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Elegante Baumakrobaten

Von Franz M. Wuketits

Reflexionen

Die in Südostasien beheimateten Gibbons sind weniger bekannt als ihre Verwandten, die Großen Menschenaffen. Viele ihrer Arten sind heute vom Aussterben bedroht.


Schimpanse, Bonobo oder Zwergschimpanse, Gorilla und Orang-Utan, die Großen Menschenaffen, finden viel Aufmerksamkeit in den Medien und stoßen in der breiten Öffentlichkeit auf wohlwollendes Interesse. Das ist gut so. Sie sind unsere nächsten Verwandten, aber ihre Lebensräume werden massiv zerstört, ihr Gesamtbestand in freier Wildbahn ist inzwischen auf etwa 300.000 Individuen zusammengeschrumpft, während sich von unserer eigenen Spezies inzwischen rekordverdächtige sieben Milliarden Individuen auf der Erde tummeln. Wenn Schutzprogrammen kein Erfolg beschieden sein sollte, dann werden die Großen Menschenaffen bald nur noch in zoologischen Gärten ihr Dasein fristen.

Ein ähnliches Schicksal blüht auch vielen Arten der Gibbons. Gibbons oder Kleine Menschenaffen sind aber viel weniger bekannt und erforscht als Schimpansen & Co., obwohl sie die ersten Menschenaffen waren, zu denen Menschen eine enge Beziehung hatten. In der chinesischen Kultur spielten sie schon vor über zweitausend Jahren eine wichtige Rolle und galten als Symbole für die Verbindung zwischen Natur und Mensch. Sie bilden ein häufiges literarisches Sujet, und die Gibbon-Malerei repräsentiert ein eigenes Genre, das sich auch in Japan und Korea ausgebreitet hat, wenngleich die Tiere selbst in diesen Ländern nie heimisch waren.

"Schwinghangler"

Gibbons, mit wissenschaftlicher Bezeichnung "Hylobatidae", sind eine Primatenfamilie mit siebzehn rezenten Arten. Ihr heutiges Verbreitungsgebiet reicht von Ostindien über Südchina und Myanmar bis Java und Borneo. In China lebten sie einst auch in nördlicheren Regionen, inzwischen sind sie in diesem riesigen Land allerdings nur noch in einigen Reliktwäldern im Süden anzutreffen. Als typische Baumbewohner sind sie auf intakte Waldbiotope angewiesen. Die massive Abholzung der chinesischen Wälder in historischer Zeit drängte sie daher immer mehr zurück.

Der Schweizer Primatenforscher Thomas Geissmann vom Anthropologischen Institut und vom Museum der Universität Zürich, der sich mit großem Engagement für die Erforschung und Erhaltung der Gibbons einsetzt, geht davon aus, dass deren Lebensraum mittlerweile auf ein Prozent seiner ursprünglichen Dimension geschrumpft ist.

Gibbons zeichnen sich durch eine in der Tierwelt einzigartige Fortbewegungsweise aus. Sie hangeln und schwingen sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit von Baum zu Baum und demonstrieren dabei eine bemerkenswerte Akrobatik. Schon Alfred Edmund Brehm (1829-1884), der "Klassiker" populärer Tierbeschreibung, attestierte ihnen "jede Begabung, die zu einer raschen, anhaltenden und gewandten Kletter- oder Sprungbewegung erforderlich ist". Ihre sehr langen Arme ermöglichen ihnen beim "Schwinghangeln" die Überwindung größerer Baumlücken und die Verteilung ihres Gewichts auf weit auseinanderliegende Äste. Gibbons sind schlank und leichtgewichtig. Die größte Art, der Siamang, erreicht bei einer Körperhöhe von weniger als einem Meter ein Gewicht von knapp zwölf Kilogramm. Zwar sind die meisten Primaten Baumbewohner, aber die Kleinen Menschenaffen haben sich in dieser Nische noch zusätzlich spezialisiert. "Sie sind auf die äußersten Zweige der Bäume ausgewichen und ernähren sich von den dort wachsenden Früchten und Blättern . . . Die wichtigsten Nahrungskonkurrenten, die ihnen hierher folgen können, sind nur noch Vögel und deutlich kleinere Säuger (Hörnchen, Flughunde)" (Geissmann).

Mythische Tiere

Das haben sie also recht schlau gemacht. Im Hinblick auf ihre Fortbewegung ist aber auch der Umstand von Interesse, dass Gibbons besser auf zwei Beinen laufen können als die Großen Menschenaffen. Zwar sind sie als Zweibeiner - wegen ihrer kleinen Schritte - langsamer unterwegs als der Mensch, aber sie praktizieren den aufrechten Gang nicht nur auf dem Boden, sondern auch auf jedem anderen festen Untergrund, etwa auf dicken Ästen.

Das Baumleben der Gibbons und ihre Fortbewegungsweisen als "Schwinghangler" und Zweibeiner sind mitverantwortlich für die Entstehung von allerlei Mythen, die sich um diese anmutigen Tiere ranken. Im alten China bildeten Gibbons die Verbindung zu einer mysteriösen, übernatürlichen Welt. Man vermutete, dass sie hunderte Jahre alt werden können oder gar ewig leben. Das Studium ihrer beeindruckenden Klettertechnik sollte Musikern helfen, ihre Fingerfertigkeit an Instrumenten zu verbessern. Man stellte sich - vor allem in Japan - aber auch vor, dass sich Gibbons aneinanderhängen und auf diese Weise, gewissermaßen in Ketten, von den Bäumen zum Wasser auf dem Boden gelangen.

