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Verwirrspiel im Weinviertel

Von Christian Pinter

Wissen
Die computersimulierte Kreisgrabenanlage Pranhartsberg 1 aus der Vogelperspektive.
© Grafik: Zotti

Vor 6800 Jahren sind die Bewohner des Weinviertels längst sesshaft geworden. Sie leben in wuchtigen, langgestreckten Häusern, errichtet aus Stämmen, Ästen und Lehm. Auf den Feldern bauen sie Getreide an. Dann beginnt man, am Rand des Dorfs ein Rund von etwa 70 Schritten Durchmesser abzustecken und mit einer blickdichten Palisade zu umgeben.

Mehr als 500 Holzstämme werden dazu mit Steinäxten gefällt und tief in die Erde gerammt. Vermutlich ist die Oberkante der kreisrunden Holzwand mehr als drei Meter hoch. Zwei, drei oder vier schmale Lücken, später "Tore" genannt, erlauben den Zutritt ins Innere. Dort bricht sich der Schall auf eigentümliche Weise. Selbst Sprechende, die sich von den Zuhörern abwenden, sind deutlich zu verstehen.

Rund um den Palisadenzirkel heben die Menschen mit Schaufeln aus Holz oder Knochen einen steilen Graben aus. Er ist fünf, sechs, ja bis zu zehn Meter breit und halb so tief - also nicht zu überwinden. Meist schließt außen noch ein zweiter oder dritter Kreisgraben an. In Immendorf werden deren Radien 28, 43 und 58 Meter messen. Nur vor den Toren sind die Gräben von Erdbrücken unterbrochen. Die führen von der Anlage weg wie Speichen, obgleich das Rad damals noch unbekannt ist.

Zweck unbekannt

Ganz offensichtlich dienen Palisaden und Gräben der Grenzziehung. Doch wer soll hier ein- oder ausgegrenzt werden? Fluchtburgen würde man eher auf Anhöhen vermuten, Viehhaltung im Inneren hinterließe Spuren. Falls im Zentrum leichte Holzbauten stehen, verwittern sie völlig. Zum Glück sammelt sich Abfall in den Gräben. Er erzählt noch Jahrtausende danach vom Leben dieser Menschen: Sie ernähren sich von Rindern, Schweinen, Ziegen und Schafen, erlegen aber auch Hirsche, Rehe, Wildschweine, Fische oder Vögel. Später wird die Radiokohlenstoffdatierung das Alter der Tierknochen verraten. Außerdem finden sich Scherben von Schüsseln, Töpfen oder Bechern: Form und Bemalung passen zur Lengyel-Kultur.

Mitunter, wie in Puch und Kleedorf, errichtet man nur 400 Schritte daneben noch eine zweite Kreisgrabenanlage. Auch das trägt zum Verwirrspiel bei. Niemand wird später sagen können, welchem Zweck die Bauwerke dienen. Finden da Wettkämpfe oder geheime Initiationsriten für Jugendliche und den Schamanennachwuchs statt? Sind das weite Kreißsäle, oder hält man hier Rat und Gericht? Werden hier Tote aufgebahrt oder sind es tabuisierte Wohnstätten der Ahnengeister? Muss man von Tempelanlagen für Erd-, Liebes- oder Sonnengottheiten sprechen? Oder will ein weltlicher bzw. spiritueller Führer mit dem Bau der Anlagen seine Macht unterstreichen?

Hinter den Naturerscheinungen stehen damals keine Gesetze, sondern göttliche Wesen. Leben und Tod, Arbeit und Spiritualität, Wissen und Aberglaube - all das ist noch untrennbar miteinander verbunden. Die Bauwerke dienen daher wahrscheinlich vielen Ansprüchen gleichzeitig, ohne dass man darin einen Widerspruch erblickt. Jedenfalls läuft die Kreisgrabenidee zwischen 4900 und 4500 v. Chr. wie eine Modewelle durch Mitteleuropa. Man wird weit über hundert solcher Anlagen identifizieren, etwa in Polen, Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Deutschland. Von den rund 40 österreichischen Exemplaren liegen fast alle im Weinviertel. Doch schließlich empfinden unsere Vorfahren die Riesenbauten als Hindernis und schütten die Gräben zu. Was diesen Gesinnungswandel auslöste, bleibt ebenfalls unbekannt.

Hätten sie aus Stein bestanden, wie die um zweitausend Jahre jüngeren Pyramiden in Ägypten oder die Megalithstruktur von Stonehenge, dann zählten die Kreisgrabenanlagen heute zu den berühmtesten Monumentalbauten der Welt. Doch ihr Holz ist längst zerfallen, der Boden erodiert. Erfreulicherweise sammelt das Füllmaterial der Gräben das Regenwasser leichter: Daher lassen sich die Umrisse der jahrtausendelang vergessenen Strukturen gelegentlich vom Flugzeug aus als große dunkle Kreise erahnen. Außerdem stören die verfüllten Gräben das Erdmagnetfeld lokal ein klein wenig. Die geomagnetische Prospektion erfasst solche Abweichungen.

Sind die Grundbesitzer mit der Stilllegung ihrer Äcker einverstanden, wird der einstige Grabenverlauf heute manchmal durch unterschiedlichen Pflanzenbewuchs sichtbar gemacht - wie etwa in Glaubendorf oder Puch. Am Heldenberg baute man die Anlage von Schletz bei Mistelbach sogar möglichst originalgetreu nach, aus Anlass der NÖ-Landesausstellung 2005. Wolfgang Neubauer, der Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Archäologische Prospektion und Virtuelle Archäologie, und der Prähistoriker Gerhard Trnka von der Universität Wien stellten die Bauwerke im Begleitband dieser Schau eindrucksvoll vor.

