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Goldregen im September

Von Thomas Karny

Reflexionen

Fischer, Spitz, Viren, Fittipaldi: 1972 sorgten binnen eineinhalb Wochen vier Akteure in völlig unterschiedlichen Disziplinen für unvergessliche Sternstunden des Sports.


Es waren die ersten zehn Tage im September 1972, in denen sich außergewöhnliche Sporterfolge von epochaler Bedeutung bündelten. An erster Stelle in der Chronologie der Ereignisse steht eine Veranstaltung, von der man sich heute gar nicht vorstellen kann, dass sie über das Potenzial globaler Aufmerksamkeit verfügte. Noch dazu, da sie im damals als zivilisatorische Randzone empfundenen Island stattfand: Die Schachweltmeisterschaft zwischen Boris Spasski und Bobby Fischer. Vielleicht ist es gewagt, Schach in die Liste von Sporterfolgen einzureihen. Wenn man aber Sport als spielerische Ersatzhandlung für eine ernsthafte Konfrontation (wie etwa einen Krieg) interpretiert, hat das königliche Brettspiel alle Berechtigung, hier angeführt zu werden.

So war es auch die bleierne Epoche des Kalten Krieges, in der sich der 35-jährige russische Weltmeister und sein um sechs Jahre jüngerer US-amerikanischer Herausforderer in Reykjavik duellierten. Unbestreitbar bezog diese Auseinandersetzung ihre Brisanz auch aus dem Umstand, dass beide Spieler stellvertretend für unterschiedliche Weltanschauungen standen. Der Sieger suggerierte im Kampf der Symbole schlussendlich auch die Überlegenheit des Gesellschaftsentwurfs seines Landes.

Einzelkämpfer Fischer

Schach galt als Domäne der Sowjetunion - ihre Spieler stellten seit Ende des Zweiten Weltkrieges den Weltmeister. Den von ihr ausgerufenen "Wettstreit der Systeme" sollte der exzentrische Amerikaner furios gewinnen. Wohl unterlag er in der ersten Partie und trat zur zweiten aus Protest gegen drei im Zuschauerraum postierte Fernsehkameras, von denen er sich in seiner Konzentration gestört fühlte, erst gar nicht an und gab sie somit kampflos verloren. Doch Spasski konnte diesen Vorteil nicht nutzen.

Die 21. Partie wurde als Hängepartie abgebrochen, tags darauf, am 1. September 1972, teilte Spasski telefonisch seine Aufgabe mit. Der amerikanische Einzelkämpfer, der auf die Dienste seines Sekundanten William Lombardy kaum zurückgegriff, hatte dem Russen und dessen aus zahlreichen Großmeistern bestehenden Berater-Kollektiv mit 12½ : 8½ erfolgreich die Stirn geboten.

Fischer hatte durch seinen Erfolg und wesentlich mehr noch durch sein exaltiertes Auftreten den Status eines Popstars erreicht und für einen unvorhergesehenen Schach-Hype gesorgt. Dass er das Preisgeld für die WM 1972 auf 275.000 US-Dollar geschraubt hatte (gegenüber 1500 Dollar im Jahre 1969) und erst von Henry Kissinger persönlich zur Reise nach Reykjavik bewogen werden konnte, passte gut ins Bild. Der Dominator der 64 Felder, der als 15-Jähriger erstmals die amerikanische Meisterschaft gewann, avancierte zum Idol einer plötzlich schachbegeisterten Generation.

Er selbst jedoch trat nie mehr bei einem offiziellen Turnier an. Die Titelverteidigung 1975 gegen Anatoli Karpow scheiterte an Fischers überzogenen Forderungen. Seine Teilnahme an der 1992 privat organisierten und im zerfallenden Jugoslawien durchgeführten Wiederauflage des WM-Kampfes gegen Spasski, die Fischer abermals gewinnen konnte, wurde als Verstoß gegen das US-Wirtschaftsembargo ausgelegt.