Gibbons sind monogam, leben mithin in einer für Säugetiere nicht gerade typischen Form der Ehe. Ihre Kleinfamilien bestehen aus einem erwachsenen Elternpaar und ein bis drei Nachkommen, die bis zum Eintreten der Geschlechtsreife (im Alter von sechs bis acht Jahren) in ihrer Familie verbleiben. Außerehelicher Geschlechtsverkehr wird kaum praktiziert, erwachsene Tiere desselben Geschlechts kommen in der Regel nicht gut miteinander aus. Dazu passt, dass Gibbons sehr ortsgebunden sind und in festen Territorien von bis zu vierzig Hektar Größe leben. In diesen Territorien befinden sich ihre Futterbäume, die sie bei ihren täglichen Wanderungen aufsuchen. Einem Gibbon kommt es kaum in den Sinn, sein angestammtes Territorium zu verlassen, eher schon harrt er selbst bei größten Störungen an Ort und Stelle aus. Im Übrigen sind Gibbons sehr gute Schläfer. Sie beginnen ihre Aktivitäten zwar schon in der Morgendämmerung, suchen aber, wenn nichts Besonderes dazwischenkommt, bereits am späten Nachmittag ihren Schlafbaum auf, um über zwölf Stunden lang die Nachtruhe zu pflegen.

Begnadete Sänger

Eine Besonderheit im Verhalten der Gibbons sind ihre Gesänge. Durch laute, lange, je nach Art zehn bis zwanzig Minuten dauernde Gesänge markieren sie sozusagen ihr Territorium. Erfahrene Primatenforscher können an den Gesängen einzelne Gibbon-Arten erkennen. Bei den meisten Arten singen Männchen und Weibchen im Duett, jedes bestimmte Strophen nach ganz bestimmten Regeln. Es gibt aber auch Solisten, deren Gesänge wahrscheinlich der Verteidigung von Ressourcen, vielleicht aber auch der Partnersuche dienen. Duett-Gesänge haben vermutlich vor allem die Funktion, die Paarbindung anzuzeigen.

Im Allgemeinen wird in den frühen Morgenstunden gesungen. Aber das kann von Art zu Art etwas variieren. Während etwa der Weißhandgibbon zwischen acht und neun Uhr morgens singt, beginnt der Siamang seine Gesangsaktivitäten zwei Stunden später. Welche konkrete Bedeutung den Gesängen verschiedener Gibbons im Einzelnen zukommt, muss allerdings noch durch weitere Untersuchungen geklärt werden.

Es könnte allerdings sein, dass die Gesänge mancher Gibbon-Arten bald verstummen werden. Nicht nur werden ihre Lebensräume systematisch zerstört, die Kleinen Menschenaffen werden vor allem in China auch zum Zweck der Herstellung traditioneller Medikamente häufig gejagt. So stehen heute fünfzehn der siebzehn Gibbon-Arten auf der Roten Liste gefährdeter Spezies, vier von ihnen sind sogar kritisch bedroht. Von zwei Gibbon-Arten existieren nur noch fünfzig beziehungsweise weniger als zwanzig Individuen. Von einigen Arten sind die Größen ihrer noch existierenden Populationen unbekannt, so wie die Gibbon-Forschung überhaupt noch einen großen Aufholbedarf hat. Manche Arten wurden in freier Wildbahn überhaupt noch nie untersucht oder gefilmt.

Während die heutigen Gibbons hauptsächlich in tropischen und subtropischen Wäldern leben, geht aus literarischen Zeugnissen und Bilddokumenten hervor, dass Gibbons im ersten nachchristlichen Jahrtausend auch noch in nördlichen Regionen Chinas mit strengen Wintern gelebt haben. Wie konnten sie unter solchen klimatischen Bedingungen existieren? Über welche Spezialanpassungen verfügten sie? Um welche Gibbon-Arten handelte es sich dabei und wie beziehungsweise warum wurden sie ausgerottet?

Möglicherweise werden sich diese Fragen überhaupt nie beantworten lassen. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn den heute noch existierenden Gibbons eine größere Aufmerksamkeit zukommen würde. Selbst unter Primatenforschern werden sie anscheinend eher stiefmütterlich behandelt.

Schutzmaßnahmen

Aber immerhin, ein Vortrag von Thomas Geissmann in Zürich gab im Frühjahr 2004 den Anstoß zur Gründung der "Gibbon Conservation Alliance", die sich um die Verbreitung von Kenntnissen über Gibbons und deren Schutz verdient macht. Es bliebe zu hoffen, dass dieser Organisation im Interesse einer bisher vernachlässigten, aber überaus interessanten Tierfamilie Erfolg beschieden sein wird. Denn derzeit noch ist es um die Gibbons ziemlich traurig bestellt. Ihr Verbreitungsgebiet schrumpft ständig, und noch bevor das Verhaltensrepertoire mancher Arten vollständig bekannt sein wird, wird es sie vielleicht nicht mehr geben.

Geissmann weist dabei auf einen merkwürdigen Kontrast hin: "Während die Gibbon-Malerei in China geradezu boomt, sterben die Gibbon-Arten in China rapide aus. Werden die Bilder bald alles sein, was in China noch an diese Menschenaffen erinnert?" Es wäre sehr zu wünschen, dass die Gibbons nicht nur in Bildern erhalten bleiben. Ihre nähere Kenntnis könnte letztlich noch einiges Licht auf die "Tiefen" unserer eigenen Stammesgeschichte werfen.

Franz M. Wuketits, geboren 1955, lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Soeben ist erschienen: "Zivilisation in der Sackgasse. Plädoyer für eine artgerechte Menschenhaltung" (Mankau-Verlag, Murnau).

Hinweis:Auf der Homepage der "Gibbon Conversation Alliance"  finden sich viele allgemeine Informationen über die Kleinen Menschenaffen und laufende Forschungsprojekte.