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Neun furchtlose Teenager

Von Arthur Fürnhammer

Wissen

Im September 1957 erkämpften schwarze Schülerinnen und Schüler den Unterrichtsbesuch in einer traditionell weißen Schule. Als "Little Rock Nine" gingen sie in die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung ein.


Vor 55 Jahren, am 23. September 1957, kommt es zu einer Premiere in der Geschichte des US-Fernsehens. Zum ersten Mal wird für ein aktuelles Ereignis das reguläre Programm unterbrochen, um live zu berichten. Der Grund dafür ist auf den ersten Blick banal: der Schulbesuch von neun afroamerikanischen Teenagern in Little Rock, der Hauptstadt von Arkansas. Doch als Präsident Eisenhower den Einsatz der "Screaming Eagles" anordnet, jener verdienstvollen Luftlandeeinheit der US-Armee, um den Jugendlichen den Schuleintritt zu ermöglichen, sieht ganz Amerika zu.

Von Soldaten der US Army geschützt, traten die "Little Rock Nine" ihren Schulweg an.
© © Bettmann/CORBIS

Die Rassentrennung war in den Südstaaten der USA bis Mitte der 50er Jahre Realität und auch verfassungsrechtlich gedeckt. Auf Basis des Prinzips "getrennt aber gleich" ("seperate but equal") sollte laut Gesetz jedem Schüler das gleiche schulische Angebot zur Verfügung stehen, wenn auch in unterschiedlichen, nach Hautfarbe getrennten Institutionen.

Chancenungleichheit

Doch die Gleichheit bestand nur auf dem Papier. Im zentralen Schulbezirk von Little Rock gab es eine Highschool für "weiße" und eine für "schwarze" Schüler. Beide gehörten zu den besten der USA - und doch lagen Welten dazwischen. Die Little Rock Central High School (auch "Central High") galt nach ihrer Eröffnung 1927 als modernste, und für das "American Institute of Architects" gar als schönste Schule der USA.

Auch die nur wenige Blocks entfernte Laurence Dunbar High School wurde landesweit als eine der besten Schulen für Afroamerikaner gelobt. Doch Dunbar hatteein geringeres schulisches Angebot und insgesamt weniger Geld zur Verfügung. Für die Schüler der Central High gab es jedes Jahr neue Schulbücher, für die Schüler von Dunbar hingegen nur die gebrauchten Bücher ihrer Nachbarschule, Schmierereien und abschätzige Kommentare inklusive.

1954 gelang der NAACP ("National Association for the Advancement of Coloured People"), einer der ältesten und einflussreichsten Bürgerrechtsorganisationen der USA, ein historischer Erfolg. In einer Reihe von Urteilen gab das Oberste Bundesgericht ihrer Klage statt und erklärte unter dem Vorsitz des Richters Earl Warren die Rassentrennung an öffentlichen Schulen für verfassungswidrig. Nachteilig war nur, dass der Supreme Court keine Frist setzte, bis zu der die Integration Farbiger im Schulwesen abgeschlossen sein musste. Die Formulierung "at all deliberate speed" ("mit aller gebotener Geschwindigkeit") gab Spielraum zur Auslegung, der auch genutzt wurde.

Das Schulwesen in den USA war traditionell Kompetenz der Bundesstaaten, daher empfanden viele Südstaaten das Brown-Urteil als unzulässige Einmischung durch die Bundesgewalt und taten alles, um die Umsetzung des Urteils zu verschleppen. In Arkansas jedoch, einem vergleichsweise liberalen Bundesstaat, entschied die Schulbehörde von Little Rock, die Central High School beginnend mit dem Schuljahr 1957 zur Integration freizugeben. 80 Schüler von Dunbar meldeten sich für einen Übertritt zur Central High School an. Nach einem Ausleseverfahren, durchgeführt von der lokalen Gruppe der NAACP, bei dem die schulischen Leistungen, vor allem aber die mentale Stärke der Kandidaten geprüft wurde, blieben am Ende des Sommers zehn Schüler übrig, die bereit waren, ihre schulische Laufbahn an der Central High, einer Schule mit 1900 weißen Schülern, fortzusetzen.

