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Das verdrängte Verbrechen

Von Thomas Schmidinger

Reflexionen

Vor 150 Jahren wurden 1600 Indianer des Stammes der Dakota in einem Lager interniert - und 38 Männer öffentlich gehängt. Die Nachkommen der damaligen Opfer bewahren diesen Gewaltakt in ihrem Gedächtnis.


"Das ist ein schwieriger Ort für uns." Für Akisa Oka Wicasa, der auch auf den "weißen" Namen Bob Klanderud hört, ist die sumpfige Fläche unterhalb des historischen Fort Snelling ein besonderer Ort. Hier bei diesem Fort, das 1819 bis 1825 als Fort St. Anthony am Zusammenfluss des Minnesota und des Mississippi Rivers zwischen den "Twin Cities" St. Paul und Minneapolis errichtet worden war, wurden im Winter 1862 rund 1600 Dakota unter widrigsten Bedingungen in einem Lager interniert. Hunderte von ihnen kamen aufgrund von Krankheiten, Kälte und Hunger ums Leben.

Die Teilnehmer der alljährlichen Gedenkmärsche rammen Holzstöcke in den Boden und erinnern damit am Ort des Gefangenenlagers an die toten Dakota des Winters 1862.
© Foto: Schmidinger

Von hier aus ging der Zug der zum Tode verurteilten Dakota nach Mankato, wo am 26. Dezember 1862 38 Männer der Dakota öffentlich gehängt wurden. Die Stadt im Süden des Bundesstaates Minnesota wurde damit zum Schauplatz der größten Massenhinrichtung in der Geschichte der Vereinigten Staaten.

Akisa Oka Wicasa spricht heute von einem "Konzentrationslager", in dem seine eigene Urgroßmutter als junges Mädchen noch eingesperrt worden war. Man mag geteilter Meinung über diesen Vergleich zu den Lagern der Nazis sein. Aber die Nachkommen der Überlebenden des Genozids kämpfen damit gegen das Vergessen an, das die Nachkommen der Täter heimsuchte.

Ein bedeutender Ort

Aber nicht nur für die Dakota, sondern auch für andere Indianer hat dieser Ort eine Bedeutung. Als mir Jim Bear Jacobs den Ort des Lagers zum ersten Mal zeigt, opfert er Tabak, um der Bedeutung dieses Ortes gerecht zu werden. "Für uns ist die Vergangenheit nicht einfach vergangen. Wir Native Americans haben nicht euren linearen Zeitbegriff. Für uns sind die Opfer, die hier gelitten haben, immer noch sehr präsent. Die Geschichte dieses Ortes hat sich für uns gewissermaßen in diesem Ort, in den Bäumen die hier wachsen, in der Natur festgesetzt", erklärt der Angehörige der Mohican, also jenes Volkes, von dem seit James F. Coopers Abenteuerroman jeder fälschlicherweise glaubt, dass der "letzte Mohikaner" längst ausgestorben wäre.

Die Nachkommen der einst im heutigen Bundesstaat New York lebenden Mohicans erlebten allerdings einen langen Exodus, der sie vom Hudson River über den halben Kontinent bis nach Wisconsin führte. Jim Bear Jacobs, der als christlicher Theologe die traditionelle Spiritualität der Native Americans mit einem befreiungstheologischen Ansatz des Christentums verbindet, lebt heute in den "Twin Cities", wo sich eines der bedeutendsten Zentren urbaner indigener Intellektueller herausgebildet hat.

Hier in Minneapolis gründeten Dennis Banks, Vernon und Clyde Bellecourt und andere "Stadtindianer" 1968 den militanten American Indian Movement (AIM). Ein Jahr später wurde mit dem Department of American Indian Studies an der University of Minnesota das erste Universitätsinstitut in den USA gegründet, das sich ganz der Erforschung der Kulturen und Sprachen der amerikanischen Ureinwohner verschrieben hatte.

Heute beherbergt die Stadt eine Fülle an sozialen und kulturellen Einrichtungen der Anishinabe und Dakota und wurde zum Begegnungsort von indigenen Intellektuellen und Aktivisten unterschiedlicher Herkunft.

Jim Bear Jacobs träumt davon, eine große Gedenkstätte für jene zu errichten, die hier auf dem Höhepunkt des Genozids an den Dakota in den Tod gegangen sind. Auf einem Hügel auf der anderen Seite des Mississippi, der einst als Begräbnisstätte diente und von dem man Fort Snelling gut überblicken kann, würde er gerne ein Denkmal errichten.

Zunächst wollte er aber klein beginnen: "Die meisten Leute hier wissen wenig über diese Geschichte. Viele haben noch nie mit einem Indianer gesprochen. Kaum jemand weiß über ihre Orte Bescheid, die sich hier befinden." Deshalb tat sich Jim Bear Jacobs zunächst mit Freunden der Dakota und Anishinabe zusammen und fand während des interreligiösen Dialogs Ansprechpartner. Im Rahmen des St. Paul Interfaith Network (SPIN) bieten er und seine Freunde eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Remembering and Honoring Dakota Stories" (Wokiksuye K’a Woyuonihan) an. Das Wissen, das er von den lokalen Dakota über ihre wichtigen Orte in den Twin Cities erhalten hat, gibt er mit deren Erlaubnis in Stadtführungen durch die indigenen Orte der Hauptstadtregion weiter.

