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Indiens Silicon Valley auf Talfahrt

Von Günter Spreitzhofer

Reflexionen

Chips und Jobs an der Kippe: In Bangalore, mittlerweile zu Bengaluru umgetauft, nehmen soziale Zerreißproben zu. Die "IT-Zentrale der Welt" droht das Opfer ihres eigenen Wachstums zu werden.


Südindiens Software--Industrie hat eine lange Tradition. Kurz nach der Unabhängigkeit, in den 1950ern, wurde Bangalore zur Keimzelle des Fortschritts gemacht: Mit Bharat Systems (Militärtechnik) und der indischen Telecom agierten hier bereits vorher erfolgreiche Großunternehmen. Massive staatliche Investitionen flossen vor allem in militärische Forschungsprojekte, die weit genug weg von China und Pakistan entwickelt werden konnten - politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit wurden zum ersten Credo des jungen Riesenstaates.

Topjobs für Rückkehrer

In den 1980ern, unter Premier Rajiv Gandhi, entstanden erste Technologieparks für Unternehmensgründungen. Texas Instruments verlegte, als erstes transnationales Unternehmen, Softwaredienstleistungen in die Region - der Startschuss für einen gewaltigen Influx von Multis, die zunächst Produktion und dann auch Entwicklung nach Bangalore outsourcten.

Das Platzen der Dot-Com-Blase trieb bald darauf über 30.000 hochqualifizierte indische Computerfachleute zurück nach Südasien: Ein Motivmix aus Push-Faktoren (drastisch gesunkener Bedarf in Europa und den USA) und Pull-Faktoren (Indien als neuer Motor für Innovation) war kennzeichnend für die Rückkehrer, die - oft an westlichen Universitäten ausgebildet - eine Fülle neuer Unternehmen gründeten. 1991 waren nicht einmal ein Dutzend IT-Firmen ansässig, heute sind es über 1500, die rund 180.000 Mitarbeiter beschäftigen - etwa so viele wie im amerikanischen Vorbild Silicon Valley.

Alles schien wunderbar, ein rasanter Aufschwung ohne Ende, der ganz Indien zum zukunftsorientierten Global Player machen sollte: Studien der US-Bank Goldman Sachs sehen Indien als schnellst wachsende Volkswirtschaft der Welt, die 2035 auf Platz drei vorrücken dürfte.

Das benötigt geballtes Know-How. Hindustan Aeronautics Limited, ein Flugzeughersteller, oder die Indian Space Research Organization, ein Satellitenproduzent, nutzen die High-Tech-Infra-strukturballung genauso wie der Boombereich Biotechnologie.

Fast die Hälfte der rund 250 indischen Biotechnologiefirmen sitzt mittlerweile im Großraum Bangalore. Der weltgrößte Exporteur von IT-Dienstleistungen ist das Land heute schon. Die Mieten waren günstig, die Lohnkosten auch. 300 bis 800 Euro monatlich für Programmierer waren für internationale Konzerne gering, für indische Verhältnisse wiederum großartig - rund ein Drittel der Inder lebt heute noch vom sprichwörtlichen Euro am Tag.

"IT liegt in der Luft"

China produziert Waren, Indien Wissen. Indien "liefert" jährlich fast 200.000 Informatiker, Deutschland 10.000. Indiens Top-Ausbildungen halten jedem Vergleich stand: Das Indian Institute of Technology (IIT) platzierte sich in einem globalen Ranking kürzlich hinter den US-Ingenieursschmieden Berkeley, MIT und Stanford auf Rang vier. Mindestens jeder dritte indische IT-Experte arbeitet in einer einzigen Stadt: Bangalore.

China ist die Fabrik der Welt, Indien das Entwicklungslabor. Die Elite der internationalen Software-Entwicklung, die meisten Telefondienstleister und immer mehr Entwicklungsabteilungen, wie etwa von General Electric und Daimler-Chrysler, sind in die indische Metropole eingezogen. "IT liegt hier einfach in der Luft", sagt Georg Kniese, Geschäftsführer des deutschen Software-Konzerns SAP, der jährlich bis zu 100.000 indische Bewerbungen vorliegen hat.

Grüne Parallelwelten

Wer Karriere machen wollte, ging nach Bangalore und hatte bis vor kurzem ein gutes Leben sicher. Intel und IBM, Cisco und Dell, Bosch und Motorola, Siemens und McAfee: Die Großen der Branche sind alle da und haben sich in Technologieparks niedergelassen, wie Electronics City oder International Technology Park (ITP). Parallelwelten ohne Wellblech, ohne Gestank, ohne Lärm, mit eigenen Kläranlagen. Mit lichtdurchfluteten Innenhöfen, Parkanlagen, lieblichen Brunnen und viel Grün. Oasen aus Stahl und Glas, getrennt durch Sicherheitsschleusen von dem indischen Alltag draußen vor dem Stacheldraht, wo Kühe leere Pizzakartons und zerrissene Handyhüllen fressen.