Die einst als Beleg für die Überlegenheit der freien Welt benutzte Amerika-Ikone wurde zum Vaterlandsverräter degradiert. Der eigenbrötlerische Schach-Guru, dem in seiner Heimat eine zehnjährige Haftstrafe drohte, reiste nie mehr in die USA. 2005 ließ er sich nach einer jahrelangen Odyssee gemeinsam mit seiner japanischen Ehefrau Miyoko Watai in Island nieder und nahm die dortige Staatsbürgerschaft an. Zuletzt fiel Fischer durch antisemitische und antiamerikanische Äußerungen auf. Am 17. Jänner 2008 starb er an den Folgen eines Nierenversagens. Der Trauerzeremonie wohnten fünf Personen bei.

Die zeitweise parallel zur Schach-WM ausgetragenen 20. Olympischen Sommerspiele in München standen zunächst im Zeichen der Jugend und der überraschenden Triumphe. Die erst 16-jährige Deutsche Ulrike Meyfarth gewann mit 1,92 Meter den Frauenhochsprung und egalisierte damit den Weltrekord der Österreicherin Ilona Gusenbauer, die sich mit Bronze bescheiden musste. Erfolgreichste Turnerin wurde mit drei Gold- und einer Silbermedaille die 17-jährige Weißrussin Olga Korbut, und dem Ukrainer Valeri Borsow gelang als erstem Europäer der Sprintdoppelsieg über 100 und 200 Meter.

Zum Superstar der Spiele aber avancierte der 22-jährige US-amerikanische Schwimmer Mark Spitz. Der Stern des gebürtigen Kaliforniers entwickelte zwar in München seine ganze Strahlkraft, aufgegangen war er aber schon wesentlich früher. Mit 15 Jahren gewann er bei der Makkabiade in Tel Aviv vier und zwei Jahre später bei den Panamerikanischen Spielen in Winnipeg fünf Goldmedaillen. Bei Olympia 1968 in Mexiko-Stadt reichte es nur zu zwei Staffel-Siegen, womit Spitz deutlich unter dem von ihm selbst gesteckten Ziel von sechs Goldmedaillen blieb.

Sieben Weltrekorde

Als "Mark the Shark" am 4. September 1972 in München jedoch seinen siebenten Bewerb - und wie die sechs zuvor auch diesen in Weltbestzeit - gewann, stellte er damit einen Rekord auf, der das Jahrtausend überdauern sollte. Erst in Peking 2008 konnte sich sein Landsmann Michael Phelps über acht Olympiagoldmedaillen freuen.

Im Gegensatz dazu währte die ausgelassene Stimmung der "heiteren" Spiele nicht einmal mehr einen Tag. Denn am 5. September forderten die Geiselnahme der israelischen Sportler durch die palästinensische Terrorgruppe "Schwarzer September" und ein missglückter Polizeieieinsatz 17 Todesopfer. Die dem Grundkonzept der Völkerverständigung entsprechende geringe Kontrolldichte beim Zutritt zum Olympischen Dorf war zur mörderischen Sicherheitslücke geworden.

Da wurde die Aufregung um Mark Spitz, dem man gegen die Bestimmungen des IOC verstoßendes Marketing vorwarf, als er bei der Siegerehrung nach seinem Triumph über 200 Meter Freistil mit seinen Turnschuhen dem Publikum zuwinkte, zur Fußnote. Schuhe waren auch der Grund für ein Scharmützel im Vorfeld der Spiele, als sich Puma und Adidas nicht einigen konnten, wer den 18-jährigen Günter Zahn, der als Schlussläufer der Eröffnung das Olympische Feuer entzündete, ausstatten darf. Schlussendlich lief Zahn mit weißen Schuhen ohne jedwedes Firmenlogo ein.

Spitz trat nach München vom aktiven Sport zurück, eine angestrebte Hollywood-Karriere scheiterte. Auch sein bizarrer Comeback-Versuch bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona endete bereits in der Qualifikation. Heute lebt Spitz, verheiratet mit Ex-Model Susan Weiner und Vater zweier Söhne, in Los Angeles und arbeitet als Promotor.

