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Wohnraum aus der Fabrik

Von Reinhard Seiß

Reflexionen

Während sich der industrialisierte Wohnbau hierzulande nicht durchzusetzen vermochte, wurde er andernorts zum Maß aller Dinge.


Der Plattenbau wurde vor allem zum Symbol der kommunistischen Staaten Europas. Das Prestigeprojekt der DDR war der Ost-Berliner Stadtteil Marzahn.
© Foto: Seiß

"Bürgermeister Jonas hob heute in der Montagefabrik in Kagran die erste Betonplatte mit Hilfe eines Kranes aus ihrer Form. Mit dieser probeweisen Inbetriebnahme der Wohnungsfabrik in der Erzherzog Karl-Straße hat auch für die Gemeinde Wien die Industrialisierung des Wohnungsbaues begonnen. Die Stadträte Bauer, Heller und Koci, Baudirektor Dipl.-Ing. Dr. techn. Koller, der Schöpfer des Fertigteilverfahrens, der französische Ingenieur Raymond Camus mit seinem Stab waren bei der Geburt der ersten Betonplatte vertreten."

Häuser aus der Fabrik

So berichtete der Pressedienst des Rathauses am 3. Mai 1962 nicht ohne Pathos davon, dass auch Wien nun in das Zeitalter des modernen Wohn- und Städtebaus eingetreten sei. "Nur einige hundert Meter von der Wohnungsfabrik entfernt beginnt man bereits mit dem Aushub für die erste Wohnhausanlage aus Fertigbauteilen. Bis Jahresende sollen die ersten 60 Wohnungen aus der Wohnungsfabrik fertig sein. Insgesamt sollen 5000 Wohnungen errichtet werden, die durch ein Fernheizwerk mit Wärme versorgt werden."

Das Verfahren, das die Montagebau Wien Ges.m.b.H. übernommen hatte, war 1948 vom Pariser Architekten Raymond Camus als erstes komplett industrialisiertes Wohnbausystem entwickelte worden, bei dem seriell produzierte Betonplatten in einer Art Schachtelbauweise übereinander gestapelt werden. Camus optimierte auch die Baustellenlogistik, sodass die städtebauliche Gestalt vieler Großsiedlungen fortan durch technische Grenzwerte geprägt wurde: Die Größe der Platte bestimmte die Gebäudetiefe - ihre Tragfähigkeit wiederum gab die Geschoßanzahl vor. Und der Abstand zwischen den Gebäuden resultierte aus den Radien der Montagekräne. Nicht nur in französischen Vorstädten entstand dadurch eine Vielzahl nüchterner, eintöniger Wohngebiete. Das Camus-System wurde ab den 1950er Jahren in die französischen Kolonien, aber auch nach Skandinavien, in die Niederlande, nach Westdeutschland, Österreich oder in die Schweiz "exportiert", um den enormen Wohnraumbedarf der Nachkriegszeit und bald auch den starken Zuzug in die Städte schnell und kostengünstig bewältigen zu können.

Schlafstädte in Wien

In Österreich entstanden bis Mitte der 1970er Jahre auf diese Weise einige der größten "Schlafstädte" des Landes - etwa die Großfeldsiedlung in Wiens 21. Bezirk, die Wohnanlage auf den Trabrenngründen im 22. Bezirk oder die Per Albin Hansson-Siedlung Ost in Wien-Favoriten. Die Montagebau Wien Ges.m.b.H. errichtete sogenannte Wohnungsfabriken in unmittelbarer Nähe der Großbaustellen, um die Transportwege für die vorgefertigten Betonplatten kurz zu halten.

Anfänglich ordnete man die vier- beziehungsweise neungeschoßigen Gebäude in parallelen Zeilen an. Später wurden die Plattenbauten mit bis zu 16 Geschoßen - im Bemühen um mehr Abwechslung - auch im rechten Winkel aneinander gereiht, diagonal zueinander aufgestellt, mäanderförmig oder hofartig gruppiert. Wie die meisten anderen westeuropäischen Städte musste aber auch Wien schließlich erkennen, dass der Montagebau nicht günstiger kommt als etwa die Scheiben- oder Skelettbauweise.