Bloß wird es immer schwieriger, dorthin zu kommen. Stundenlange Anfahrtszeiten in klapprigen Stadtbussen, Stau und Smog sind nicht gerade motivationsförderlich. Also sorgen oftmals firmeneigene klimatisierte Luxusbus-Flotten für Abholdienste. Die stehen zwar auch im Stau, dafür gekühlt und unterhaltsam für alle, die Videos lieben. Eine Spielfilmlänge geht sich oft genug aus, auch auf acht Kilometern Pendeldistanz.

China war gestern, das Land der Stunde sei Indien, schrieb die "Financial Times" noch 2005. Zumindest Indiens Vorzeigestadt schlägt derzeit jedoch selber die Stunde. Die Stadt beherrscht den eigenen Boom schon lange nicht mehr. Zwischen 2001 und 2011 hat sich die Bevölkerungszahl verdoppelt: Groß-Bangalore hat mittlerweile fast 10 Millionen Einwohner. Der drittgrößte Ballungsraum Indiens liegt auf 900 Meter Seehöhe, mit vergleichsweise angenehmem Klima ohne tropisch-schwüle Sommerhitze. Überhitzung ist dennoch weder zu übersehen noch zu überhören, ganz abgesehen von qualmenden Motorrikscha-Auspuffen und nächtlichen Presslufthämmern in der neuen, schicken Fußgängerzone.

Kanalisation, Straßen und die Energieversorgung sind maroder denn je. Zeitgleich steigen die Hotelpreise noch rascher als die Gagen der Software-Profis, sodass die ersten Unternehmen nach China weitergezogen sind. China ist staatlich gesteuerte Effizienz, Indien hingegen bürokratisches Chaos. China investiert jährlich 25 Milliarden Euro in sein Straßennetz, Indien nicht einmal ein Zehntel davon. Oft braucht ein Container von Bangalore zum nächsten Hafen länger als dann per Schiff weiter nach Europa.

Vieles ist zu schnell gegangen, zu rasch gewachsen, zu groß geworden. Die Euphorie der 1990er Jahre ist verflogen. Die aktuelle Finanzkrise mag es vielen Unternehmen nicht leichter machen - dünnere Auftragsbücher führen seit ein paar Jahren zu ersten Massenentlassungen, selbst Absolventen von Spitzenuniversitäten haben in Bangalores Software-Industrie keinen adäquaten Job mehr sicher. Und die angelernten Programmierer noch weniger, die gerade ein wenig Mittelklasseluft geschnuppert und sich daran schon fast gewöhnt hatten.

Doch die Sache mit der Software stinkt schon länger, übertüncht nur von weltweit rosigen Konjunkturdaten zu Beginn des neuen Jahrtausends. Halbfertige Überführungen ragen ins Nichts, improvisierte Umleitungen halten über Jahre, Luxus-Langstreckenbusse schaukeln über staubige Schlaglochkrater Richtung Busterminal. Bei Monsun steht dieser dann unter Wasser, wie auch sonst weite Teile der Stadt. Zumindest das erste Teilstück der Bengaluru Metro wurde 2011 eröffnet.

Die Kluft zwischen Arm und Reich war hier schon vor der Krise dramatischer als anderswo. Die soziale Temperatur hat in Bangalore längst Siededimensionen angenommen, mit denen sich politisch prächtig Stimmung machen lässt. 2005 stieg der indische Aktienindex Sensex um 50 Prozent. Erstmals flossen weltweit mehr Investitionen nach Indien als in die USA. Zeit für eine Notbremse, einen symbolischen Akt der Globalisierungsopfer?

2006 war es so weit. Der indische Schriftsteller U. R. Ananthamurthy, unermüdlicher Kämpfer gegen die Auswüchse des Informationszeitalters und das Vergessen alter Traditionen, hatte sich durchgesetzt. Bangalore, Hightech-Zentrum und globales Synonym für Outsourcing, Call Center und Software, hieß nunmehr Bengaluru. "Auch die Klasse der Elite muss den Namenswechsel zur Kenntnis nehmen", sagt er, was die angesprochene Elite nur widerstrebend goutiert, die um den etablierten Markennamen Bangalore fürchtet.

Höchste Selbstmordrate

Mit der Klasse der Elite sind die IT-Fachleute gemeint, Ausländer wie Inder gleichermaßen, die selbst meist zugezogen sind. Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist nicht in Bengaluru geboren. Sie reden miteinander vor allem Englisch, arbeiten in Parallelwelten am Rande der Stadt, und leben zwischen Fitness-Studio, Shopping-Mall und vollklimatisiertem Großraumbüro. Über Leistungsdruck, Verdrängung und den "Kampf ums Leiberl" spricht man weniger gerne. Bengaluru verzeichnet seit 2007 die höchste Selbstmordrate aller indischen Städte.

