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Wider den Stipendienzirkus

Von Alexander Kluy

Reflexionen

Autorenstipendien und Literaturpreise sind unnütz, kontraproduktiv und haben nichts mit Qualität zu tun, auch wenn ihr "Schaden" ein gut gemeinter ist - eine Polemik.


Wer kommt nur auf solche Ideen? Wer so etwas ausbrütet, muss Literatur verachten, Bücher verabscheuen, Kultur hassen. Da vergeben die Österreichischen Bundesforste zusammen mit dem Magazin "Wald" ein Autorenstipendium. Dauer: zwei Monate. Aufenthaltsort: eine Berghütte im alpinen Nirwana.

Hölderlin war ein großer Dichter, obwohl (oder weil?) er nie so etwas wie einen Friedrich-Hölderlin-Preis bekam . . . Bild: Wikimedia

Oder nehmen wir das grammatikalisch so ungraziös klingende "Sylt-Quelle Literaturstipendium Inselschreiber". Zwei Monate auf Sylt, Gesamtdotierung: 2500 Euro. Als Wald-Stipendiat bekommt man monatlich 1250 Euro. Wofür man verpflichtet wird, dem Magazin einen Text zu schreiben, "frei in der Form", wie es generös heißt, 12.000 bis 30.000 Zeichen lang, das sind zwischen 7 und 17 Manuskriptseiten. Würde einen so langen Artikel eine andere Zeitschrift veröffentlichen, würde man daran ungefähr so viel verdienen, wie einem Bundesforste und Magazin pro Monat "schenken".

Geht man profan basisökonomisch an die Sache heran, so sähen die Fakten so aus: eingenommen 1250 Euro pro Monat. Zu Hause laufen die Fixkosten weiter. Miete, Substandard: 600 Euro; Krankenversicherung: 250 Euro; ist man weise genug, eine kleine private Rentenversicherung fürs höhere karge Alter abgeschlossen zu haben: 150 Euro. In Summe: 1000 Euro. Bleiben noch 250 Euro übrig für Essen, Kleidung, Medikamente, Leben. Auf der Berghütte kein größeres Problem. Auf Sylt, der Nordseeinsel mit den höchsten Grundstückspreisen in ganz Deutschland, dagegen bleibt die Küche spätestens ab Monatsmitte kalt.

Protokollpflichten

Und dann gibt es natürlich noch die Aufenthaltsstipendien. Über welche die Salzburgerin Bettina Balakà (Salzburger Lyrikpreis, Theodor-Körner-Preis, Alfred-Gesswein-Literaturpreis) in ihrem jüngsten Roman "Kassiopeia" ihren Protagonisten, einen Schriftsteller, in durchaus anmutiger Manier schimpfen lässt. Nicht nur würde, so der in memoriam Thomas Bernhard sudernde Protagonist, mit Substandardauszeichnungen in Substandardwohnungen gelockt werden. Nein, die jeweilige Gemeinde erwarte auch noch vielfältige kulturelle Beiträge des Stipendiaten - als Vorleser, als Volksbildner, als Präsentator seiner selbst, als Protokollant des so überschäumend interessanten Lebens in dem jeweiligen überschäumend interessanten Flecken.

All das, um reale Beispiele zu benennen, in Orten wie Bergen-Enkheim, einem gesichtslosen Vorort des gesichtslosen Frankfurts am Main. Oder in Edenkoben im pfälzischen Nirgendwo. Als "Esslinger Bahnwärter"! Als "Burgschreiber zu Beeskow" (sechs Monate à 750 Euro), lieblich auf halber Strecke zwischen Müllrose und Goyatz im tiefsten Brandenburg gelegen. Als Stadtschreiber in Otterndorf (Einwohnerzahl: 7000) zwischen dem AKW Brunsbüttel und dem desolaten Bremerhaven. Als Krimi-Stadtschreiber im kriminalitätsschütteren Flensburg; oder für drei bis neun (!) Monate auf dem Künstlerhof Schreyahn in Lüchow im Wendland, umgeben von den weltbekannten Orten Lemgow, Lübbow, Waddeweitz und Schnega, der Hof wird analog zur nahen Atommülllagerstätte Gorleben als "Stipendienstätte" angepriesen. Oder als Dorfschreiber in Villgraten/Osttirol.

