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Sternenhimmel und Bergpredigt

Von Walter Sontag

Reflexionen

Vor 100 Jahren, am 28. Juni 1912, wurde der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker geboren. Eine Erinnerung an den leidenschaftlichen Synthetiker von Wissenschaft, Ethos und Politik.


Carl Friedrich von Weizsäcker entstammte einer Dynastie, die bis zum heutigen Tag eine beachtliche Reihe historisch herausragender Persönlichkeiten hervorbrachte. Dazu zählen Karl Hugo von Weizsäcker, der letzte königlich württembergischen Ministerpräsident, und der Vater Ernst von Weizsäcker, Diplomat und schließlich in innerer Zerrissenheit dienender Staatssekretär im Dritten Reich. Der Bruder Richard von Weizsäcker gehörte zu den profiliertesten Bundespräsidenten Nachkriegsdeutschlands.

Worin liegen nun die dauerhaften Verdienste des älteren Bruders? Wohl die wenigsten werden Weizsäckers greifbarsten empirischen Beitrag zur Forschung mit seinem Namen verbinden: nämlich die Entdeckung und Berechnung der Verschmelzung von Helium und Wasserstoff als Energiequelle der Sonne (Bethe-Weizsäcker-Zyklus). Was damals wissenschaftliches Neuland repräsentierte, ist heute lediglich ein Detail unter vielen. Wiewohl es doch gerade diese Entdeckung ermöglichte, erstmals einen Zeitrahmen für das Ende unseres Sonnensystems und unseres Planeten zu bestimmen,

Doch solche speziellen Befunde lagen eher am Rand von Weizsäckers lebenslanger Passion. Zwar galt seine Liebe von Kind auf den Gestirnen. Von denen wusste bereits der Zwölfjährige, dass sie Gaskugeln sind und physikalischen Gesetzen gehorchen. Zugleich aber empfand er sie als geradezu mystische Botschaft. Passend zu dieser transzendentalen Erfahrung zielte sein eigentliches Interesse schon früh auf einen umfassenden Blick für Anfang, Gegenwart und Zukunft.

Intuitiv fesselte ihn die Frage nach dem Einen und dem Vielen, kurzum: das Denken im Geiste Platos. Die Jahrtausende alten Sinn- und Erkenntnisfragen des griechischen Weisen sollten ihn ein Leben lang begleiten. Ins Konkrete und Moderne gewendet, galt Weizsäckers Fokus dem Zusammenhang zwischen dem Ursprung alles Existierenden, der Evolution und unserer Geschichte bis zum Jetzt. Und dies schloss dezidiert das gesellschaftliche Engagement mit ein.

"Weltinnenpolitik"

Intellektuelle Sinngebung und die Suche nach Wegen zu einem friedlichen Zusammenleben standen in Weizsäckers Denken und Bemühen nebeneinander. Darin bestand seine bedeutendste öffentlich wahrgenommene Leistung. Aus diesem Denken entstand auch seine Idee einer "Weltinnenpolitik". Seinerzeit eine gewagte Vision, ist sie heute in Ansätzen- wenn auch brüchig - mannigfache Wirklichkeit: G-8- und G-20-Gipfel oder Klimakonferenzen zeugen davon.

Wie wenige Forscher von Rang, lebte der Astro- und Quantenphysiker konsequent das Prinzip Verantwortung, das der Philosoph Hans Jonas eine Generation nach Weizsäckers erstem politischen Engagement zur allgemeinen und vielzitierten Maxime erhob.

Mit Einlassungen zur drohenden Atombewaffnung der Bundeswehr in den fünfziger Jahren trat Weizsäcker erstmalig ins Rampenlicht der breiten Öffentlichkeit. Diese Einwürfe waren auch Frucht seiner niederschmetternden Erfahrungen. Denn er empfand sich als Geschlagener seiner Zeit, trug schwer an der Mitarbeit bei der Entwicklung einer "Uran-Maschine", dem Reaktorprojekt der Atomphysiker Hitler-Deutschlands während des Zweiten Weltkriegs. Vorausgegangen war die Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn, dem die Vorstellung einer Atombombe in deutscher Hand Entsetzen einflößte.

