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Von der Walz zur Weltmarke

Von Ingeborg Waldinger

Reflexionen

Heinrich Nestle, Sohn eines Frankfurter Glasermeisters, absolvierte eine Apothekerlehre - und machte in der Schweiz sein Glück: Als eingebürgerter Henri Nestlé legte er den Grundstein zu einem Weltkonzern.


Was genau den Werdegang eines Menschen steuert - der freie Wille, die Gene, die Sterne, oder doch die Gesellschaft, das Geld - sei einmal dahingestellt. Gesichert ist, "dass es Menschen gibt, deren Existenz sich an einem großen Gedanken, an einer Idee kristallisiert"; diesem Typus ist Alex Capus’ Buch "Patriarchen" (2006) gewidmet. Darin porträtiert der Schweizer Schriftsteller zehn Pioniere der Gründerzeit, welche "die Flaggschiffe der heutigen Ökonomie vom Stapel ließen", - etwa Rudolf Lindt, Carl Franz Bally, Julius Maggi, Antoine Le Coultre, Emil Bührle, Fritz Hoffmann-La Roche - oder Henri Nestlé.

Im Vergleich der Biografien stellt Capus fest: "Die klassische Tellerwäscherkarriere . . . führte im alten Europa nur selten bis ganz an die Spitze der ökonomischen Nahrungspyramide." Viele der vorgestellten Gründer waren Einwanderer, und nicht selten diente die Mitgift der Ehefrau als Venture-Capital. Ihre Ideen und Erfindungen machten diese Männer zu Pfeilern der helvetischen Wirtschafts-Saga und zu weltweit erfolgreichen Unternehmern. Dennoch entglitt manchen ihr zu groß gewordenes Lebenswerk.

Auswandererschicksal

Einer indes beschloss, seine Firma zeitgerecht zu verkaufen und den Lebensabend zu genießen, "in lichtdurchfluteten Villen und sechsspännigen Kutschen": Henri Nestlé. Auch er war ein Einwanderer, beziehungsweise - in der Diktion des offiziellen Schweizer Informationsportals swissworld.org - ein "Flüchtling". Denn zwei Motive hatten den jungen Mann in die Schweiz geführt: die Walz und der Widerstand.

Heinrich Nestle wurde am 10. August 1814 in Frankfurt am Main geboren. Er wuchs in bürgerlichem Milieu auf, als elftes von 14 Kindern des Glasermeisters Johann Ulrich Nestle und dessen Frau Anna Maria. Heinrichs Kindheit und Jugend fiel in eine Ära des Umbruchs: Napoleon war niedergerungen, die Sieger ordneten Europa neu. Grenzen wurden verschoben, einstige Stadtstaaten neu anerkannt. Auch Frankfurt erlangte seine Souveränität zurück, was deren Sohn Goethe wie folgt kommentierte: "Einer freien Stadt geziemt ein freier Sinn."

Vom liberalen Geist profitierten zwar Industrie und Handel, nicht aber die Bürger. Die Politik trug den Stempel der Restauration, Widerstand gegen die repressive Ordnung wurde niedergeschlagen. Heinrich Nestle stand vermutlich in Verbindung zu oppositionellen Zirkeln - und damit im Visier der Staatsgewalt.

Beruflich ging der Jüngling eigene Wege, abseits der väterlichen Glasmacherwelt. Er absolvierte von 1829 bis 1833 eine Lehre in der Frankfurter Brückenapotheke. Das ständische Ausbildungsprogramm kam dem Freigeist zugute, zumal es nach der Lehre eine Weiterbildung in der Fremde vorschrieb, die sogenannte Walz. Erst nach mehreren Wanderjahren war die Zulassung zur Meisterprüfung möglich. Die Gesellen sollten mit neuen Praktiken und Kulturen vertraut werden, ihren Horizont erweitern.

