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Winfried Müller alias Mustapha

Von Fritz Keller

Reflexionen

Wie ein deutscher Abenteurer, der bei Innsbruck aufwuchs, zum Major der Algerischen Befreiungsbewegung wurde und 4000 hauptsächlich deutschsprachige Fremdenlegionäre zur Desertion brachte.


Am 5. Juli 1962 hat die französische Kolonialmacht, die den Krieg gegen die Aufständischen verloren hatte, die Unabhängigkeit Algeriens offiziell akzeptiert. Am 22. Dezember desselben Jahres erstattete ein Major Si Mustapha der deutschen Öffentlichkeit Rapport über die Aktivitäten des von ihm gegründeten "Rückführungsdienstes" für Fremdenlegionäre in Tetuan (Marokko): Im Laufe der vergangenen sechs Jahre wären demnach 4111 Söldner (davon 2783 deutschsprechende) von dieser Dienststelle der "Armée Libération Nationale" (ALN) zur Desertion überredet und beim Marsch in die Heimat betreut worden.

Krumme Lebenswege

Kurze Zeit später machte der inzwischen von der Regierung des neuen algerischen Präsidenten Ahmed Ben Bella als Verwaltungsassistent im Ministerium für Jugend, Sport und Fremdenverkehr eingesetzte Si Mustapha in deutschen Medien erneut von sich reden: Beim Besuch der Internationalen Handwerksmesse in München offerierte er nämlich 12.000 von geflüchteten Siedlern in Algerien hinterlassene Villen und Schlösser. Und da entdeckte eine breite Öffentlichkeit auch, dass der algerische Offizier mit dem am 19. November 1926 in Wiesbaden geborenen Winfried Müller identisch war.

Wodurch war es zu dieser ungewöhnlichen Wandlung gekommen? Die Antwort auf diese Frage ist schwierig, weil Si Mustapha Müller allen Fragenden gerne Märchen über sein Leben auftischte. Unter diesen schwierigen Voraussetzungen entstanden eine fragmentarische Biographie (in Claus Leggewie: Das Algerienprojekt der Linken, Berlin 1984) und ein Dokumentarfilm (Erika Fehse: Si Mustapha Müller, Calypso-Film), die im Folgenden mit neuem Material aus der Gauck-Behörde (MfS Zentralarchiv, All. P 7037/63) kontrastiert werden.

Nach Unterlagen aus dem Stadtarchiv Wiesbaden heiratete der jüdische Forstbeamte Curt Willi Ernst Müller am 30. Dezember 1924 die Gymnastiklehrerin Lotte Frederike Katherine Neelson. Dem Ehepaar wurde am 19. November 1926 Winfried Müller geboren. Die Familie übersiedelte nach Oberstdorf in Bayern. Die Mutter trennte sich nach Hitlers Machtergreifung und nahm ihren Mädchenamen wieder an. Winfried absolvierte die Volksschule, danach arbeitete er als Hilfsarbeiter in der Nährmittelfabrik Stempfle.

Am 17. September 1941 wurde der Mutter und dem Sohn durch die "Kraft-durch-Freude"-Organisation ein Aufenthalt in dem sieben Kilometer von Innsbruck entfernt gelegenen Dorf Götzens bewilligt, das bald ihr ständiger Wohnsitz wurde. In den Übersiedlungspapieren nannte Lotte Neelson ihren Sohn "Winfried" in "Siegfried" um. Die beiden wurden bei Familie August Zangerle (Haus-Nummer 99) untergebracht. Winfried arbeitete in Innsbruck, zunächst in der Bürowarenfirma Cecha und Co., dann in der Musikalienhandlung Gross.

In Händen der Gestapo

Nach Zeitzeugen-Berichten kümmerte sich Lotte Neelson wenig um den Halbwüchsigen. Der "Lange", wie ihn die Ortsbewohner nannten, marschierte alleine durch die Berge. Einheimische fütterten ihn durch. Viele von ihnen sympathisierten heimlich mit dem katholischen Ortspfarrer Otto Neururer, der wegen seiner antifaschistischen Haltung 1940 im KZ Buchenwald zu Tode gefoltert worden war.