Schon in den Neunzigerjahren kamen teils recht wilde Spekula-tionen auf: Demnach sollen die Tore und Erdbrücken zu Gestirnen gewiesen haben. Als Sternwarten der mittleren Jungsteinzeit wären die Bauwerke dann ein Fall für die Archäoastronomie: Sie erforscht das himmelskundliche Wissen unserer frühen Vorfahren. Mangels schriftlicher Aufzeichnungen muss sie oft mit der Ausrichtung von Bauten Vorlieb nehmen und eben daraus ihre Schlüsse ziehen.

Doch das ist riskant. Zählt man hellere Fixsterne hinzu, gibt es gleich Dutzende Auf- und Untergangspunkte am Horizont, die als Zielrichtung in Frage kämen. Irgendein Stern fände sich dann fast immer, auf den das Monument ausgerichtet zu sein scheint. Die Gefahr der Überinterpretation ist groß.

Am Heldenberg wurde 2005 anlässlich der NÖ-Landesausstellung eine Kreisgrabenanlage nachgebaut.
© Foto: Pinter

Projekt "Astrosim"

Fixsterne behalten ihre Horizontpunkte das ganze Jahr über bei. Anders die Sonne: Nur zu den Tagundnachtgleichen, also um den 20. März und den 23. September, geht sie genau im Osten auf und im Westen unter. Ansonsten schreiten ihre Auf- und Untergangsstellen den Horizont entlang. In unseren Breiten verschieben sich ihre Aufgänge zwischen der Wintersonnenwende am 21. Dezember und der Sommersonnenwende am 21. Juni von Südost nach Nordost; die Untergänge wandern von Südwesten nach Nordwesten.

Die Richtung zum Auf- bzw. Untergangspunkt der Sonne ist also terminabhängig. Mit dem Blick durchs Tor einer entsprechend ausgerichteten Kreisgrabenanlage ließe sich daher feststellen, wann ein bestimmtes Datum im Jahreslauf gekommen ist. Vor allem der Termin zur alljährlichen Aussaat im März war wohl entscheidend: Säte man zu früh, ruinierte zurückkehrender Bodenfrost womöglich den Samen. Tat man es zu spät, reifte die Frucht vielleicht nicht mehr richtig. Beides hätte Hungersnot und Tod bedeuten können.

Will man den Himmelsanblick zur Lengyel-Zeit rekonstruieren, ist einiges zu beachten. So verdreht eine langsame Bewegung der Erdachse, die "Präzession", die Lage der Himmelskugel über dem Betrachter. Außerdem verzerren sich die Sternbilder, da die Fixsterne durchs All treiben. Und natürlich sollte man den jeweiligen Landschaftshorizont kennen, der von Anlage zu Anlage variiert. Der österreichische Informatiker und Astronomiehistoriker Georg Zotti hat dies alles im mehrjährigen, vom Wissenschaftsfond FWF unterstützten Projekt "Astrosim" berücksichtigt. Er arbeitete dazu an der Interdisziplinären Forschungsplattform für Archäologie der Universität Wien mit Wolfgang Neubauer zusammen, der seine Prospektionsdaten zur Verfügung stellte.

Keine Sternwarten

Erstmals wurde jetzt der jeweilige Geländehorizont vermessen. Danach entstanden genau orientierte dreidimensionale Computermodelle auf einem digitalen Geländemodell. Die hat Zotti wiederum mit dem ebenfalls simulierten Sternenhimmel in Beziehung gesetzt. Mit seiner neu entwickelten Software belegt er eine geradezu perfekte Orientierung der Anlage Pranhartsberg 2. Ihr einstiges Nordwesttor zielte zum Untergangspunkt der Sonne am sommerlichen Sonnwendtermin. Auch in Altruppersdorf weist ein Tor zur Sommersonnwende, wenngleich nicht ganz so genau.

Doch diese eindrucksvollen Fälle sind bloß Ausnahmen vom sonst ernüchternden Ergebnis: Die 32 in Österreich untersuchten Bauten zeigen kein generelles astronomisches Schema! Ausrichtungen zu hellen Fixsternen treten nur fallweise auf - und sind daher wohl Zufall. Auch bei Richtungen mit möglichem Sonnenbezug gibt es keine deutlichen Häufungen, die einen kalendarischen Nutzen erkennen lassen würden.

Die neuen Daten aus dem dreidimensionalen Geländemodell führen vielmehr zu einer höchst "irdischen" Erklärung der Torlagen: Oft wurden die Bauten an geböschten Hängen errichtet; Tore befanden sich dann am höchsten und am tiefsten Punkt, oder aber in gleicher Höhe, ohne Bezug zu den Gestirnen. "Entscheidend war hier, derartige Untersuchungen nicht bloß auf dem Papier anzustellen", erläutert Zotti, "sondern die dritte Dimension der Landschaft zu ermitteln und in Rechnung zu stellen". Seine Forschungsergebnisse entziehen all jenen den Boden, die in den Kreisgrabenanlagen "Sternwarten" sehen wollten. Zotti: "Eine astronomische Orientierung als bestimmendes Element dieser Bauten muss wohl als widerlegt betrachtet werden, auch wenn sie in Einzelfällen vorkommt".

Sein im Grunde negativer as-tronomischer Befund lässt die Frage nach dem eigentlichen Sinn und Zweck der Bauten unbeantwortet. Das demnächst abgeschlossene Forschungsprojekt wird aber in der faszinierenden, virtuellen 3D-Rekonstruktion etlicher Kreisgrabenanlagen münden.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachjournalist in Wien und schreibt haupt- sächlich über astronomische Themen im "extra". Internet: www.himmelszelt.at