Während die Platte in Österreich ausschließlich im kommunalen Wohnbau zum Zuge kam, wurde der industrialisierte Siedlungsbau in der calvinistischen Schweiz von einem Kapitalisten par excellence vorangetrieben - dem Züricher Bauunternehmer Ernst Göhner. Dies trug der Platte - der Verkörperung des sozialistischen Städtebaus - in der Schweiz paradoxerweise vor allem Kritik von links ein: Göhner - der nicht nur seine Wohnungen auf eigenes Risiko baute, sondern auch die Grundstücke dafür selbst ankaufte - wurde als Spekulant abgetan, der für die gesichtslosen Vorstädte, ja für die Zerstörung der Schweizer Landschaft an sich verantwortlich sei. Volketswil im heutigen Agglomerationsraum Zürich - eines jener ehemaligen Bauerndörfer, die zu suburbanen Schlafstädten mutierten - ist heute in der gesamten Schweiz bezeichnenderweise unter dem Namen "Göhnerswil" bekannt.

Der Ruf dieser Großsiedlungen war und ist freilich schlechter als die realen Lebensbedingungen dort. Wurden die Plattenbaugebiete an den Rändern französischer oder westdeutscher Großstädte tendenziell von sozial schwachen Familien bezogen, so dienten und dienen sie in der Schweiz durchaus als Quartiere für den Mittelstand.

Siegeszug im Osten

Ihren wirklichen Durchbruch schaffte die Plattenbauweise aber im kommunistischen Osten, wo sie mit weit größerer Kontinuität und Konsequenz als im Westen zum Einsatz gelangte - zumal Uniformität im Sozialismus kein Makel, sondern gesellschaftliches Ziel war, und die ökonomische wie soziale Situation im COMECON auch kaum Alternativen zuließ. "Genossen! Der Erfolg der Industrialisierung im Bauwesen und die Senkung der Baukosten hängen in erheblichem Maße von der Arbeit der Architekten und Konstrukteure ab. Wir können nicht dulden, dass sich der Bauablauf häufig wegen der langsamen Arbeit der Entwurfsbüros verzögert und bisweilen an einfachen Gebäuden zwei Jahre und länger herumprojektiert wird. Um erfolgreich und schnell zu bauen, muss das Bauen nach Typenentwürfen vor sich gehen. Wir sind nicht gegen Schönheit, jedoch gegen alle Arten von Überflüssigkeiten!"

Mit seiner Rede auf der Unionskonferenz der Baufachleute der UdSSR beendete Nikita Chruschtschow 1954 die verschwenderische Ära der repräsentativen Architektur der Stalin-Zeit, in der an den Bedürfnissen der verarmten sowjetischen Gesellschaft vielfach vorbeigeplant wurde.

Plattenbau in Wien: die Per Albin Hansson-Siedlung Ost in Favoriten.
© Foto: Buchhändler/Wikimedia Commons

Stalin hatte Millionen Obdachlose hinterlassen, weshalb sein Nachfolger nun die rasche Linderung der ärgsten Wohnungsnot durch billige Plattenbauten forderte. Die sogenannten Chrusch-tschowkis, vier- und fünfgeschossige Plattenbauten, prägten schon wenig später die gesamte UdSSR: Im europäischen Landesteil dienten sie dem Wiederaufbau der 1700 im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte - und Sibirien wurde durch die Platte erst so richtig urbanisiert.

Das "Neue Bauen"

Nach sowjetischem Vorbild setzten auch die Bruderstaaten Osteuropas auf den rationalisierten Wohnbau, sodass die bald allgegenwärtigen Plattenbausiedlungen zum Synonym für kommunistische Städte und sozialistisches Leben wurden. Dabei zielten die Vorläufer des industriellen Massenwohnbaus auf ein leistbares kleinbürgerliches Wohnidyll ab.

So ließ einer der Pioniere des "Neuen Bauens" der 1920er und 30er Jahre, Walter Gropius, in seiner Versuchssiedlung Dessau-Törten über 300 Einfamilienhäuser aus vorgefertigten Bauteilen zu einer Gartenstadt für eine eher mittelständische Bewohnerschaft montieren. Standardisierte Betonsegmente wurden dabei auf Schienen zur Baustelle gebracht und dort von Kränen zusammengesetzt. Ähnlich erfolgte die Errichtung der Frankfurter Römerstadt durch Ernst May, der wenig später, angesichts der Wirtschaftskrise in Deutschland, mit einer ganzen Gruppe von Planern in die damals aufstrebende UdSSR ging.

