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Gesetzes- und Tabubrecher

Von Petra Schäfer

Reflexionen

Das burschikose Äußere täuscht: Der deutsche Ökonom Axel Ockenfels gilt als Revolutionär seiner Zunft. Es geht ihm darum, wie Menschen wirklich Entscheidungen treffen - nicht, wie es die Wissenschaft gerne hätte. Und das ist alles andere als rational.


Er ist der erste Praktiker - wenn ein Wissenschafter diese Bezeichnung für sich überhaupt zulässt. Schließlich ist die Wirtschaftswissenschaft bemüht, die Welt in Theorien zu erfassen, in "Nutzenfunktionen" und Grundsätzen vom durchschaubaren Menschen, der seinen eigenen Vorteil maximiert. Alles ist rational. Aber wir verhalten uns eben anders als in den Modellen erdacht, leben noch dazu in Krisenzeiten, die kein Ökonom prognostiziert hat. Es ist Zeit, dass die Wissenschaft der Wirklichkeit folgt. Mehr noch, als es die erste Generation der sogenannten Verhaltensökonomen in den vergangenen Jahrzehnten angestoßen hat.

In dem hellen, schnörkellosen Büro im Innenhof der Kölner Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät ist die Zeit dafür reif. Axel Ockenfels ist ein Revolutionär seines Fachs. Seine langen Beine hat er übereinandergeschlagen, seinen Körper in den tiefen Sessel gefaltet, die Fingerkuppen gegeneinander gedrückt. Er macht sich klein, doch gleichzeitig konzentriert er seine Spannung auf seine Gedanken.

Rechengröße Kognition

"Ich möchte von der Praxis für die Wissenschaft lernen", sagt Ockenfels und blickt ernst durch die kleinen Brillengläser. Der Satz klingt harmlos, aber er birgt genug Sprengstoff, um die Grundfesten der Volkswirtschaftslehre zu erschüttern. Denn der Kölner Ökonomie-Professor, Leibniz- und Gossen-Preisträger, schickt sich an, seine Zunft von Grund auf zu verändern. "Ich kämpfe dafür, dass wir als Ökonomen herausfinden, wie die Menschen Informationen im Gehirn verarbeiten, wie sie nachdenken."

Kognition als neue Rechengröße in ökonomische Modelle aufzunehmen, das möchte Ockenfels seinen Wissenschafter-Kollegen in aller Welt nahelegen. Um zu verstehen, wie wirtschaftliche Entscheidungen getroffen werden - und um diese besser prognostizieren zu können. "Doch das ist bei Ökonomen noch nicht angekommen." Ockenfels forscht gemeinsam mit Psychologen, reist zu Kongressen, hält viele Vorträge: "Sie müssen den Leuten zeigen, dass es funktioniert." Davon ist der 43-Jährige überzeugt. Denn er zieht seine Bestätigung aus dem Verhalten der Menschen.

Gerade hat er einem großen deutschen Konzern, dessen Namen er nicht nennen darf, mit seiner Forschung bei einer schwierigen Entscheidung geholfen. Sollen Manager wissen, ob ihr Bonus größer oder kleiner ist als der Bonus der Kollegen, oder ist es besser, das Thema Bonuszahlung diskret zu behandeln - und wie wirkt sich das auf die Zufriedenheit der Führungskräfte aus?

Ockenfels und seine Kollegen ließen Studenten im Labor beide Möglichkeiten durchspielen. Gleichzeitig untersuchten sie die Boni, Leistungen und Zufriedenheit von 5000 Managern des Konzerns. Das wissenschaftliche Ergebnis ist verblüffend: Transparenz führt dazu, dass Manager, die kleinere Boni als ihre Kollegen erhalten, unzufrieden sind und anschließend noch weniger leisten. "Die Erkenntnis ist: Manager treibt es nicht an, noch 5000 Euro mehr zu verdienen. Sondern sie mögen es nicht, hinter anderen zurückzufallen", bringt es Ockenfels auf den Punkt. Der Konzern will seine Bonusregeln jetzt überarbeiten.