Die biographischen Kuriosa, die sich früher so gern in den Lebensläufen amerikanischer Autoren tummelten - Totengräber, Leichtmatrose, Hühnerbrater, Wanderarbeiter, Autoverkäufer, Fahrradbote, Grubenhund - ließen sich ja, große Heiterkeit auslösend, trefflich parodieren. Aber hat nicht eben deshalb jemand wie Jim Thompson, der eminente tiefdüstere crime noir-Autor, den deutschsprachige Verlage gerade wieder entdecken und neu übersetzen lassen, die Welt so beschrieben, weil er sie gesehen, erlebt, durchlitten hat, als Glücksspieler, Sprengstoffexperte, Ölarbeiter, Alkoholschmuggler, Trinker, bezahlt pro Zeile? Wusste der mysteriöse B. Traven nicht, wovon er schrieb, wenn er von Abenteurern mit anarchistischen Adern schrieb, von Goldsuchern, Gesetzlosen und Schiffsmaschinisten?

Es ist alles andere als ein Zufall, dass die jüngst gekürte Sylter "Inselschreiber"-Stipendiatin für das Jahr 2013 eine Studentin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig ist. Denn: Ist nicht das ureigentliche Existenzgrundrecht dieser Schule (wie auch des Diplom-Studiengangs "Literarisches Schreiben" in Hildesheim) das passgenaue Erschreiben von Stipendien, Preisen, Förderanträgen? Originalität: Fehlanzeige.

Unkonventionelles wird dort um jeden Preis vermieden, pardon: um jedes Stipendium. Könnte man sich einen Arno Schmidt im Kursus des Erzählers Hanns-Josef Ortheil vorstellen? Fritz von Herzmanovsky-Orlando als Eleven des Leipziger Literaturinstitutsdirektors Josef Haslinger und bei dessen Kollegen Hans-Ulrich Treichel einen Louis-Férdinand Céline, einen Konrad Bayer, einen Thomas Pynchon oder den 83-jährigen wilden Schweizer Paul Nizon, der heute in Paris in einer winzigen Einzimmerwohnung haust, weil er den deutschsprachigen Großfeuilletons bewusst die kalte Schulter gezeigt hat?

Wer aber kam eigentlich auf die Idee, als "freier Schriftsteller" zu leben? Fehlen diesen nicht Einsichten, Erfahrungen, Weltpartikel, die der Romancier Ernst-Wilhelm Händler hat, der ein mittelständisches Unternehmen leitet, das Leichtmetall produziert?

Ein kurzer Rundgang durch die Literaturproduktion 2012 fördert Stupendes zutage. Katharina Tiwalds (33) jüngste Veröffentlichung: ein Schulroman. Christoph Peters’ (46) neues Buch: ein Schul- und Internatsroman. Nina Bußmanns (32) "Große Ferien": ein- Überraschung - Schulroman. Wer steht im Zentrum von Judith Schalanskys (32) "Der Hals der Giraffe"? Eine Biologielehrerin in Mecklenburg. Und worum dreht sich Jan Brandts (38) 900-Seiten-Wälzer "Gegen die Welt"? Um Kindheit und Jugend in Ostfriesland.

Aufruf zum Aufbruch

Meine Damen Schriftstellerinnen, meine Herren Autoren der jüngeren Generation: Ließe sich nicht einmal etwas erfinden? Oder sich die Welt anschauen? Einmal nach Venedig reisen, ohne dort in der Arbeitswohnung unterzuschlüpfen, die der Literar-Mechana gehört? Ließe sich einmal gen New York aufbrechen, ohne vom Deutschen Literaturfonds das New York-Stipendium gewährt bekommen zu haben (ausnahmsweise ist hier die Intransparenz noch potenziert: der Aufenthalt wird freihändig vergeben)?

Sieht man sich die Liste der Fonds-Stipendiatinnen und Stipendiaten von 1986 bis heute an, dann finden sich hier annähernd so viele schreibende Minusposten wie beim Stockholmer Literaturnobelpreis. Kennt jemand Bücher von Gerrit Bekker, der den Anfang machte, oder von Peter Renz? Weiß man, ob Anne Duden noch schreibt, und was das Buch-One-Hit-Wonder Thomas Brussig heute so treibt? Oder Tom Pohlmann? Oder Paul Brodowsky seit dem Erscheinen seines Erzählungsbandes "Blinde Fische" bei Suhrkamp anno 2007?