Über den Sommer hatte sich auch die Stimmung unter der Bevölkerung von Little Rock aufgeheizt. Eine Vereinigung besorgter (weißer) Mütter reichte mit dem Verweis auf drohende Gewaltausbrüche Klage gegen den Integrationsplan der Schulbehörde ein und bekam Recht. Drei Tage später wurde das Urteil von einem Bundesgericht wieder aufgehoben, womit dem Schuleintritt der zehn Jugendlichen zumindest rechtlich nichts im Wege stand.

Doch der Gouverneur von Arkansas, Orval Eugene Faubus, hatte andere Pläne. Er galt im Bezug auf die Rassentrennung als moderat. Unter dem größer werdenden Druck aus der Bevölkerung und von Südstaatenpolitikern wurde dem früheren Leiter eines Provinzblattes ohne nennenswerten politischen Rückhalt aber bewusst, dass seine politische Zukunft auf dem Spiel stand. Faubus berief daher am Tag vor dem offiziellen Schulbeginn 10.000 Mann der Nationalgarde von Arkansas ein und ließ das Schulgebäude umstellen. Zum Schutz der Schüler, wie es offiziell hieß. Als ein Wachposten aber am nächsten Tag gefragt wurde, weshalb er hier sei, antwortete dieser: "to keep the niggers out".

Der Konflikt

Am Morgen des 3. September organisiert die Präsidentin des NAACP in Arkansas, Daisy Bates, Autos, um die Schüler geschlossen zur Central High zu bringen. Als die Gruppe das Schulgebäude erreicht, wird sie bereits von Reportern und Filmteams und von einer großen Menge aufgebrachter Passanten erwartet. Daisy Bates und den zehn Schülern bleibt nichts anderes übrig, als umzukehren und das Schulgelände zu verlassen.

Doch der Konflikt hat nun die Aufmerksamkeit des Landes und auch die des Präsidenten der USA: Dwight D. Eisenhower, gerade auf Golfurlaub, willigt ein, Faubus zu treffen. Dieser verspricht ihm, seine Order an die Wachkräfte rückgängig zu machen und den zehn Schülern Zutritt zur Schule zu gewähren. Aber der Gouverneur denkt vorerst nicht daran, sein Versprechen zu erfüllen. Die Nationalgarde bleibt. Erst zwei Wochen später, als ein Bundesgericht urteilt, dass Faubus die Nationalgarde rechtswidrig dazu benutzt hat, die Umsetzung einer Entscheidung des Supreme Courts zu verhindern, lässt dieser die Wachposten entfernen.

Tags darauf, am 23. September, probieren es Daisy Bates und die neun Schüler - einer hatte mittlerweile aufgegeben - erneut. Mit einer Polizeieskorte werden sie zur Central High gebracht, über einen Seiteneingang gelangen sie ins Schulgebäude. Als die Menge vor der Schule davon erfährt, eskaliert die Gewalt. Den Schulverantwortlichen und der Polizei, die um das Leben der Schüler fürchten, bleibt nichts anders übrig, als die Schüler nach ein paar Stunden wieder aus dem Gebäude zu eskortierten und in Sicherheit zu bringen. Der Bürgermeister von Little Rock wiederum sieht daraufhin keine andere Wahl, als dem Präsidenten der USA ein Telegramm zu schicken, in dem er ihn darum bittet einzugreifen, da in Little Rock bald kriegsähnliche Zustände herrschen würden.

Präsident Eisenhower reagiert. Der hoch dekorierte General ist kein Freund einer Aufweichung der Rassengesetze und auch mit dem Brown-Urteil wenig glücklich. Als Eisenhower daher die 101st Airborne nach Little Rock abkommandiert und die Nationalgarde von Arkansas unter Bundeskommando stellt, steckt weniger der Wunsch dahinter, einer Minderheit zu ihren Rechten zu verhelfen.