Heinrich Nestle konnte sich dem politischen Druck also elegant entziehen. Welche Wanderroute er nahm, ist nicht genau belegt. Fest steht, dass er eines Tages im frankophonen Vevey am Genfersee landete, dort in den Dienst des Apothekers Marc Nicollier trat und 1839 die Zulassungsprüfung ablegte. Zur eigenen Apotheke reichte es aber nicht.

Der junge Frankfurter lernte im Nu Französisch und änderte seinen Namen in Henri Nestlé. Meister Nicollier führte ihn in die Lehren des deutschen Chemikers Justus von Liebig ein - und in die Gesellschaft von Vevey. Zudem vermittelte er ihm eine Gewerbeliegenschaft samt Maschinenpark. Henri setzte also den Schritt in die Selbstständigkeit. Er führte die Raps- und Nussölmühle auf dem erworbenen Betriebsgelände fort, auch das kleine Sägewerk. Er produzierte Dünger aus Knochenmehl, die Mineralfarbe Bleiweiß, desgleichen Essig, Liköre und Senf. Von Forschergeist und Experimentierlust getrieben, richtete er sich ein chemisches Labor ein.

Für die Herstellung von Mineralwasser und Limonaden ließ er eine eigene Wasserleitung bauen. "Nestlé wird so zu einem der ersten, die gewerbsmäßig fertig aromatisierte Tafelgetränke in der Schweiz anbieten", vermerken Gerhard Schwarz und James Breiding in ihrer Studie "Wirtschaftswunder Schweiz" (Verlag NZZ, 2011). Ein krisenbedingter Einbruch der Nachfrage zwang Nestlé jedoch nach wenigen Jahren, die Getränkeproduktion wieder einzustellen und sich nach neuen Geschäftsfeldern umzusehen.

Erfolg mit Kindermilch

Da fügte es sich gut, dass Veveys Straßen mit Gaslampen beleuchtet werden sollten. Nestlé belieferte die Stadt mit Flüssiggas, das er aus Pflanzenöl gewann. Mit dem Anschluss der Kommune an ein zentrales Gaswerk fiel auch diese Einnahmequelle weg. Seine - noch immer - breite Produktpalette wurde Henri Nestlé letztlich zum Problem: Sie überforderte die logistischen und werbestrategischen Kapazitäten des Einzelunternehmers.

1860 heiratete Nestlé die wesentlich jüngere Frankfurter Arzttochter Clementine Ehemant (frz. Ehmant), ein zartbesaitetes Geschöpf. Die Ehe blieb kinderlos, weshalb Madame Nestlé ihre Fürsorge den "lieben Kinderchen" der Fabrikarbeiter und Bekannten schenkte. Schließlich nahm das Paar Emma Sailer, ein Waisenkind, bei sich auf. "Bei aller großbürgerlichen Schwärmerei aber besaß Clementine einen scharfen Blick für das Elend, in dem ein Großteil der Kinder heranwuchs", präzisiert Alex Capus in seinem Nestlé-Porträt. Die Kindersterblichkeit im damaligen Europa war hoch, das Phänomen eine Folge der Industrialisierung und Landflucht. Ein nächstes Problem stellte das Nichtstillen dar: Die Säuglinge der Fabrikarbeiterinnen landeten in Heimen, jene von großbürgerlichen Damen bei Ammen. Der Bedarf an hochwertiger Kleinkindnahrung war also gegeben.