Für Unternehmen ist der Volkswirt ein gefragter Gesprächspartner. Vor rund zehn Jahren hat er schon auf der Handelsplattform des Internetauktionshauses Ebay geforscht: Damals ging es um neue Auktionsregeln und die bessere Motivation der Käufer, Bewertungen über Verkäufer abzugeben. Seine Forschungsergebnisse wurden umgesetzt. "Viele Anfragen aus der Wirtschaft" bekomme er, erzählt Ockenfels. Und das, obwohl sich führende Unternehmensberater damit brüsten, fundierte Strategien für alle Probleme entwickeln zu können. Ist er ein Konkurrent?

Darauf hat der blonde, 1,94 Meter große Wissenschafter eine einfache Antwort: "Nein, ich bin mit Herz und Seele Wissenschafter und kein Unternehmensberater. Der unmittelbare Einfluss unserer Forschung auf Märkte und Unternehmen zeigt aber, dass wir offenbar vieles besser machen als Unternehmensberater."

Economic engineering

An Selbstbewusstsein hat es dem gebürtigen Bonner, der aus einem Beamtenhaushalt stammt, nie gefehlt. Sonst wäre er nie so früh so weit gekommen: Mit 25 Jahren macht er ein ausgezeichnetes Diplom an der Universität Bonn - bei Reinhard Selten, dem Spieltheoretiker und einzigen deutschen Wirtschaftsnobelpreisträger. Mit 29 promoviert er bei dem Umweltökonom Joachim Weimann, wieder wird die Doktorarbeit preisgekrönt. Er forscht an der Penn State University sowie an der Harvard University in den Vereinigten Staaten und habilitiert sich an der Universität Magdeburg.

Vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen in Jena wird er schließlich als Nachfolger von Carl Christian von Weizsäcker, dem Neffen des früheren deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, an die Kölner Universität berufen. Dort übernimmt er bereits mit 34 Jahren das Energiewirtschaftliche Institut und den Staatswissenschaftlichen Lehrstuhl. 2005 erhält er den begehrten Leibniz-Preis für seine Forschungen.

Seine Schnelligkeit auf dem Weg durch die Institutionen nutzt Ockenfels, mehr Zeit für unbequeme Wahrheiten aufzuwenden. "Unsere Welt ist nicht so elegant wie die einfache mathematische Welt", sagt er und rüttelt damit an ehernen Gesetzen der Ökonomie. "Ich will wissen, ob die Empfehlungen, die wir aussprechen, auch den Realitätstest bestehen, ich beschäftige mich mit realem Verhalten in realen Märkten."

Er will die "eigenen kleinen Welten" der Ökonomie mit der Wirklichkeit koppeln - ein rotes Tuch für Vertreter der klassischen Lehre. "Economic engineering" nennt sich die Forschungsrichtung, für die Ockenfels steht. Und noch ein Tabu will er brechen: "Wir müssen in der Wissenschaft mehr von Fallstudien lernen", sagt er und denkt dabei an Elinor Ostrom. Die in diesem Jahr verstorbene Wirtschaftsnobelpreisträgerin war als Umweltökonomin eine Außenseiterin - weil sie vor allem anhand von Fallbeispielen forschte.

Ein bisschen verwundert es, dass Ockenfels überhaupt den steinigen Weg des Andersseins beschreitet. "Früher habe ich mich als Wissenschafter im Elfenbeinturm gesehen." Als Student interessierte er sich besonders für die mathematische Wirtschaftstheorie, hat aber immer schon experimentiert und sich mit realen Daten beschäftigt. "Ich habe dann mehr und mehr Blut gerochen." So kommt es auch, dass Ockenfels für die Wirtschaftsforschung der Zukunft mehr Mathematik und nicht weniger fordert. Schon mit dem "ERC" (Fairness, Reziprozität und Eigennutz) genannten Modell, das er im Jahr 2000 mit seinem amerikanischen Kollegen Gary Bolton veröffentlichte und mit dem er auf einen Schlag in der Wissenschaftswelt bekannt wurde, blieb er im Kern der Berechenbarkeit treu. Laut Ockenfels beziehen die Menschen nicht nur den ökonomischen Nutzen, sondern auch einen bezifferbaren "Fairness-Faktor" in ihre Entscheidungen mit ein.