Für den Präsidenten geht es um das Bild der USA in einer Welt, die vom Kalten Krieg dominiert wird. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wären die von den Medien in alle Welt getragenen Bilder der neun entrechteten schwarzen Schüler nur allzu willkommenes Material für kommunistische Propaganda.

Keinesfalls passen sie ins Bild einer freien, demokratischen Gesellschaft. Daneben steht für Eisenhower auch das Supremat der Bundesverfassung auf dem Spiel, die weder durch die Entscheidung eines Gouverneurs noch durch den Furor eines aufgebrachten Mobs außer Kraft gesetzt werden könne.

Zwei Tage später, als die Luftlandetruppen in Little Rock eintreffen, verlautbart Faubus: "We are now occupied territory" ("Wir sind nun besetztes Gebiet."). Am 25. September schließlich eskortieren Soldaten mit gezückten Gewehren neun Schüler in das Gebäude von Central High. Die Bilder der Jugendlichen, die umringt von Militär die Stufen zum Haupteingang der Central High hinaufsteigen, gehen um die Welt.

Doch für Melba Pattilo Beals, Elizabeth Eckford, Ernest Green, Gloria Ray Karlmark, Carlotta Walls Lanier, Terrence Roberts, Jefferson Thomas, Minnijean Brown Trickey und Thelma Mothershed beginnen die Probleme erst. Für die furchtlosen Jugendlichen, die bald als die "Little Rock Nine" berühmt werden, wird der Schulalltag zum täglichen Horror.

Ständig sind sie Schikanen und Belästigungen ausgesetzt, die nur eines bezwecken: sie zur Aufgabe zu bringen. Man stößt sie Stiegen hinunter, fügt ihnen Brandwunden zu, schlägt sie. Die Soldaten, die sich weiterhin im Schulgebäude aufhielten, sind machtlos, ein Eingreifen ist ihnen nur bei Gefahr für Leib und Leben erlaubt. Als Minnijean Brown von einem Mädchen drangsaliert wird und ihre Antwort ("leave me alone, white trash") von einem zufällig um die Ecke kommenden Aufseher gehört wird, fliegt sie von der Schule. Alle anderen können das Schuljahr beenden.

Schulschließung

Aber Gouverneur Faubus, weiterhin um sein politisches Überleben bemüht, will die Aufweichung der Rassentrennung nicht hinnehmen. Im August 1958 bekommt er im Senat überwältigende Zustimmung für Gesetzesvorhaben, die einer weiteren Integration den Riegel vorschieben. Für Faubus ist es nun unter anderem gesetzlich möglich, bestimmte Schulen zur Integration ganz einfach zu schließen. Als eine Volksbefragung sein Vorhaben unterstützt, wird die Central High School auch tatsächlich für ein Schuljahr geschlossen. Erst neun Monate später erklärt ein Bundesgericht die Schulschließungen für verfassungswidrig.

Mittlerweile sind einige der Little Rock Nine zu anderen Schulen gewechselt. Nur drei setzen ihre Ausbildung an der Central High fort und ein Jahr später schafft Ernest Green als Erster von ihnen einen Schulabschluss an der Central High. Es ist auch ein Erfolg für Daisy Bates und das NAACP - und doch nur ein kleiner Schritt hin zu einer flächendeckenden Umsetzung des Brown-Urteils. Im Schulbezirk Little Rock kommt es erst 1972 zu einer Aufhebung der Rassentrennung an allen Schulen.

Heute zählen die Ereignisse rund um die "Little Rock Nine" zu einem Meilenstein der Bürgerrechtsbewegung, gleichbedeutend mit dem Busboykott von Rosa Parks (1955) und der "I have a dream"-Rede von Martin Luther King (1963).

Arthur Fürnhammer, geboren 1972, lebt als freier Autor und Journalist in Wien. 2008 erschien im Iatros Verlag sein Buch "Unterwegs nach Alba-nien".