Im Hause Nestlé paarten sich soziales Gewissen, technisches Know How und Marktgespür. Mit Interesse studierte der Unternehmer die Muttermilch-Analysen von Justus von Liebig und dessen Rezeptur für eine künstliche Säuglingsnahrung. Auf dieser Basis entwickelte Nestlé sein berühmtes Milchpulver, die "Farine Lactée Henri Nestlé". Seltsamerweise enthält der deutsche Produktname "Kindermehl" keinerlei Hinweis auf den zentralen Bestandteil Milch. "Meine Erfindung ist keine neue Entdeckung", erklärt Nestlé mit Blick auf diverse (in der Zubereitung aufwendige) Konkurrenzprodukte, "sondern eine richtige und rationelle Anwendung von Substanzen, welche schon längst als die besten für die Ernährung von Kindern bekannt sind. Milch, Brot, Zucker bester Qualität sind die Hauptbestandteile." Sein "Kindermehl" wird aus hoch erhitzter, gezuckerter Alpenmilch gewonnen. Durch Entzug von Dampf und Luft zu einer zähflüssigen Paste eingedickt, wird diese mit zerriebenem Zwieback vermengt, getrocknet, zu Pulver vermahlen und mit Kaliumkarbonat versetzt. Das Endprodukt braucht nur noch in kochendes Wasser gerührt zu werden.

Im Oktober 1867 wagt Nestlé den entscheidenden Versuch: Er verabreicht sein Milchpulver einem Säugling, der sowohl die Muttermilch als auch andere Nahrung verweigert. Das Baby erholt sich prächtig. Die Geschichte verbreitet sich in Windeseile und heizt die Nachfrage nach dem Wunderpulver an. Henri Nestlé stellt den Familienbetrieb, in dem seine Frau und ein Neffe aus Frankfurt mitarbeiten, ganz auf dieses eine Produkt um. 1868 erzeugt die Firma 8600 Dosen Kindermehl, 1875 sind es bereits über eine Million.

Welterfolg einer Marke

Der Muttermilchersatz findet weltweit Absatz: in den USA, Kanada und Lateinamerika; in Russland, Australien, Indien und im Osmanischen Reich. Nestlé stellt in einer Lehrschrift klar: "Muttermilch wird in den ersten Monaten immer die natürlichste und beste Nahrung bleiben, und jede pflichtgetreue Mutter muss ihr Kind selbst stillen, wenn sie in dem Falle ist, es thun zu können." Doch über die Kompatibilität von Konsumentenaufklärung und Produktplacement scheiden sich die Geister: Man wirft Nestlé vor, das Nichtstillen zu fördern. Die Marke "Farine lactée Henri Nestlé" wird dennoch ein Welterfolg.

Im Jahr 1875 zählt das Unternehmen 30 Mitarbeiter, eine massive Expansion steht an. Die überlässt der Fabrikant - mittlerweile stolzer Bürger der Stadt Vevey - lokalen Geschäftspartnern. Er verkauft sein Unternehmen samt Markennamen und Logo (Vogelnest) an Pierre Samuel Roussy, Jules Monnerat und Gustave Marquis, welche die Firma in eine Aktiengesellschaft umwandeln.

Rentier ohne Sorgen

Mit dem Verkaufserlös von einer Million Franken blickt der Pionier der Lebensmittelindustrie einem entspannten Lebensabend entgegen. "Da ich meinen Namen verkauft habe, so musste mir meine Frau zu einem neuen verhelfen", kommentiert er seine zweite Namensänderung. Monsieur und Madame "Nestlé-Ehmant" ziehen sich auf zwei stattliche Alterssitze am Genfersee zurück: ein Haus in Montreux und eine Villa oberhalb der Stadt, im Luftkurort Glion. Dem Rentier sind noch fünfzehn genussreiche Jahre beschieden. Am 7. Juli 1890 stirbt er nach kurzer Krankheit in Glion. Henri Nestlé findet seine letzte Ruhestatt in Territet bei Montreux.

Das Unternehmen Nestlé entwickelt sich in der Folge durch Sortimentausbau (Kondensmilch, Schokolade, Löscafé, Mineralwasser u.v.m.) wie durch zahlreiche Fusionen und Übernahmen (Anglo-Swiss Condensed Milk Company, Maggi, Buitoni-Perugina, Perrier u.v.a.) zum größten Nahrungsmittelproduzenten der Welt.

Ingeborg Waldinger, geboren 1956, lebt als freie Journalistin in Wien und schreibt regelmäßig Reportagen und kulturhistorische Beiträge fürs "extra" und fürs "Wiener Journal".