Anfang Mai 1943 verhaftete die Gestapo Winfried. Im Generalhauptquartier in der Innsbrucker Herrengasse 1 sperrten die verhörenden Polizisten den 16-Jährigen drei Tage in einen Kleiderschrank, ohne ihm die Möglichkeit zur Notdurft zu geben. Dann zwangen sie den Jugendlichen vor einer hübschen Sekretärin auf allen Vieren nackt um einen Tisch zu kriechen und dabei zu schreien: "Ich stinke wie ein Schwein und ich bin ein Schwein!"

Über Ursachen und Konsequenzen dieser Verhaftung lieferte Müller später unterschiedliche Darstellungen: Zum Beispiel will er österreichisch-patriotische Parolen geschmiert und/oder der "Swing-Jugend" angehört haben. Aus der GESTAPO-Haft wäre er ins KZ Innsbruck-Reichenau und/oder Mauthausen überstellt worden.

In einem 1947 für die Sozialistische Einheitspartei (SED) bei der Mitgliedsaufnahme verfassten "Lebenslauf" lieferte er die plausibelste Version der Geschehnisse: Verhaftungsgrund wäre das gemeinsame Hören von Feindsendern bei der Gastfamilie Zangerle gewesen. Nach den Folterungen habe er das Einstellen der entsprechenden Frequenzen auf den strafunmündigen Sohn der Familie geschoben. Nach Beteuerungen, ein guter Soldat werden zu wollen, wäre er entlassen, aber sofort dem Reichsarbeitsdienst überantwortet und am 6. Jänner 1944 als Marine-Artillerist in Kiel einrückend gemacht worden. Diese Darstellung stimmt mit dem von Zeitzeugen in Götzens kolportierten Gerücht einer "freiwilligen Meldung" Müllers zur Deutschen Wehrmacht und den in der "Deutschen Dienststelle" archivierten Wehrmachts-Unterlagen überein.

Der Überläufer

Wenn wir Müllers Angaben vor der SED-Kaderabteilung weiter folgen, desertierte er im Herbst 1944 im Raum Warschau und konnte den Narew-Brückenkopf der Roten Armee erreichen. Der Überläufer wurde vom Frontbevollmächtigten des Nationalkomitees Freies Deutschland, Willi Bredel (später in der DDR Präsident der Akademie der Künste), als "Fronthelfer" eingesetzt.

Aufgrund seines Bekenntnisses zu Österreich kam Winfried (der sich nun Mischa nannte) bei der Rückführung österreichischer Kriegsgefangener zum Einsatz. Mit einem dieser Transporte gelangte er nach Wien und arbeitete in der Redaktion einer Zeitschrift der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft.

Nächste Station war seine Heimat Innsbruck. Doch im "Heiligen Land" konnte der "Piefke" für die KPÖ kaum punkten. 1947 wechselte er deshalb zu den deutschen Kommunisten über. Vom Februar bis Juni 1948 arbeitete er im Kreisbüro der KPD in Wiesbaden. Dann absolvierte er unter dem Decknamen "Wilfried Mauser" ein Studium an der Karl Marx- Hochschule in Klein-Machnow. In seiner zum Abschluss 1949 erstellten "Charakteristik" ist von einer "Neigung zur Überheblichkeit" und "westlich sektiererischen Tendenzen" die Rede. Er übte Selbstkritik und erhielt die Funktion eines "Instrukteurs im Landesmaßstab".

Müller behauptete später, er wäre 1949 wegen "Titoismus" inhaftiert und nach Westdeutschland ausgewiesen worden. Nichts davon findet sich in den Stasi-Akten. Mehrere Spitzel behaupteten hingegen, Müller wäre schon 1948 von den Amerikanern als russischer Agent eingesperrt und während der Haft für den amerikanischen Geheimdienst angeworben worden.

Als "Instrukteur im Landesmaßstab" erwies sich Genosse Mauser jedenfalls als unzuverlässig. Ende 1950 häufen sich die internen Beschuldigungen: Müller habe mit zwei "Jugendfreunden" einen Mordanschlag auf einen "Amioffizier" geplant. Er wolle sich zur Fremdenlegion melden, habe eine Mitgliederliste der FDJ Wiesbaden dem amerikanischen Abwehrdienst übergeben, und wäre "im Sexualleben ein sehr zweifelhaftes Subjekt".

