrzehntelang galt Wernher von Braun als die Ikone der Raumfahrt schlechthin. Neben der fachlichen Autorität mit naturgegebenen Attributen wie gutem Aussehen und großartigem Charisma gesegnet, war er ein Sympathieträger ersten Ranges. Auch das Familienleben war mit der um 17 Jahre jüngeren Gattin Maria von Quistorp an seiner Seite und zwei Kindern präsentabel.

Sein Image schien keinerlei Kratzer zu haben. Wollte jemand Licht in seine Nazi-Vergangenheit bringen, führte Braun zu seinen Gunsten ins Treffen, dass er 1944 selbst in Gestapo-Haft gesessen ist. Man hatte ihn verdächtigt, nach Großbritannien fliehen zu wollen. Angesprochen auf die Vorgänge in Dora-Mittelbau, zeigte er sich deprimiert über "die Hungergestalten, die man dort bei der Arbeit sehen musste". Das war in den 1960er Jahren, insistierende Nachfragen blieben aus.

Die Zeitgeschichtsforschung interessierte sich bei den Technikern - anders als etwa bei Ärzten und Juristen - nur zögerlich für ihre Verstrickungen ins Nazi-Regime. Kritische Arbeiten erschienen erst in den 1990er Jahren, wie etwa Rainer Eisfelds sehr erhellende Biografie "Mondsüchtig: Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei", die nun im zu-Klampen-Verlag neu aufgelegt wurde. Demnach wusste Braun nicht nur über die Vorgänge in Dora-Mittelbau und die vielen Opfer, die die mörderischen Arbeitsbedingungen gefordert hatten, Bescheid, sondern wählte im KZ Buchenwald selbst geeignete Häftlinge für den Arbeitseinsatz aus.

Zu eng sind die historischen Sternstunden mit den barbarischen Fertigungsmethoden eines Terrorregimes verknüpft, als dass die Biografie des Raketenprofessors, der die Politik stets nur als Spielmasse zur Durchsetzung seiner Ideen gesehen haben will, im gnädigen Licht des Mondes betrachtet werden könnte.