Der noch junge Weizsäcker drängte den skrupelhaften Experimentator zu dem Unternehmen mit dem Argument, Institut und Mitarbeiter solcherart über den Krieg zu retten. Er vertraute wohl auf die Annahme seines Doktorvaters Heisenberg, Hitler betreibe mit seinem Krieg ein Schach-Endspiel "mit einem Turm weniger". Später hat Weizsäcker eingestanden, dass er den braunen Diktator unterschätzt habe.

Ein- und Widersprüche

Gezeichnet vom deutschen Versagen im Dritten Reich, geläutert als Internierter im britischen Farm Hall, erschüttert von der nuklearen Endzeitkatastrophe in Hiroshima und Nagasaki, wurden ihm Ein- und Widerspruch aus skeptischem Reflektieren zur moralischen Pflicht. Ebenfalls von seiner ethischen Überzeugung getrieben, trat Weizsäcker im religiösen Bereich unter dem emphatischen Titel "Die Zeit drängt" vehement für eine ökumenische Weltversammlung zur Friedens- und Abrüstungsproblematik ein. Das Vorhaben diente dem späteren Weltethos-Projekt von Hans Küng als eine Art Vorläufer.

Weizsäckers Werdegang lässt sich somit über weite Strecken als ein Pendeln zwischen res comtemplativa und res activa begreifen. Doch zur Bewerbung um das Bundespräsidentenamt mochte sich der wiederholt dazu Aufgeforderte nicht entschließen. Dazu scheint er zu sehr Wissenschafter gewesen zu sein, zuallererst der reinen Wahrheit und Erkenntnis verhaftet. Bei allem gestalterischen Weitblick: Sein ganzes Sinnen, Vermessen und Urteilen fußte auf analytischer Schärfe, gezügelt durch harte Empirie und strenge Beweisführung.

Diesen Anspruch hielt er auch bei der Tätigkeit als Direktor des Max-Planck-Instituts zur "Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt" hoch. Die neuartige Forschungseinrichtung war eigens für den leidenschaftlichen Synthetiker von Wissenschaft, Ethos und Politik geschaffen worden. Sie markierte den Abschluss der glänzenden Karriere, die ihn in doppelter Mission als Naturwissenschafter und Philosoph zu Professuren an diversen Unversitäten geführt hatte.

Das Starnberger Institut galt von Anfang an als umstrittenes Projekt, nahm es doch die in ökonomischer Selbsterfüllung gefangene und enthemmte Industriegesellschaft offen ins Visier. Die reichen Staaten des Nordens vernutzten skrupellos die Rohstoffe rund um den Planeten. Währenddessen hielten sie die Habenichtse der Dritten Welt auf vermeintlich sichere Distanz. Vor diesem thematischen Hintergrund würde die kritisch inspirierte Institution geradezu verführerisch leicht dem gesinnungsethischem Furor ideologischer Eiferer ausgeliefert sein und zu einer Kampfzelle der Linken degenerieren- so die Befürchtung der Gründungsgegner.

Weizsäcker warb deshalb den renommierten Gesellschaftstheoretiker Jürgen Habermas als Korektor an. Der führende Repräsentant der Kritischen Theorie erschien dem in den exakten Wissenschaften gestählten Universalisten als Garant für methodisch sauberes Handwerk bei den beabsichtigten politiknahen Analysen. Mit der Entscheidung für Habermas ergab sich die für die Bundesrepublik einmalige Chance zu einer Zusammenarbeit zwischen einer der Leitfiguren eines umfassenden, naturwissenschaftlich fundierten Weltverständnisses und einer der Speerspitzen der geisteswissenschaftlichen Elite, die unter dem Begriff der "Suhrkamp-Kultur" weltweites Ansehen erlangte.