Bengaluru ist die Hauptstadt des Bundesstaates Karnataka, ein Agrarzentrum mit über 60 Millionen Menschen, wo eigentlich Kannada die wichtigste Landessprache ist. Neidparolen gegen die urbanen Wirtschaftseliten bringen fette Stimmen bei der Mehrheit der armen Landbevölkerung. Populistische Patentrezepte gegen die notorisch überlastete Infrastruktur waren stets rasch gefunden: "Der beste Weg ist, die IT-Industrie zu beschneiden, soll sie doch auf andere Standorte ausweichen", forderte der indische Premier Deve Gowda bereits 1997.

Die Umbenennung zahlreicher Städte war ein klares Signal gegen Unbehagen und Wehrlosigkeit vor dem Hintergrund rasanterer Globalisierung als anderswo. In der "Stadt der gekochten Bohnen", wie Bengaluru übersetzt heißt, wird Kannada zum Machtfaktor und Reibebaum. "Jobs für Kannada-Sprecher" wurde zum Parteiprogramm der Bauernpartei Janata Dal, die an einem wunden Punkt des Wirtschaftswunders ansetzte: Die Stadtregierungen verteilten jahrelang freizügig Gratisbauland für Softwarefirmen am Rande der Stadt, was die Ausgrenzung und Verslumung der Kannada-sprechenden Schichten weiter verstärkte.

Minimale Anlässe - etwa der Tod eines Kannada-sprechenden Filmstars - genügten, einen aufgebrachten Mob durch Bangalore ziehen zu lassen, der Geschäfte und Microsoft-Labors verwüstete. Der Produktionsausfall allein an diesem einen Tag betrug 160 Millionen Dollar.

Aroon Purie, Gründer und Herausgeber von "India Today", bringt die Krise auf den Punkt: "Die Industrie hat ihre Versprechen erfüllt. Sie hat Arbeitsplätze geschaffen, Dollar ins Land gebracht. Es sind diejenigen, die Bangalore regieren, die versagt haben. Die indischen Politiker verharren im 19. Jahrhundert, während wir im 21. leben wollen".

Viele tun es auch - aber noch viel mehr nicht. Die Slums werden größer, fressen sich gespenstisch unter die haushohen Werbeplakate für eine neue, bessere Welt von schönen Menschen in großen Apartmentblocks mit riesigen Plasma-TVs. Viele dieser Parallelwelten existieren bereits real, bloß ist kaum hinzukommen, obwohl nur wenige Kilometer Luftlinie dazwischen liegen.

"Seit Jahren hören wir von breiteren Straßen in einer Stadt, in der die Besten in der besten Umgebung leben können. All diese Versprechen sind nichts als eine Fata Morgana", hat auch Smitha Rao von der Tageszeitung "Times of India" längst resigniert. "Die Chancen der anderen Städte sind das Versagen Bangalores."

Der indische Mittelstand mag auf 300 Millionen Menschen angewachsen sein, was aber den übrigen 900 Millionen wenig hilft. Wo die 700 Millionen Breitbandnutzer herkommen sollen, die Microsoft für die nächsten Jahre prognostiziert, bleibt so unklar wie die Euphorie über die neue Smartphone-Generation, die unter 100 Euro kosten soll. Der Entwicklungsindex der Vereinten Nationen aus 2011 sieht Indien auf Platz 134, hinter Kap Verde, gerade noch vor Ghana.

Neustädte am Reißbrett

Das soziale Gefälle als Lunte zum computerdesignten Pulverfass? Laptops sind die Lebensgrundlage für die einen, ein paar Kilometer weiter gibt es weder Wasser noch Strom für die anderen. Deren Informationszeitalter ist beschränkt auf Überlebensstrategien für den nächsten Tag.

Nicht wenige Konzerne haben schon vor der Krise die Flucht ergriffen. Einheimische Software-Giganten wie Wipro und Infosys lagern ganze Abteilungen nach Mumbai oder Hyderabad aus. Oder sie bauen einfach firmeneigene Vororte am Reißbrett, inklusive Schule, Einkaufszentrum, Golfplatz und Krankenhaus, um die Clustervorteile Bengalurus nicht aufgeben zu müssen. "Vergiss die alten Städte", sagt Ravi Venkatesan, der scheidende Chef von Microsoft India. "Wir bauen einfach neue."

Günter Spreitzhofer, geboren 1966, ist Lektor am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien; Arbeitschwerpunkte: (Südost-)Asien, Tourismus, Urbanisierung & soziokulturelle Transformation, Umwelt & Ressourcen.