Ist das nur ein Sammelsurium stalinistischer Verleumdungen für einen Schauprozess en miniature? Unstrittig ist jedenfalls Müllers Teilnahme am Gründungskongress der von Tito-Jugoslawien finanzierten Unabhängigen Arbeiterpartei vom 24. bis 25. März 1951 in Worms. Dort lernte er Anna Sonja Kläre kennen, die er heiratete, um sich nach vier Monaten wieder von ihr zu trennen. Wie die Stasi-Unterlagen berichten, unterhielt Winfried eine schwule Parallel-Beziehung mit einem CIA-Agenten.

Wovon lebt Winfried, der sich jetzt Michael Müller-Samson nennt? Während des Slansky-Prozesses beteiligte er sich an der von der Jewish Agency finanzierten Fluchthilfe für tschechoslowakische Juden. Die Stasi will zudem von einer Tätigkeit als Lektor in der "Agentenschule Buber-Neumann" wissen.

1954 versuchte Winfried sein finanzielles Glück in Tirol. Ohne Voranmeldung und Geld besuchte er mehrmals die Zangerles. In ihrer guten Stube verfasste er Artikel für die "Tiroler Tageszeitung". Dann beorderte ihn die CIA nach Paris. Er erhielt Jobs bei der UNESCO. Gemäß dem Wunsch seiner Auftraggeber knüpfte er Kontakte zu den algerischen Unabhängigkeitsbewegungen "Mouvement National Algérien" und "Front de Libération Nationale" (FLN). Ab 1955 überredete er französische Fremdenlegionäre zur Desertion. Er organisierte außerdem eine kollektive Fahnenflucht von sieben französischen Soldaten in die Bundesrepublik.

Nach Algerien

Die französische Regierung reagierte auf diesen Affront mit Landesverweis. Müller setzte sich über Spanien nach Marokko ab. Ohne Visum und Aufenthaltsbewilligung ließ er sich an der Grenze zu Algerien nieder und schloss sich dem militärischen Flügel des FLN, der ALN, an.

Im Herbst 1956 setzte Colonel Abd el-Hafid Boussuf, der Kommandant des west-algerischen Militärbezirkes, Winfried als Dolmetscher für einige gefangene Fremdenlegionäre ein. Dabei entstand die Idee, auf diese überwiegend deutschsprachigen Söldner einzureden statt auf sie zu schießen. Ein Pilot-Projekt startete in Marokko. Flugblätter mit Fotos über erfolgreiche Fluchthilfe wurden massenhaft verbreitet. In Kneipen und Bordellen wurden Legionäre von Agenten des "Rückführungsdienstes" direkt angesprochen.

Nach etwa drei Monaten haben die in Marokko stationierten Einheiten die Hälfte ihres Mannschaftsstandes verloren. Selbst die deutsche "Bild"-Zeitung berichtete über eine "geheime Macht, die innerhalb von acht Wochen tausende Fremdenlegionäre aus ihren nordafrikanischen Kasernen befreit hat".

Die Franzosen bauten ein Service d’Action Psychologique als neue Waffengattung auf. Jeder Verrat eines Fahnenflüchtigen wurde mit 15.000 Francs belohnt.

Trotzdem dehnte sich das Solidaritätsnetzwerk unter Winfrieds professioneller Leitung über ganz Algerien aus. Die geflohenen Legionäre wurden Verwundeten-Transporten der ALN zugeteilt und von diesen nach Tetuan in Marokko oder nach Tunesien gebracht. Dort sorgte der "Rückführungsdienst" für Kontakt mit den Botschaften ihrer Heimatländer: Mit der BRD ließen sich die Formalitäten durch die Unterstützung des späteren SPD-Staatssekretärs Hans-Jürgen Wischnewski schnell erledigen. In Österreich sorgten der SPÖ-Außenminister Bruno Kreisky und sein enger Mitarbeiter Rudolf Kirchschläger für den reibungslosen Ablauf.