Und wer kam auf die Idee, dem braven Daniel Kehlmann, dem wackeren Urs Widmer, dem Altkatholiken Martin Mosebach einen nach Heimito von Doderer, dem Sexualfetischisten und grotesk-grandiosen Großepiker, benannten Preis zu übergeben? Als die kreuzbrave Ulla Hahn 1985 für ihr Reimwerk ausgerechnet den Friedrich-Hölderlin-Preis zugesprochen bekam, wurde öffentlich gespottet, ob umgekehrt Hölderlin den Ulla-Hahn-Preis annehmen oder nicht doch lieber auf geisteskrank plädieren würde?

Muss man, um sich für den Christine-Lavant-Preis zu qualifizieren, lungenkrank sein? Als Georg-Trakl-Preisträger inzestuös? Sich als Anton-Wildgans-Preisträger dessen 5000 Verse zählendes Hexameterepos "Kirbisch" antun?

Stipendien sind kontraproduktiv, weil sie den Mainstream nähren, aus dem sie ihrerseits erwachsen. Formale Experimente, sprachlich Exzentrisches, stilistisch Ausgefallenes: Alles wird überwuchert und durchkreuzt von der Angst, sich ob Unbotmäßigkeit gegenüber dem "Betrieb" von den nährenden Trögen fortzuschreiben - und somit nicht in Frage zu kommen für "Klagenfurt" oder das "Literarische Colloquium Berlin" mitsamt der Jurynetzwerker, die einen dorthin tragen, weiterloben, preisen, verschicken. Nach Sylt, Otterndorf und in den Wald. Wo ist denn, bitte schön, der avancierte große Berlin-Roman der Gegenwart? Wo die avantgardistisch Bahn brechende große Wien-Epopöe?

Als im Frühjahr dieses Jahres die engagierte Streitschrift "Der Kulturinfarkt" erschien, verfasst von Dieter Haselbach, Direktor des Zentrums für Kulturforschung, Pius Knüsel, Direktor der einflussreichen Schweizer Kulturstiftung "Pro Helvetia", Stephan Opitz, vormals VHS-Direktor, heute Professor für Kulturmanagement, und Armin Klein, lange Jahre Theaterdramaturg, inzwischen Professor für Kulturwissenschaft, war die Reaktion vorhersehbar. Sagte doch der Buchuntertitel schon alles: "Von allem zu viel und überall das Gleiche". Reflexartig reagierten die Feuilletons und TV-Kulturmagazine und warfen dem Quartett Kulturlosigkeit vor, beklagten willkürliche Generalisierungen, machten Kleingeistigkeit aus.

Weniger, dafür mehr

Aber sollte man nicht über jede Stimme froh sein, die wider den Mainstream lockt, gerade in den heutigen, so eklatant ideenlosen Zeiten, in denen allzu vieles gesamtgesellschaftlich allzu schnell als "alternativlos" deklariert wird? Würde es der Literatur besser gehen, würde es dem Buchhandel besser gehen, wenn es ein Preis-, Auszeichungs- und Stipendienmoratorium gäbe für, sagen wir, ein Jahr? Würden wir, das Publikum, etwas vermissen? Wohl kaum.

Der Kunstfonds des kleinen Landes Dänemark macht vor, wie es - besser - gehen könnte. Der Autorin Helle Helle, Jahrgang 1965, hat er eine Leibrente ausgesetzt, lebenslang. Wäre es also nicht viel sinnvoller, eine viel kleinere Zahl von Preisen viel besser auszustatten, so dass sich wenigstens die Anreise zur Verleihung lohnt, und man von der Summe mittelfristig leben kann? Denn hehre Armut erzeugt entgegen des romantischen Vorurteils keineswegs gute Literatur.

Als Thomas Melle vor kurzem den Franz-Hessel-Preis zugesprochen bekam, sagte er, die damit verbundene Summe von 10.000 Euro würde ihm für die nächsten Monate Sicherheit beim Arbeiten geben. Für die nächsten Monate. Da muss man schon verrückt sein. Oder freier Schriftsteller.

Alexander Kluy, Journalist, Kritiker, Autor, lebt in München. Zahlreiche Veröffentlichungen zu literatur-, kunst- und kulturhistorischen Themen. Soeben ist in der von ihm herausgegebenen Reihe "Wiener Literaturen" Robert Neumanns "Hochstaplernovelle" (edition atelier, Wien) erschienen.