Bob Klanderud alias Akisa Oka Wicasa, der seine indigene Identität früher versteckte, indem er den "Latino" spielte und nach seiner Rückkehr zu seinen Dakota-Wurzeln in der Division of Indian Work mitarbeitet, ist einer seiner wichtigsten Mitstreiter. Hier, inmitten eines von Indianern, Somalis und Mexikanern bewohnten Viertels, findet nicht nur Sozialarbeit statt. Die Räume der "Division" sind ein wichtiges kulturelles Zentrum der urbanen Dakota und Anishinabe.

Eifersüchtige Weiße

Dale Lohnes, der noch mit Dakota als Muttersprache aufgewachsen ist, unterrichtet hier jungen Dakota ihre Sprache und die Trommel, die keineswegs nur ein Musikinstrument ist, sondern auch eine religiöse Bedeutung besitzt. Dale Lohnes ist ein traditioneller Medizinmann. Im Gegensatz zu Jim Bear Jacobs will er die Weißen nicht davon überzeugen, sich endlich ihrer Geschichte zu stellen: "Sie sollen uns in Ruhe lassen und uns unser Land zurück geben. Mehr will ich nicht." Auch für ihn ist die Vergangenheit nicht vorüber: "Wir hatten alles. Die Erde hat uns alles gegeben, was wir zum Leben brauchten. Die Weißen waren eifersüchtig auf die Balance, mit der wir mit allen Wesen zusammenlebten. Deshalb haben sie hier alles zerstört und unser Land geraubt."

Indigene Kultur: das "American Indian Arts Festival" in Minneapolis.
© Foto: Schmidinger

Aus den alten Prophezeiungen seines Volkes schließt er jedoch, dass die Herrschaft der Weißen nicht auf Dauer sein wird. Das Ziel des in der Lake Traverse Reservation in South Dakota aufgewachsenen Nachkommen jener, die 1862 aus Minnesota vertrieben wurden, ist allerdings nicht der Kampf mit den Weißen. Vielmehr ginge es ihm um eine kulturelle und religiöse Wiederbelebung der Dakota.

Traditionalisten wie Dale Lohnes kämpfen vor allem um kulturelle und religiöse Werte und die Rückgewinnung einer souveränen Landbasis für die indigenen Nationen Amerikas. Seine Arbeit konzentriert sich auf die Dakota selbst und nicht auf die Weißen: "Eine Versöhnung kann erst beginnen, wenn der Rassismus gegen uns verschwindet!" Dass es bis dahin noch weit ist, darin sind sich Dale Lohnes, Bob Klanderud und Jim Bear Jacobs einig. Letztere treten allerdings stärker für einen Dialog mit den Weißen und mit den verschiedenen people of color in Minnesota ein. Ihre Vorträge sind Teil dieses Versuches.

Was 1862 geschah

150 Jahre nach dem Dakota-Krieg sind zwar die Eckdaten dieser Auseinandersetzung bekannt: Der Aufstand der in ein Reservat zurückgedrängten hungernden Dakota, die angesichts der ausbleibenden Lebensmittellieferungen, die in den Verträgen mit der USA für das abgetretene Land festgelegt worden waren, zu den Waffen griffen und von der überlegenen Kriegsmaschine der USA besiegt wurden, das Lager in Fort Snelling, die Hinrichtungen in Mankato und die Vertreibung der Überlebenden nach South Dakota. Für die Nachkommen der Täter ist diese Geschichte allerdings eine ferne Erzählung aus den Tiefen der Geschichte.

Fort Snelling ist vor allem eine Attraktion, in der man sich an die Pioniere des Westens erinnert. Bis heute setzen sich der Rassismus, die strukturelle Benachteiligung von Native Americans, die Armut, die niedrige Lebenserwartung und die Geringschätzung indigener Sprachen und kultureller Ausdrucksformen fort.

Indianer werden bestenfalls als Kuriositäten und Tourismusattraktionen gesehen. Die mühsame Rettung ihrer Sprachen müssen sie aber ebenso selbst mit den Einnahmen aus den auf den Reservaten errichteten Kasinos finanzieren wie die Versuche, geraubtes Land innerhalb der Reservationen wieder zurückzukaufen. In Prarie Island, bei einem der letzten kleinen Dakota-Reservate in Minnesota, wurde 1973 ein Atomkraftwerk errichtet, das trotz Unfällen immer noch in Betrieb ist und in dem radioaktiver Müll gelagert wird.

Auf dem Siegel des Bundesstaates Minnesota reitet ein Indianer davon, während ein Weißer das von ihm frei gewordene Land zu ackern beginnt. Für die meisten Weißen sind die ursprünglichen Bewohner des Landes immer noch ein Überrest der Vergangenheit. Daran ändern auch gut gemeinte Ausstellungen, wie sie zum Jubiläum der Ereignisse organisiert werden, wenig - vielleicht allerdings die Geschichten, die Bob Klanderud und Jim Bear Jacobs in Schulen und Kirchengemeinden erzählen.

Thomas Schmidinger ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und an der Fachhochschule Vorarlberg. Seit er
ein Jahr als Research Fellow an der University of Minnesota verbracht hat, verbindet ihn vieles mit dem amerikanischen Midwest.