Zur propagandistischen Unterstützung seines Legionärs-Projektes reiste Müller, der inzwischen als Si Mustapha zum Islam konvertiert und zum Major der ALN aufgestiegen war, mehrmals ins geteilte Deutschland (wo Frankreich Besatzungsmacht war). Da er bereits einem Bombenanschlag des französischen Geheimdienstes nur knapp entgangen war, benutzte er den Decknamen El Quazzini und erlegte sich besondere Vorsichtsmaßregeln auf. Zu Recht. Am 26. März 1960 entging er in der BRD nur knapp einer weiteren Brief-Bombe.

Si Mustapha beschränkte seine Aktivitäten nicht auf Legionärs-Rückführung. Nebenbei betätigte er sich als Waffenhändler und mischte in der "großen" Politik mit. Deshalb wurde jeder seiner Schritte von der Stasi observiert und unter dem Namen "Palmakowski" penibel aufgezeichnet.

Finanziell unterstand der "Rückführungsdienst" in der Exil-Regierung dem Innenministerium. Aufgrund von politischen Meinungsverschiedenheiten band sich Müller jedoch an das 1961 gegründete Vereinigte Oberkommando der ALN. Während der folgenden Fraktionskämpfe leistete er den Militärs (Houari Boumedienne, Bousuf und Ben Bella) Gefolgschaft. Diese Loyalität wurde im November 1962 mit seinem Wechsel ins Kabinett belohnt.

Bei der "Conférence Européenne d’assistance non-gouvernementale à l’Algérie" vom 15. bis 19. Juni 1963 änderte Si Mustapha nochmals seine Position im Machtroulette. Er agitierte unter den Delegierten offen für die Pläne des Militärs zu einem Staatsstreich gegen Präsident Ben Bella.

Ende September 1963 wurde Si Mustapha vom algerischen Geheimdienst verhaftet. Offiziell wurde argumentiert, er habe sich "ausländischen Reportern gegenüber als Staatssekretär ausgegeben". Nach 48 Stunden Haft wurde er in einem Flugzeug nach Paris abgeschoben. Si Mustapha flog jedoch weiter nach Tetuan. Er wollte seine Ausweisung rückgängig machen. Ein am 4. Oktober 1963 ausbrechender Grenzkonflikt zwischen Marokko und Algerien kam ihm in die Quere. Er wurde von der marokkanischen Geheimpolizei verhaftet, gefoltert und an seine Heimat ausgeliefert.

Zurück in Algerien, avancierte Si Mustapha im Jänner 1964 zum Zensor der deutschsprachigen Presse. Als treuer Gefolgsmann Boumediennes unterstützte er am 15. Juni 1965 den Staatsstreich des Verteidigungsministers. Zum Dank wurde er mit einer Reihe von Funktionen im Regierungsapparat betraut. Nach dem überraschenden Ableben seines Mentors im Dezember 1978 wurde Si Mu-stapha auf den Posten eines Nationalpark-Direktors abgeschoben.

Affe auf der Schulter

In der Abgeschiedenheit seines Hauses im Süden Algeriens entwickelte der stimmungsanfällige Si Mustapha zunehmend paranoide Züge. Ein Affe auf der Schulter wurde sein Markenzeichen. Manchmal besuchte er seine Kampfgefährten vom "Legionärs- Rückholdienst" in Österreich. Karl Blecha, Reimar Holzinger und Klaus Sperlich kümmerten sich dann um die Behandlung seiner Herzbeschwerden.

Von einer solchen Reise zurückgekehrt, setzte Si Mustapha die Dreharbeiten an einem von ihm initiierten Dokumentarfilm über das Ahaggar, ein bizarres Gebirge im Süden des Landes, fort. Doch am 9. Oktober 1993 beendete ein Herzinfarkt diese Aktivitäten. Der Film mit dem bezeichnenden Titel "Leben und leben lassen" wurde erst nach seinem Tod fertig gestellt.

Fritz Keller, geboren 1950, lebt als Historiker in Wien. Er hat zahlreiche Bücher zur Geschichte der Arbeiter- und Jugendbewegungen veröffentlicht. Zuletzt "Gelebter Internationalismus - Österreichs Linke und der algerische Widerstand", Promedia Verlag, Wien 2010.