Erkennen und handeln

Weizsäckers Weg nahm ihren Ausgang in einer geglückten Kindheit und einem begnadeten familiären Umfeld. Für ihn, den Spross einer protestantischen, staatstragenden Familie, war nach eigenen Worten schon früh die Spannung angelegt zwischen Faszination des Erkennens und der Moral des Handelns. Für das eine stand der Sternenhimmel, für das andere die biblische Bergpredigt - und damit womöglich die Pflicht, den Pfarrberuf ausüben zu müssen.

Das Nachthimmel-Erlebnis im Schweizer Jura beschert dem gerade Zwölfjähigen einerseits eine Ahnung "göttlicher Offenbarung". Darüber hinaus und jenseits von Wissens- und Forscherdrang tritt da bereits der Sinn für das Schöne zutage. Zeitlebens bleibt Weizsäcker dieser ästhetischen Facette der Wahrnehmung zugewandt. Wesentliche Anstöße dafür erhält er von einem Onkel mütterlicherseits, einem Bildhauer. Ebenfalls noch über das Elternhaus vermittelt, kommt Weizsäcker mit dem George-Kreis in Berührung. Er begegnet sogar dem Meister persönlich, der demonstrativ ein elitäres Kunstideal vertritt.

Ein weiterer gewichtiger Einfluss geht von seinem Onkel Viktor von Weizsäcker aus, dem ganzheitlich orientierten Mediziner. Dessen holistischer Auffassung entspricht Weizsäckers mehrdimensionale Betrachtung der menschlichen Existenz und seine Weltsicht aus unterschiedlichsten Perspektiven. Hier erweist sich Weizsäcker als Wanderer zwischen den Kulturen. Auf solchen Streifzügen und Rundgängen bilden verschiedenartige Kulturkreise keine Grenzen. Infolgedessen gilt seine Faszination auch den Religionen des Ostens. In der Advaita-Lehre des indischen Vedanta findet er Platons "Lehre vom Einen" wieder.

Heisenberg, Heidegger

Durch und durch prägend war das Zusammentreffen mit dem zehn Jahre älteren Werner Heisenberg, dem "Hohepriester" der neuen, nicht-klassischen Physik nach Newton und Galilei. Der spätere Nobelpreisträger hatte die Quantenmechanik formuliert und die Unbestimmtheitsrelation der Teilchen "auf den Punkt gebracht". Er machte dem jungen Weizsäcker klar, ohne Verständnis für die moderne Physik sei im 20. Jahrhundert keine ernsthafte Philosophie mehr möglich.

Der ehemalige Schüler begleitete Heisenberg auch zu der prekären Zusammenkunft mit dessen Lehrer Niels Bohr in Kopenhagen während des Krieges. Sie wurde zur tragischen Begegnung, musste Bohr doch die beiden ins deutsche Reaktorprojekt verstrickten Besucher nahezu zwangsläufig als Abgesandte des "Tausendjährigen Reichs" wahrnehmen. In tiefer Ehrfurcht beschrieb Weizsäcker den dänischen Physiker als einen Menschen, der bis zum Äußersten "am Denken litt". Auf der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik baute letztlich auch Weizsäckers gesamtes Wirklichkeits- und Möglichkeitsverständnis auf. Auf dieser Basis suchte er nach einer ganzheitlichen Theorie, in der Kosmologie und Elementarteilchenphysik, Wahrscheinlichkeit und Logik miteinander ver-bunden sind.

Weizsäcker begriff die Zeit als das zentrale Thema der Physik und der Philosophie. Hierin traf er sich mit der hochkomplexen, aber völlig anders hergeleiteten Seinsphilosophie Martin Heideggers. So mag Weizsäckers resümierendes Alterswerk "Zeit und Wissen" auch als Kompliment und Anspielung auf Heideggers "Sein und Zeit" gelesen werden.

Walter Sontag, geboren 1951, ist Zoologe in Wien und schreibt als freier Autor über biologische, ökologische und kulturelle Themen.