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Mit dem Hund im Dnjepr

Von Christoph D. Brumme

Reflexionen

Wer mit dem Fahrrad durch die Ukraine fährt, begegnet freundlichen Aussteigern und gemütlichen Schnapstrinkern, die auch während der Fußball-EM nicht in Aufruhr geraten.


Julia Timoschenko steckt ihren Kopf durchs Gatter und meckert, als vor ihren Augen einem Hahn der Hals durchgeschnitten wird. Lyudmyla, die Schlächterin, entschuldigt sich bei dem zappelnden Tier. "Verzeih mir, mein Guter, aber sterben müssen wir alle und nun ist deine Seele schon im Himmel." Sie lässt das Blut abfließen und legt den Hahn in dampfendes Wasser. Bereits als Kind hat sie das Schlachten gelernt, dann hat sie Agrarwissenschaft studiert, im Kolchos und in der Fleischfabrik gearbeitet, zum Schlachten hat sie kein sentimentales Verhältnis. Nur um die Kaninchen tut es ihr leid, die muss Jens, ihr deutscher Mann, für den Kochtopf vorbereiten.

Einst war er Webdesigner in Deutschland, heute ist er Bauer in der Ukraine: Jens mit seiner Hündin Irma beim Bad im Dnjepr, dem größten Fluss der Ukraine.
© Privat

Sie ruft nach ihm und bittet ihn, er solle den Hund festhalten, damit der das Blut des Hahns nicht sehe. Julia Timoschenko reißt ihrer Mutter Emma währenddessen das Gras aus dem Maul und pinkelt nebenbei den Enten in den Futtertrog. Jens meint, die junge Ziege verhalte sich genauso wie die echte Julia, nur dass diese hier ein weißes Fell habe, keinen blonden Zopf. "Blöd ist die Ziege ganz gewiss nicht", sagt er. "Sie schafft es zum Beispiel, die Türverriegelungen mit Maul und Hörnern selbst zu öffnen."

Bereitwillig führt Julia ihre Künste vor, als Jens den Riegel nicht im Zaun verhakt. Die eingesperrte Mutterziege sollte eigentlich einen Präsidenten bekommen, der Viktor Janukowitsch heißen sollte, für den 15. Mai war die Geburt erwartet worden. Doch Emmutschka brachte zwei Weibchen zur Welt. So herrscht meistens Frieden im Ziegenstall.

"Als wir noch in Deutschland lebten", erzählt Jens, "waren wir höchstens Besitzer von ein paar Stubenfliegen und einem kleinen Blumenbeet neben der Terrasse. Heute tummeln sich in unsrer kleinen Kolchose über einhundert Nutztiere, Hühner, Gänse, Enten, Kaninchen, Ziegen, und wir bewirtschaften etwa dreitausend Quadratmeter Land."

Hunde heißen "Rex"

Das wichtigste Tier ist allerdings die Schäferhündin Irma. Wenn Jens "Kuss" ruft, schleckt ihm Irma das Gesicht ab. Eigentlich sollte der reinrassige Welpen 200 Euro kosten, doch Lyudmyla erwies sich als geschickte Händlerin und bot dem Züchter ein Fahrrad als Tauschobjekt an. Der Naturhandel ermöglicht vielen Menschen das Überleben, in der Ukraine ist etwa die Hälfte aller wirtschaftlichen Tätigkeiten illegal. Lyudmyla wird einmal die Mindestrente von umgerechnet achtzig Euro erhalten. Irma darf im Schlafzimmer nächtigen, sie begleitet Jens bei seinen Einkäufen im Dorf oder an den Dnjepr. Ukrainer ketten ihre Hunde fast immer an, denn der Gedanke, dass der Hund des Menschen bester Freund sein könnte, ist ihnen fremd.

"Wildfremde Menschen sprechen uns auf Irma an und können kaum glauben, wie lieb und brav ein Hund sein kann", sagt Jens. "Viele Kinder kennen Irma, und möchten sie mal streicheln. Sie rufen schon von weitem nach ‚Rex‘, denn die österreichische Fernsehserie mit dem Hundekommissar ist sehr beliebt."