Doch genau hier widerspricht ihm sein 82-jähriger Lehrmeister Reinhard Selten: "Ockenfels hat zusammen mit Bolton eine Arbeit geschrieben, die nicht zu meinem Bild des ökonomischen Entscheiders passt." Ockenfels versuche die Fairness mit einer mathematischen Berechnung, einer Nutzenfunktion, zu bewältigen. "Doch das hält den Fortschritt nur auf, weil es die Illusion schafft, dass doch alles mit der neoklassischen Theorie zu erklären ist."

Die Kritik des Nobelpreisträgers kennt Ockenfels genau, schließlich besucht er seinen alten Professor regelmäßig in Bonn, wenn er nicht auf Vortragsreisen unterwegs ist. Selten schätzt an ihm seine Zuverlässigkeit, Gründlichkeit und Verbindlichkeit. "Mit ihm kann ich immer wieder etwas Neues anfangen." Dazu gehört auch das "Schwierigste" in seinem Leben, wie Selten beteuert: das Menschenbild in der Ökonomie neu zu definieren. Selten hat sich gemeinsam mit Ockenfels daran gemacht, ein grundsätzlich anderes Verhalten des Menschen abseits der Rationalität in der Wissenschaft zu verankern - ein Weg, der noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird.

Wer Ockenfels nicht persönlich kennt, muss ihn für einen zähen Kämpfer halten. Wer sonst würde freiwillig mit so vielen Grundannahmen der Wissenschaft brechen? Doch der Vergleich mit der Kämpfernatur lässt den eher zurückhaltend auftretenden Wissenschafter kurz erröten. "Nein", sagt er, "ich bin kein Kämpfer, mir wird nur schnell langweilig, und dann suche ich nach neuen Herausforderungen." Gepaart mit einer Portion Neugier und Zweifel erwächst daraus stets etwas Neues, Großes.

Klimaschutzfragen

Gerade ist Ockenfels dabei, beim Thema Umwelt seinen kritischen Geist an oberster Stelle mit einzubringen. Seit diesem Jahr ist der Vater von drei kleinen Kindern Mitautor des nächsten Berichts des Weltklimarats IPCC. Das zwischenstaatliche Gremium soll der Welt als Informationsquelle zu Klimaänderungen dienen. "Ich glaube, dass ich relevante Erkenntnisse zu den großen Herausforderungen beitragen kann", sagt Ockenfels. "Wie können wir internationale Klimaschutzverhandlungen so ausgestalten, dass sie erfolgreich sind? Und wie müssen Emissionshandelsmärkte und Strommärkte aussehen, damit Klimaschutz nicht zu teuer wird?"

Fragen, mit denen sich Ockenfels immer wieder seit seiner Promotion beschäftigt hat. Doch er ist auch Realist: "Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten Jahren ein stabiles, internationales Klimaschutz-Abkommen erreichen werden. Wir dürfen aber nicht den Kopf in den Sand stecken. Es geht um die Zukunft der Welt - und die unserer Enkelkinder." Seine Hoffnung ruht auf regionalen Emissionshandelsmärkten wie dem europäischen, der allmählich mit anderen zusammenwachsen könne. "Economic engineering" soll dabei helfen. Den Blick des Praktikers wird Ockenfels hoffentlich niemals verlieren.

Petra Schäfer, geboren 1975, ist Absolventin der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft und lebt als freie Wirtschaftsjournalistin (u.a. für "Zeit", "Handelsblatt") in Köln.