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Probetanz auf dem Vulkan

Von Petra Rathmanner

Reflexionen

Ein Blick hinter die Kulissen des künstlerischen Hochleistungsbetriebs Burgtheater am Beispiel von Ferdinand Raimunds "Der Alpenkönig und der Menschenfeind", das diesen Samstag Premiere hat.


Cornelius Obonya (links) als der Menschenfeind Rappelkopf und Nikolaus Krisch als Alpenkönig während der Proben zur neuen Burgtheater-Produktion.
© Foto: © Reinhard Werner, Burgtheater

Wenig ist wohl so eng mit dem Wesen des Theaters verbunden wie die Panne. An einem Freitag Mitte September beginnt die Probe auf der Probenbühne des Burgtheaters verspätet, weil eine der Schauspielerinnen irrtümlich das Haupthaus am Ring angepeilt hatte.

In Probenraum 1 im Arsenal, einem funktionalen Neubau inmitten eines parkähnlichen Areals im Südosten der Stadt, ist wegen der Verzögerung jedoch keinerlei Murren zu hören. So etwas passiert.

Unwägbarkeiten

Theater ist auch ein Ort, an dem ein so lässiger wie routinierter Umgang mit Unwägbarkeiten gepflogen wird. Es kommt häufig vor, dass gerade im letzten Drittel der Probenarbeit zwischen großer Innenstadtbühne und Arsenal-Probenraum gependelt wird. In der entscheidenden Phase vor der Premiere werden technische Abläufe abgestimmt, Lichteinstellungen, Bühnentechnik, Spezialeffekte, Ton. Die Schauspieler arbeiteten an einzelnen Szenen, an zen-tralen Momenten des Spiels.

Es ist kurz nach 11 Uhr. Burgschauspieler Johann Adam Oest erzählt launige Anekdoten; Baritonstimme und schallendes Gelächter des Spontan-Conférenciers erfüllen den Raum. Nach weiteren 30 Minuten trifft die Schauspielerin mit gelinden Orientierungsschwierigkeiten endlich ein. Noch während sie sich Luft macht, dass sie keineswegs Schuld an der Verspätung trage - am Theater gehen die Emotionen eben schnell hoch -, wird es dunkel im Raum. Nur mehr die Bühne ist grell ausgeleuchtet.

Wie auf Kommando befinden sich alle auf ihren Plätzen: Vor der Bühne bezieht die Souffleuse an ihrem Pult Position, dahinter sitzen Techniker, Produktionsleiterin, Kostümbildnern, Assistenten. Auf der Bühne nehmen drei Schauspieler Aufstellung. Sie tragen Probenkostüme, die bereits vage an das Gewand des Premierenabends denken lassen, das Bühnenbild ist, was Ausmaße und Anmutung betrifft, ebenfalls dem eigentlichen Spielort nachempfunden. Plaudern und Proben: der Übergang scheint fließend. Vielleicht ist das die Voraussetzung, wenn Arbeit, wie am Theater, im Grunde Spiel ist.

Minimale Änderungen

Geprobt wird im Arsenal "Der Alpenkönig und der Menschenfeind", Szene 3. Die Dienerschaft beklagt sich bei der Hausherrin über Rappelkopfs Übellaunigkeit, sie will geschlossen den Dienst quittieren. Szene 3 ist ein Moment innerhalb des Stücks, eine Angelegenheit von Minuten, an der an diesem Vormittag eine Stunde lang gefeilt und geschliffen wird. Es geht um minimale Änderungen, die im Zusammenspiel markante Auswirkungen zeitigen: Die Entscheidung des Ensembles, ob die Hausherrin auf einem Sessel sitzt, die Diener im Zwiegespräch auf sie gleichsam herabblicken, oder ob alle stehen, einander auf Augenhöhe begegnen, macht einen wesentlichen Unterschied. Kleine Gesten erzeugen andere Stimmungen. Soll Regina Fritsch, die Hausherrin, ihre Bediensteten unterhaken? Soll jeglicher Körperkontakt vermieden werden? Die Arbeit an diesen Nuancen bestimmt den Takt des Probentags.

Regisseur Michael Schachermaier ist die ganze Probenzeit über auf den Beinen, als wäre an ein Hinsetzen nicht zu denken, als hielten ihn innere Anspannung und Konzentration so nah wie möglich am Geschehen. Er unterbricht die Schauspieler, um Änderungen anzuregen, kaum je hört man ein lautes Wort von ihm, er ist bestimmend und bestärkend zugleich, er lobt viel, lacht gern. Es herrscht eine angenehme Arbeitsatmosphäre. "Wenn man weiß, was man spielt, ist alles möglich", wird Regina Fritsch später sagen.