Seit zwei Jahren leben Lyudmyla und Jens im Dorf Červona Sloboda, Rote Erde. 1923, unter der Sowjetmacht, bekam es seinen heutigen Namen. Vorher hieß esČesarska Sloboda, Perlhuhn-Erde, und zu Ehren der Romanow-Dynastie auchČarska Sloboda, königliche Erde.

Mit dem Fahrrad ist man in wenigen Minuten am Dnjepr, der hier, südlich von Tscherkassy, 13 Kilometer breit ist. Der Kremen-tschuker See, zu dem der Dnjepr unter Stalin flussaufwärts gestaut wurde, hat 2252 Quadratkilometer Wasserfläche - und ist somit viermal so groß wie der Bodensee.

Wir schwimmen im Wasser, Irma leckt seinem Herrchen die Halbglatze ab. Jens sagt, er würde lieber versuchen, bis ans andere Ufer zu schwimmen, als achttausend Kilometer mit dem Rad zu fahren. Obwohl wir uns das Überqueren des Flusses beide nicht zutrauen.

Der fleißige Deutsche

Das Leben im ukrainischen Dorf ist für Jens gesünder als jenes, welches er in Deutschland als Webdesigner und Computerprogrammierer geführt hat. Er hat in den letzten zwei Jahren 50 Kilogramm abgenommen, hat aber immer noch einen mittelgroßen Bauch. Sein Auto hat er verkauft, zu den Märkten nach Tscherkassy fährt er mit dem Bus. Man kennt ihn im Dorf als den fleißigen Deutschen mit den goldenen Händen, der Bad und Küche gefliest und sogar eine Bodenheizung verlegt hat, der sonntags kocht und Kuchen backt und selbst deutsche Würste herstellt. Scherzend sagt er zu Lyudmyla, falls sie ihn einmal aus dem Haus weisen würde, würden ihn andere Frauen aus der Nachbarschaft gerne bei sich aufnehmen.

Wenn er an seine Hochzeit denkt, dann vor allem an den bürokratischen Aufwand, der für sie erforderlich war. Als er endlich glaubte, alle Papiere beisammen zu haben, forderte ihn ein Beamter bei der deutschen Ausländerbehörde auf, die Ehewilligkeit seiner Frau nachzuweisen. Er fragte den Beamten, ob Boris Becker, wenn er eine farbige Frau nach Deutschland holen wollte, auch dieses Papier vorweisen müsste. Die Antwort ärgert ihn noch heute: "Der kann auch Tennis spielen!"

Jens ist nicht im Groll von Deutschland geschieden, doch manches sei hier einfacher, selbst die Gründung einer Firma. Anders nämlich, als es deutschsprachige Zeitungen berichten, sei in der Ukraine unter Janukowitsch einiges besser geworden, die Steuergesetzgebung wurde vereinfacht, das Straf- und Zollrecht modernisiert, die Polizei pflege kein Raubrittertum mehr.

In Deutschland wurde er einmal von seinem Chef aufgefordert, einen Kollegen zur Entlassung zu bestimmen. Er weigerte sich, lieber verließ er selbst die Firma. Seine Frau habe als Saisonkraft in einem Gartencenter gearbeitet, nachts wurden dort die Zierpflanzen mit Gift besprüht, es wurde nicht gelüftet, die Frauen arbeiteten ohne Schutzanzüge. Sie wurden nicht informiert, dass nach dem Versprühen des Gifts zwei Wochen solch ein Gewächshaus nicht betreten werden sollte. Lyudmyla habe sich als einzige beschwert, doch sei nichts geschehen.

Jens kennt noch ein paar Deutsche, auch zwei Österreicher, die in der näheren Umgebung wohnen. Fast immer war eine Frau das Motiv für die Übersiedlung. Er hat seine Frau in einer Sparkasse kennen gelernt. Er installierte dort die Alarmanlagen, sie lebte illegal in Deutschland und putzte die Kassenräume. Spontan hatte sie ausgerufen: "Oh, was für ein großer Mann!"

Bei ihrem ersten Besuch in seiner Wohnung habe sie gestaunt, wie sauber die Wohnung für einen Junggesellen gewesen sei. Als ordentlicher Deutscher verlangte Jens von seiner künftigen Frau, dass sie zunächst wieder in ihre Heimat zurückkehren müsse, bevor er sie offiziell einladen und heiraten könne.