Ähnlichen Kultstatus genießt der Langstreckenläufer Lasse Viren in seiner finnischen Heimat. 1972 lief der Polizist aus Myrskylä als 23-Jähriger sowohl im 5000- als auch 10.000-Meter-Rennen zu Gold. Außer ihm hatten diese außergewöhnliche Leistung nur sein Landsmann Hannes Kolehmainen (1912), die tschechische Lauflegende Emil Zátopek (1952), der Russe Wolodymyr Kuz (1956) sowie später die Äthiopier Miruts Yifter (1980) und Kenenisa Bekele (2008) geschafft. Beim 10.000-Meter-Lauf war Viren gestürzt, kam aber schnell wieder auf die Beine und gewann sogar in neuer Weltrekordzeit! Als bisher einzigem Läufer überhaupt gelang Viren das Bravourstück, beide Siege bei den nächsten Olympischen Spielen (Montreal 1976) zu wiederholen. Wie Spitz vier Jahre zuvor beschäftigte auch Viren nun das IOC, weil er nach seiner Titelverteidigung über 10.000 Meter seine Schuhe ausgezogen und sie während der Auslaufrunde mit ausgestreckten Armen dem Publikum und den Fernsehkameras präsentiert hatte (siehe Foto, Anm.). Seine Karriere beendete der Finne bei den Olympischen Spielen in Moskau 1980, als er beim Marathonlauf nach etwa halber Distanz aufgab.

Nie gänzlich verstummt sind die Gerüchte um das - zu Virens Aktivzeit allerdings erlaubte - Blutdoping. Der Finne erklärte seine Erfolge mit seinem Training im Wald: "Wenn du im Wald läufst, musst du ständig das Tempo und den Laufrhythmus ändern (. . .) Das verlangt ständige Wachsamkeit wie im Wettkampf." Heute betreibt Viren, der von 1999 bis 2007 und von 2010 bis 2011 Parlamentsabgeordneter der Nationalen Sammlungspartei war, eine kleine Spedition.

Jüngster Weltmeister

Am 10. September 1972, dem gleichen Sonntag, an dem Viren in München das 5000-Meter-Finale gewann, feierte der 26-jährige Formel-1-Pilot Emerson Fittipaldi in Monza seinen fünften Saisonsieg und kürte sich nicht nur zum bis dahin jüngsten, sondern auch ersten brasilianischen Weltmeister. Fittipaldi war erst 1970 in die Königsklasse des Motorsports aufgestiegen und gleich beim Top-Team Lotus gelandet. Am Ende desselben Jahres gewann er in Watkins Glen seinen ersten Grand Prix und wurde so Geburtshelfer eines der größten Rennfahrermythen: Der Brasilianer hatte mit seinem unerwarteten Triumph Jochen Rindt postum zum Weltmeister gemacht.

Nachdem Fittipaldi 1974 auf McLaren zum zweiten Mal die Weltmeisterschaft gewonnen hatte, gründete er mit seinem Bruder Wilson den ersten brasilianischen Formel-1-Rennstall. Obwohl mit Copersucar, einem der weltgrößten Zucker- und Alkoholproduzenten, in den ersten drei Jahren ein potenter Sponsor für das notwendige finanzielle Unterfutter sorgte, konnte Fittipaldi Automotive den hohen Erwartungen nie gerecht werden und verließ Ende 1982 sang- und klanglos die Formel 1-Bühne.

Fittipaldis Verdienst ist es, mit seinen beiden WM-Titeln die brasilianische Formel-1-Ära initiiert zu haben, die zwischen 1972 und 1991 nicht weniger als achtmal den Fahrertitel für sich beanspruchte. Nach Fittipaldi gingen jeweils drei Titel an Nelson Piquet und Ayrton Senna. Damit ist Brasilien hinter Großbritannien und Deutschland die dritterfolgreichste Formel-1-Nation. Seit Sennas letztem WM-Titel 1991 ist die Formel 1 allerdings eine europäische Domäne, in welche einzig der Kanadier Jacques Villeneuve 1997 erfolgreich eindringen konnte.

Zehn Tage im September 1972. Selten gab es innerhalb so kurzer Zeit derart glänzende Sporterfolge von historischer Bedeutung.

Thomas Karny, geb. 1964, ist Sozialpädagoge, Autor und Journalist. Mehrere Buchveröffentlichungen zu Zeit- und Motorsportgeschichte. Lebt in Graz.