Mut zu Gefühlen

Schachermaier ist 29, er ist einer der jüngsten Regisseure, die je auf der Hauptbühne des Burgtheaters einen Klassiker anvertraut bekommen haben. Obwohl der ehemalige Burg-Regieassistent bereits auf mehr als zehn Jahre Bühnenerfahrung zurückblicken und auf Inszenierungen am Theater der Jugend und in Bad Hersfeld verweisen kann, kam das Angebot, Raimunds Misanthropie-Fabel am Burgtheater in Szene zu setzen, einem "Schock" gleich: "Ich zog mich zurück, prüfte, ob sich beim Lesen des Stücks Visionen einstellten. Dieses Werk verlangt Mut zu großen Bildern, Gefühlen, Emotionen. Das ist mein Zugang: poetisch, fantasievoll, dennoch reduziert."

In der Direktionszeit von Matthias Hartmann ist Raimunds "Alpenkönig" die erste Neuinszenierung eines österreichischen Traditionswerks. Es ist mehr als ungewöhnlich, einen jungen Regisseur damit zu betrauen: "Uns interessiert, was ein junges künstlerisches Team herauszufinden imstande ist", erklärt Burg-Dramaturg Florian Hirsch. "Ein heutiger Blick auf das Zauberspiel, das durchaus moderne Elemente in sich trägt." Elemente wie innere Zerrissenheit, der Wille nach Selbsterkenntnis. Unterstützt wird Schachermaier überwiegend von Mithelfern in seinem Alter: dem Bühnenbildner Damian Hitz, der Musikerin Eva Jantschitsch alias Gustav und der erfahrenen Kostümbildnerin Su Bühler.

Am Theater bedarf jede Aufführung eines Plans, der nach und nach Form annimmt. Der künstlerische Prozess entspricht einem paradoxen Vorgang: Man verarbeitet und verwirft Konzepte, widmet sich, fernab jedes Konzepts, der steten Verbesserung und Weiterentwicklung einer Idee. So steht am Anfang so gut wie jeder Theaterarbeit ein Gespräch, der Austausch von Gedanken, das Mischen von Assoziationen. Beispiel "Alpenkönig": Bereits im Winter vergangenen Jahres führte das Team erste konzeptionelle Diskussionen, Anfang 2012 begannen Dramaturg Hirsch und Regisseur Schachermaier mit der Arbeit an der Strichfassung. "Das Bühnenstück haben wir entschlackt, sind dem Original dennoch treu geblieben. An der Sprache haben wir nichts verändert und nichts hinzugefügt", resümiert Florian Hirsch. Man peile, sagt Schachermeier, die erstaunlich kurze Aufführungsdauer von zwei Stunden an. Jede Theaterarbeit ist, so scheint es, spannungsgeladenes Drama im Vorfeld des eigentlichen Dramas.

In der Werkstatt entsteht das aufwändige Bühnenbild.
© © Georg Soulek

Als Burg-Direktor Hartmann im April das Programm der Saison 2012/13 vorstellte, stand die Besetzung des "Alpenkönigs" bereits weitestgehend fest. Cornelius Obonya ist Rappelkopf, Johannes Krisch der Alpenkönig Astragalus. Obonyas Großvater Attila Hörbiger verkörperte 1965 den Menschenfeind an der Burg in einer legendären Inszenierung. "Rappelkopf ist eine überaus moderne Figur. Ein ehemals wohlhabender Mann, der vermeintlich finanziell ruiniert ist, sich in einen Verfolgungswahn hineinsteigert und die ganze Menschheit ablehnt", fasst Regisseur Schachermaier die monatelange Beschäftigung mit dem Text zusammen. "Rappelkopf ist keine entrückte Allegorie, sondern nah am Leben, er ist jemand, der in einem bieder-bürgerlichen Umfeld innerlich wie ein Vulkan brodelt."

Das große Ganze

Seinerzeit verkörperte Paul Hörbiger den Alpenkönig. "Unserem Alpenkönig haftet nichts platt Geisterhaftes an", deutet Johannes Krisch seine Rolle. "Heute würde man so einen naturverbundenen Menschen, der in Kontakt mit anderen Dimensionen treten kann, vielleicht als Schamanen bezeichnen." Der Alpenkönig unterzieht Rappelkopf einer Art seelischer Rosskur, indem er als dessen Doppelgänger auftritt.