Fußball und Schnaps

Abends schauen wir Fußball, Ukraine gegen Schweden. Zur Feier des Sieges trinken wir Samagon, den ein Nachbar geschenkt hat, einen braunen Schnaps mit Walnussgeschmack. In der Ukraine darf jeder für den Eigenverbrauch Schnaps brennen. Der Selbstgebrannte hat noch mehr "Umdrehungen" als der Wodka, meist um die 50 bis 60 Prozent. Man benötigt ein Destilliergerät, leere Flaschen und ein Sieb, um das Feuerwasser herzustellen - und natürlich Wasser, Zucker, Hefe und Zutaten wie Pfeffer, Pflanzenöl, Lorbeerblätter, Tee, Äpfel, Birnen oder Pflaumen. Je nachdem, welch zauberhafter Geschmack den Rausch befördern soll.

Auf meine Frage, was er aus Deutschland vermisse, sagt Jens, "Bautzener Senf". Sonst eigentlich nichts. Übers Internet, per Skype, könne er ja jederzeit mit Freunden und Verwandten sprechen. Er sei froh, hier ein freies, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Ohnehin hätten schon die Sterne angezeigt, wo er einmal leben werde. Schließlich sollte er am 25. Dezember geboren werden, doch er wartete bis zum 7. Jänner, dem russischen Weihnachtstag.

Mich zieht es weiter nach Osten. An der Autobahn Kiev-Charkiv finde ich ein Restaurant, in dem eine Hochzeit und ein Geburtstag gefeiert werden und nebenbei Fußball geschaut wird. Mein Fahrrad wird bestaunt. Zuerst glauben alle, ich wolle zu einem der EM-Spiele fahren. Die Geburtstagsgesellschaft, zwölf Männer im mittleren Alter, lädt mich ein. Dass ein Fremder hier allein an einem Tisch sitzen würde, widerspräche den guten Sitten. Es wird mir sogar verziehen, dass ich keinen Wodka trinke, nur mit Bier anstoße.

Alle hoffen auf einen Sieg der Deutschen, nach jedem gelungenen Spielzug wird geklatscht. Deutsche werden in der Ukraine und in Russland bei Umfragen immer wieder als beliebteste Ausländer genannt, trotz der Schrecken, die Wehrmacht und SS verbreitet haben. Wenn heute ein Deutscher in einem russischen oder ukrainischen Steppendorf erscheint, wird er nicht mehr mit den Worten "Hitler kaputt" begrüßt, sondern mit dem Ausruf "Das ist fantastisch, ja, ja!" Dieser Spruch stammt aus einer deutschen Pornoreklame, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Fernsehen sehr populär war. Nahezu jeder kennt diese deutschen Worte, sie werden noch heute in der Werbung benutzt.

Völkerpsychologie

Der moderne Deutsche ist ein Lustmolch, kein Nazi mehr. An den Deutschen wird ihr Streben nach Exaktheit geachtet, die Fähigkeit, sich dem Objekt unterzuordnen, nicht wie die Ukrainer dem Subjekt. Die Deutschen unterwerfen sich einem unsichtbaren Fetisch, den Paragraphen, sie glauben an die Haltbarkeit des Rechts. Ukrainer und Russen vertrauen der eigenen Verwandtschaft und dem, was sie sehen. Persönliche Beziehungen und Geld bieten Schutz vor willkürlicher Verhaftung und fantastischen Anklagen, Korruption ist ein Demokratieersatz.

In der Pause und nach dem Spiel wird auf der Straße geraucht, obwohl das laut Gesetz seit drei Jahren verboten ist, ebenso wie das Trinken von Bier und Wodka. Die Strafe beträgt umgerechnet sechs Euro, ein durchschnittlicher Tageslohn.

Oleg, das Geburtstagskind, ist selbst ein Polizist, wie er zum Abschied gesteht. Er zeigt stolz auf seinen BMW und will wissen, welchen Ruf dieses Auto in Deutschland hat. Ich will ihn nicht beleidigen und verkneife mir die Bemerkung, dass meines Wissens vor allem Türken und Zuhälter in diese Marke vernarrt seien.

Christoph D. Brumme, geb. 1962 in Wernigerode (D), lebt als Schriftsteller in Berlin und fährt jeden Sommer mit dem Rad durch Russland und die Ukraine.