Vier Jahrzehnte später fehlte es ebendort an den erforderlichen Mitteln, um qualitätvoll planen und bauen zu können. Aus der Not heraus, möglichst viel an Infrastruktur - sprich Straßen und Tramwayschienen, Wasser- und Kanalleitungen - einsparen zu müssen, wurden die Plattenbausiedlungen in der Ära Breschnew immer höher und dichter. Ab den 1970er Jahren entstanden 11- und 16-geschossige Wohnscheiben sowie 16- und 22-stöckige Punkthochhäuser, die wahrlich mons-tröse Gebäudeschluchten erzeugten. Die Qualität der Platten, die Gestaltung der Freiräume sowie die Versorgung der Siedlungen ließen speziell in den 1980er Jahren angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs des Ostblocks mehr und mehr nach.

Immerhin gab es in der UdSSR eine gewisse typologische Vielfalt: Angepasst an die unterschiedlichen Klimazonen im größten Land der Erde wurden vier unterschiedliche Plattenbausysteme entwickelt. Dies ermöglichte auch den Export der Platte in die gesamte sozialistische Welt - von Vietnam über Angola bis nach Kuba.

In der DDR kam dem Wohnbauprogramm eine geradezu identitätsstiftende Funktion zu. Die Lösung der Wohnungsknappheit durch Neubauten galt als eines der obersten Ziele der Regierung - während sie historische Altstädte und ausgedehnte Gründerzeitviertel als Zeugnisse der bürgerlich-kapitalistischen Vergangenheit verfallen ließ. Mit der Platte sollte ab 1955 das in der Verfassung verankerte "Recht auf Wohnen" verwirklicht werden.

Bereits vier Jahre später wurden 80 Prozent aller Neubauwohnungen in Montagebauweise errichtet. Das Prestigeprojekt schlechthin war der Bau des Ost-Berliner Stadtteils Marzahn für 160.000 Einwohner. In einem Akt nationaler Kraftanstrengung wurden zwischen 1977 und 1987 Platten aus allen Teilen des Landes zur größten zusammenhängenden Neubausiedlung Deutschlands montiert.

Die dabei verwendete Wohnbauserie WBS70 war ein Meisterstück an Normierung und Standardisierung - und kam in der gesamten Republik zum Einsatz. Das heißt, jede DDR-Wohnung aus den 1970er und frühen 80er Jahren basierte auf denselben Grundelementen: Sechs Meter breite Platten ergaben sechs oder zwölf Meter breite Wohnungen, mit (oder ohne) sechs Meter breiten Loggien. Egal ob Einraum- oder Vierraumwohnung - jedes Wandelement hatte an denselben Stellen dieselben, gleichgroßen Öffnungen für Fenster oder Türen. Jeder Platte wurden bereits im Betonwerk dieselben Installationsrohre eingegossen, deren Auslässe für Wasser und Strom identisch positioniert waren. So waren DDR-Bürger kaum verwundert, wenn sie in fremde Wohnungen kamen und feststellten, dass diese - zwangsläufig - exakt so eingerichtet waren wie ihre eigenen.

Differenzierungen

Lediglich bei der Außengestaltung bemühten sich die Plattenkombinate der 16 DDR-Bezirke um etwas Differenzierung durch den Einsatz regionaltypischer Materialien. So wurden an der Ostsee einige Reihen Klinker auf die Platten geklebt, in Sachsen Sandstein und im Erzgebirge Schiefer.

In den 1980er Jahren, als die gebaute Monotonie langsam als Problem erkannt wurde, gab es Versuche zur Verniedlichung der Platte. Nun wurden Erker eingesetzt - natürlich normiert und typisiert - oder Dachschrägen vorgetäuscht, um die nüchternen Flachdächer der Plattenbauten zu kaschieren. Im Berliner Nikolai-Viertel versuchte man gar, historische Straßenzüge mit Plattenbauten zu rekonstruieren.