Regina Fritsch als Rappelkopfs Frau, Johann Adam Oest und Stefanie Dvorak sind ebenfalls Teil des siebenköpfigen Ensembles. Man könnte sagen, die Schauspieler sind seit Probenbeginn aneinandergekettet, so wie viele andere, die am großen Ganzen mitwirken.

"Wir spielen in einem Raum, der die Natur abstrakt skizziert", sagt beispielsweise Eva Jantschitsch, die sich bei der Neuvertonung vor allem am Bühnenbild orientierte. "Deshalb soll ein ab-strakter Klangteppich erzeugt werden, naturalistisches Vogelgezwitscher wäre fehl am Platz."

Bereits einen Monat vor Probenbeginn stellte die zierliche Musikerin, die mit rabenschwarzem Haar und Turnschuhen durch die Gänge des Burgtheaters federt, die eigens komponierte Musik fertig. Neben neu verfassten Couplets hat sie auch Klangräume (sogenannte scores) entwickelt. "Die größte Schwierigkeit bestand darin, mich einem Stoff zu nähern, der so gar nichts mit mir, meinem Leben zu tun hat." Die Lösung wies, wie so oft im Experimentierfeld Theater, ein Umweg: Die Künstlerin fand einen Zugang über die Auseinandersetzung mit der Neuen Volksmusik. Theaterarbeit ist eine Frage von vielen kleinen Schritten.

Ein weiterer wichtiger Schritt wurde mit der Bauprobe, ebenfalls Mitte des Jahres, getan. Dabei wurde das Bühnenbild provisorisch im Originalmaß aufgebaut, damit Auf- und Abgänge geprüft und Dimensionen getestet werden konnten - mit dem Ergebnis, dass die Kulisse völlig neu konzipiert wurde. Die ursprüngliche Idee - flacher, mit Erde komplett zugeschütteter Bühnenboden - wurde verworfen, eine abstrakte, schwarz gehaltene Berg- und Tallandschaft mit Schrägen von bis zu 36 Prozent entworfen; ein Spielgrund, der die Schauspieler vor enorme Herausforderungen stellt.

Für Damian Hitz, seines Zeichens Bühnenbildner, Brillenträger und Schweizer, ist dieser Raum "ideal für starke Bildsetzungen. Durch Höhenunterschiede erzeugen wir Spannungen im Raum." Beleuchtung und Geome-trie tragen ebenfalls dazu bei, Räume zu definieren, Stimmungen zu schaffen - und nicht zuletzt Suspense bis zur buchstäblich letzten Sekunde zu erzeugen: Noch bis kurz vor der Premiere stand nicht fest, ob die Bühne in schlichtes Schwarz getaucht werden soll, oder ob mit Farbe Akzente gesetzt werden sollen. "Wir können die Alpen in grünes oder rotes Licht tauchen", beschreibt Hitz das kreative Dilemma.

Auf der Bühne ist Abend für Abend zumeist perfektes Zusammenspiel zu besichtigen. Möglich wird dies durch die hohe Kunst des Ineinandergreifens verschiedener Formen von Arbeit. "Jeder Entwurf vereint eine künstlerische und eine pragmatische Seite", beschreibt Kostümbildnerin Su Bühler, brünettes Langhaar, Stöckelschuhe, Jeans, ihr umfassendes Arbeitsfeld. Skizzen, Figurinen und Modelle werden von Schneiderinnen, Kostümmalerinnen, Tischlern, Schlossern und Technikern umgesetzt. Die ART for ART Theaterservice GmbH fertigt sämtliche Bühnenbilder und Kostüme für die Bundestheater, rund 200 Handwerker sind ständig im Dienst.

Der Realitätstest

Künstlerische Ideen erfahren durch die ART for ART-Experten einen ersten Abgleich mit der Wirklichkeit: Erst wenn die technische Machbarkeit geprüft ist, Arbeitsmedizin und Baubehörde ihr Einverständnis erteilt haben, die Kosten abgesegnet sind, beginnt die eigentliche Arbeit an Bühnenbild und Kostüm.

Auch der Aufwand für den täglichen Auf- und Abbau des Bühnenbilds wird vorab geschätzt - für den reibungslosen Ablauf eines Repertoirebetriebs unumgänglich. Die "Alpenkönig"-Kalkulation lautet, wie üblich erstellt von Ernst Meissl, technischer Leiter des Burgtheaters: vier Stunden Aufbau, eine Stunde Soundcheck, 32 Techniker, dazu zehn Mitarbeiter für Maske und Garderobe. Meissl muss es wissen. Seit Generationen ist seine Familie mit dem technischen Bereich des Burgtheaters eng verwoben, mit seinem Großvater besuchte er bereits als Kind Vorstellungen. Technisch anspruchsvolle Bühnenbilder reizen Meissl, für den Schauspieler "Juwelen" sind, besonders - Bühnenbilder wie jenes vom "Alpenkönig".

Während Technik- und Kostümabteilung mit konkreten Vorgaben arbeiten, nähert sich die Kreativabteilung ihrem Stoff auf gezielten Abwegen; die eigentliche Inszenierungsarbeit sprengt zumeist den Rahmen der geregelten Probenzeit. "Man geht monatelang schwanger mit einer Figur", umschreibt Johannes Krisch den bisweilen langwierigen Prozess, der einen mitunter bis in die Träume hinein verfolgt. "Jede Rolle verlangt eine andere Herangehensweise." Der Burgschauspieler konstatiert als gelernter Tischler Parallelen zwischen den Professionen: "Die Arbeit des
Möbelmachers ist jener des Schauspielers nicht unähnlich, Text wie Holz sind Materialien, die behauen und verfeinert werden, bis sie eine andere Form, gleichsam eine andere Körperlichkeit annehmen."

Der Maskenbildner hilft dem Schauspieler Johannes Krisch.
© © Reinhard Maximilian Werner

Für Bühnenbildnerin Bühler wiederum kann während der Arbeit an einem Projekt "alles zur Inspirationsquelle werden. Ich betrachte mein Umfeld dann wie durch eine andere Brille." Bei Regisseur Schachermaier kommen häufig zündende Ideen, wenn er "mit der Vespa durch die Gegend gurkt". Etliche Konzeptionsgespräche zum "Alpenkönig" wurden während Bergwanderungen geführt, andere fanden in Wiener Lokalen statt. Künstler arbeiten, so das Selbstbild, zu jeder Zeit, alles wird ihnen Teil des Werks. "Ich wache um sechs Uhr morgens auf", so Michael Schachermaier, "und das Denken geht los."

Im großen Malersaal der Bühnenwerkstätten landete vor einiger Zeit ein Erdtrabant. In Form einer Scheibe mit vier Metern Durchmesser liegt der Mond auf Stützböcken. Die Oberfläche ist mit spiegelglatter, sogenannter Opera-Folie bespannt; im Inneren des Bühnenmondes sind Leuchtmittel montiert. Das Bodentuch, eine Stoffbahn von 17 Metern Länge und 35 Metern Breite, wird von zwei Handwerkern besprüht; das fertig präparierte Tuch wird anschließend über die Holzkon-struktion der Berglandschaft gezogen. Handwerker bohren, sägen, hämmern an der riesig wirkenden Berg- und Tallandschaft bis zur Sommerpause. Im Juli und August ruhte die Arbeit. Anfang September wurden die Proben wieder aufgenommen, die große Theater-Maschine wieder angeworfen.

Die Woche vor der Premiere, die erste Hauptprobe. Erstmals laufen die vielen Fäden im Haupthaus zusammen: Bühnenbild, Licht, Technik, Kostüme, Maske, Akteure. Alles arbeitet auf Hochtouren. Bis zuletzt sind auch die Schneiderinnen im Einsatz. In den Endproben zeigt sich, ob ein Darsteller mit seinem Kostüm zurechtkommt, ob die Hose sitzt, eine Falte geändert werden muss. Jedes Detail, jede Finesse ist wichtig. Regisseur Schachermaier versucht in den Tagen und Stunden, die dem Erstauftritt vorausgehen - "es ist ein geistiger und körperlicher Ausnahmezustand" - vor allem Ruhe zu bewahren, keinen Druck auszuüben. "Am Tag der Premiere stehen wir dann wie Fußballtrainer am Rand, das Spiel gehört den Schauspielern." Der Anpfiff für das Spiel ist diesen Samstag, um 19.30 Uhr.

Petra Rathmanner hat Theaterwissenschaft studiert und ist Kulturredakteurin und Theaterkritikerin der "Wiener Zeitung".