Gleichzeitig schlug sich die ökonomische Krise des Ostblocks auch im DDR-Wohnbau nieder. Wohl einzigartig auf der Welt begann man in den 1980er Jahren, sechsgeschossige Bauten aus Kostengründen ohne Aufzüge zu errichten. Und die ohnehin schon knapp bemessenen Wohnungen wurden noch kleiner.

Nach Wende und Wiedervereinigung begann die überfällige Sanierung von Millionen ostdeutscher Plattenbauwohnungen. Wobei gesagt werden muss, dass gleich alte Siedlungen in Westdeutschland denselben Erneuerungsbedarf zeigten - ästhetisch, vor allem aber aufgrund der schlechten Wärmedämmung. Was nicht bedeutet, dass Plattenbauten nach technischer und gestalterischer Aufwertung nicht wieder zeitgemäße Wohnqualität bieten können. Die Ost-Berliner Großsiedlung Hellersdorf dient seit Mitte der 1990er Jahre als internationales Modell für eine gelungene Modernisierung.

Die GUS-Staaten setzen sogar weiterhin auf die Platte: Allein in Moskau sind seit 1991 Hunderttausende Plattenbauwohnungen neu entstanden. Und zentralasiatische Großstädte wie Alma Ata oder Taschkent decken ihr Wohnbauvolumen nach wie vor mehrheitlich durch die Platte ab. Teils auch zwangsläufig - denn nach vier Jahrzehnten ausschließlich industriellen Bauens fehlt es in den ehemaligen Sowjetrepubliken an Bauhandwerkern, die andere Bauformen beherrschen. Berufe wie Maurer, Zimmermann, Dachdecker oder Spengler sind dort quasi ausgestorben.

Andererseits sind gerade die Großsiedlungen jenem massiven Schrumpfungsprozess unterworfen, der ab den 1990er Jahren vor allem Schwerindustrie- und Bergbaustädte erfasste. In Ostdeutschland standen zeitweise mehr als eine Million Wohnungen leer, viele davon in Plattenbaugebieten. Deshalb setzte ein geordneter Rückbau dieser Siedlungen ein, um ihr unkontrolliertes Brachfallen zu verhindern. Im Cottbus etwa wurden Hochhäuser demontiert und mit ihren Platten an Ort und Stelle Stadtvillen errichtet.

In Dresden und Magdeburg baute man sechsgeschossige Wohnscheiben zu hochwertigen Reihenhäusern um. Viele Blöcke wurden mangels Wohnungsnachfrage aber auch gänzlich abgerissen - wobei selbst deren Platten weiterhin Verwendung fanden: Ein holländisches Bauunternehmen übernahm die alten Betonelemente, um damit Ackerstraßen und Silos für Landwirte zu errichten. Die ostdeutschen Wohnbaugenossenschaften sparten sich so die Entsorgungskosten - und die holländischen Bauern Sand, Kies und Zement.

Neue Verwendungen

Wer dies für das Ende des industrialisierten Wohnbaus in unseren Breiten hält, irrt allerdings. In modifizierter Form feiert die Platte seit Anfang gut zwei Jahrzehnten - gerade hierzulande - einen wahren Siegeszug, und zwar in Gestalt von Einfamilienhäusern aus Fertigteilen. Jedes dritte Häuschen im Grünen wird mittlerweile mit vorfabrizierten Elementen aus dem Katalog errichtet, deren bauphysikalische Qualität dank neuer Materialien nicht mehr vergleichbar ist mit den schlichten Betonplatten von einst. Und auch die Produktvielfalt ist inzwischen merklich gestiegen: Selbst ausgefallene Grundrisse können zu 98 Prozent durch die breite Palette an Modulen realisiert werden. Dass dies gegenüber den ersten Versuchen aus den 1960er Jahren aber nicht zwangsläufig auch einen städtebaulichen Fortschritt bedeutet, zeigt ein Besuch der "Blauen Lagune" - Österreichs größtem Ausstellungsgelände für Fertigteilhäuser mit über 100 Musterhäusern in der Shopping City Süd.

Reinhard Seiß lebt als Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung.