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Aufschwung in der Provinz

Von Dieter Scholz

Reflexionen

Als wissenschaftlicher Berater einer kleinen Pharmafirma in der Stadt Dongming erlebt man ein anderes China als bei einem Besuch in den großen Metropolen Beijing oder Shanghai.


In Beijing öffneten sich die Glastüren des Flughafenausgangs und ich stand einer größeren Menschenmenge gegenüber. Ein Winken und Rufen, ein Schilderschwenken - verwirrend, wie in jeder Ankunftshalle. Es war mein erster Einsatz seit meiner Pensionierung, über den Senior Expert Service, einer deutschen Organisation, die ehrenamtliche Tätigkeit in aller Welt vermittelt.

Offene Märkte in Dongming verleihen der Stadt ein ländliches Aussehen, sind aber zugleich auch ein Zeichen des allseits regen chinesischen Unternehmergeists.
© Foto: Scholz

Drei Wochen im Einsatz

Jetzt am Flughafen in Beijing sah ich eine junge Chinesin, über das Geländer leicht vorgebeugt, mit dem Schild: Prof. Dr. Dieter Scholz. Drei Wochen intensiver Einsatz bei einer kleinen chinesischen Pharmafirma in der Stadt Dongming: ein Syntheselabor von Innen sehen, Reaktionen planen, Ergebnisse besprechen - freudvolle Aussichten. Ich kenne Beijing und Shanghai, ich habe die dynamische Entwicklung dieser beiden Städte über die vergangenen fünfzehn Jahre erlebt. Aber wie zeigt sich die Wirtschaftsentwicklung in der Provinz?

Nach einer Nacht in Beijing ging es acht Stunden nach Dongming. Die Autobahnen frisch asphaltiert oder neu gebaut, die Lastwagen riesig und die Verkehrsregeln flexibel. Überholt wird links und rechts, mitunter ist der Abstand knapp. Der Zustand der Riesenlaster stärkte mein Sicherheitsgefühl nicht. Der Ehrensitz neben dem Fahrer wurde mir zugeteilt. Die Scheiben des Wagens waren verdunkelt, ein Gefühl: "höherer Kader".

Dongming ist eine Bezirkshauptstadt in der Provinz Shandong. Shandong ist 150.000 Quadratkilometer groß, etwa zweimal Österreich, die Einwohnerzahl rund 130 Millionen. Die Provinz liegt ziemlich genau zwischen Beijing und Shanghai, zieht sich östlich vom Gelben Fluss bis an die Küste. Dsingtao, der Haupthafen der Provinz, war für kurze Zeit eine deutsche Kolonie, seither wird hier Bier nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut.

Das Land ist flach, Schwemmland des Gelben Flusses, viel Landwirtschaft, viel Industrie. Es wird kräftig investiert, die Provinz ist reich an Kohle, Erzen und Erdöl.

Drei Wochen in einem Hotel westlichen Stils: gratis Internetanschluss und hauseigener Computer auf den angenehm großen Zimmern. Meines liegt im 10. Stock, mit weitem Blick über die Stadt. Ein großer Flachbildschirm, 43 Programme ausschließlich in Chinesisch, mit ebensolchen Untertiteln für Minderheiten und Schwerhörige. Kein CNN oder BBC international.

Der einzige Europäer

Viele Hotelangestellte, sehr hilfsbereit, die Englischkenntnisse sind minimal. Ich erhielt die Telefonnummer der einzigen jungen Frau, die Englisch sprach. Im Hotelrestaurant wird ausschließlich chinesisch gekocht. Frühstück: warmes und kaltes Gemüse, gefüllte Knödel, hart gekochte Eier, und Tofu in vielen Variationen; Reissuppe, Sojamilch und als Luxus ein kleines Glas warme Milch. Kein Kaffee oder Tee - den gibt es aber in der grünen Variante reichlich in der Firma.

Dongming wird systematisch ausgebaut. Bis vor kurzem existierte in der Stadt eine einzige größere Straße, alles Übrige waren schmale Sträßchen, ungepflastert mit engen Zugängen zu den Wohnquartieren. Jetzt sind die Hauptstraßen, die sich schachbrettartig durch die Stadt ziehen, sechsspurig, mit jeweils einer Spur für den Rad- und Mopedverkehr. Diese fahren faktisch alle mit elektrischem Antrieb. Das ist gewöhnungsbedürftig, besonders am Abend oder in der Nacht: man hört sie nicht!!

Von den großen Straßen zweigen Sträßchen und Wege zu den Wohnhäusern ab, die, wie in China seit Jahrtausenden üblich, alle hinter Mauern versteckt liegen. Der Glaube an Geister und Dämonen ist weit verbreitet, man schützt sich durch Mauern, Schwellen und durch hinter den Eingängen aufgestellte, eingangsbreite Wände. Chinesische Geister können nämlich nur geradeaus gehen, deshalb führen auch Zick-Zack-Brücken über Teiche.

Die Zentralregierung ist über die Verschuldung der Provinzen besorgt, aber auf Grund der großen Währungsreserven sind keine kalifornischen oder griechischen Probleme zu erwarten. Erstaunlich ist nur der großzügige Umgang mit dem wertvollen, sehr fruchtbaren Ackerland: da steht eine fast fertige neue chemische Produktionsanlage für die Verwertung von Kohle auf einem riesigen Areal.

Ein ebenso großes Areal ist für zukünftige pharmazeutische Produktion vorgesehen. In drei Jahren soll alles fertig sein. Beides ist in meinen Augen eine Bodenverschwendung. China kauft als Ersatz große Landflächen in Afrika zur Nahrungsmittel- und Biotreibstoffproduktion auf.

Der Wille zum Aufholen

Das Programm der ersten Tage: eine kurze offizielle Begrüßung und einige Betriebsbesichtigungen. Mein Eindruck von den Produktionsbedingungen: technisch robust, aber die Arbeitsabläufe könnten durch einen Anlageningenieur gestrafft und optimiert werden. Die Produktion wird in großen, in China hergestellten Reaktionskesseln durchgeführt. Durchflussreaktoren habe ich keine gesehen. Die chemischen Reaktionen sind von einfachem Niveau, aber konstant in den Ergebnissen und von geringem apparativem Aufwand. Die deutsche Technologie gilt als hervorragend, die neuen Geräte im Labor waren chinesischer Nachbau.

Hier hat Europa noch einen deutlichen technologischen Vorsprung, aber den Willen zum Aufholen spürte ich deutlich. China kopiert noch, strebt aber nach eigenständiger Innovation und Entwicklung. Made in China als Hightech-Begriff und Zeichen für hohe Qualität ist das ersehnte Ziel. Ein Beispiel: die chinesische "Suntech Power" ist der weltweit größte Hersteller von Siliziumsolarmodulen.

Bei diesen Betriebsbesichtigungen übernahm ich geradezu automatisch den klassischen Delegiertenschritt: ruhiges aber zielstrebiges Ausschreiten, gestraffte Haltung, links neben mir die Dolmetscherin, rechts der Fabrikdirektor und leitende Ingenieure. Immer wieder ein Halt für das obligatorische Gruppenbild, alles sehr wichtig, alles vom Prestigedenken bestimmt. Delegationen sind in China sehr beliebt. Die Kleidung ist business casual, wie bei vielen westlichen Firmen anlässlich interner Fortbildungen.

Konzentrierte Arbeitsatmosphäre im chinesischen Labor.
© Foto: Scholz

Ungewohnt war die Kommunikation über die Dolmetscherin. Bei offiziellen Begrüßungen im Büro blickt man ernsthaft und aufmerksam den chinesisch sprechenden Direktor an, obwohl beide Seiten wissen, dass man nichts versteht. Dann hört man die Übersetzung durch die Dolmetscherin und antwortet, in diesem Fall auf Englisch, wieder dem Direktor, der nun seinerseits ernsthaft und aufmerksam lauscht, ohne irgendetwas zu verstehen. Da aber nur Höflichkeitsfloskeln, Bewunderungen und Danksagungen austauscht werden, ist das Verstehen von geringerer Bedeutung.

Kommunizieren bei den konkreten Projekten war wesentlich einfacher, die Formelsprache der Chemie gilt international. Der Chef konnte Englisch gut lesen, nur das Sprechen fiel ihm schwer. Offiziöse Mittagessen, bei denen bekanntlich viel "zugetrunken" wird, ermutigten ihn. Das Zutrinken ist ein wesentlicher Ausdruck des wechselseitigen Respekts.

Im Labor wurde mittels Dolmetscherin kommuniziert, ergänzt durch Schreiben und Zeichnen auf Papier zur Festlegung der Reaktionsbedingungen und nonverbal über "charakteristische Handbewegungen". Das gemeinsame Beobachten von Reaktionen förderte den Teamcharakter und das wechselseitige Vertrauen aller Arbeitskollegen sehr. Es hatte für mich einen hohen nostalgischen, auch sentimentalen Wert. Das Labor mit seinen Flaschen, Geräten, Glasgefäßen wird für einen Chemiker über die Jahre zu einem zweiten Zuhause.

Der Ausrüstung des Technikums fehlt noch viel zum westlichen Niveau. Die analytische Abteilung, zuständig für die regelmäßige Qualitätskontrolle, ist sehr gut ausgestattet. Die grundsätzliche Arbeit an der Optimierung der Produktionsprozesse hat noch geringen Stellenwert, gewinnt aber im Rahmen des starken internen und externen Wettbewerbes an Bedeutung.

Wirklich aufgeräumt in dem mir gewohnten Sinne wurde das Labor nur, als das lokale Fernsehen ankündigte, den Gast aus Europa zu filmen. Innerhalb einer Dreiviertelstunde wurde geputzt, neue Reaktionsansätze wurden aufgebaut und - nicht anders als bei TV-Besuchen in Wien - Wissenschaft optisch aufbereitet. Plötzlich gab es Arbeitsmäntel, die sonst nicht getragen werden. In den Produktionsstätten hingegen tragen alle MitarbeiterInnen den international gültigen Vorschriften entsprechende Schutzkleidung. Es wird gerne und viel gelacht, die Arbeitsatmosphäre ist konzentriert, der Arbeitsdruck hingegen nicht sehr groß. Allerdings sind sieben Arbeitstage pro Woche der Normalfall.

Großer Optimismus

Beeindruckend sind der Glaube an eine bessere Zukunft, die Freude und der Stolz auf die Entwicklung, die China genommen hat. Die Grundstimmung ist sehr positiv. Den Eltern ist das Wichtigste eine gute Ausbildung für den Nachwuchs. Finanzielle Opfer sind notwendig, Kosten für Schule und Universität sind hoch.

Der Konfuzianismus prägt die chinesische Gesellschaft seit Jahrtausenden. Der Maoismus bleibt diesbezüglich eine kleine historische Fußnote, denn Konfuzius mit seiner Tradition des gesellschaftlichen Aufstiegs durch Lernen kehrt zurück. Die Tempel werden restauriert und zum jährlichen Gedenktag "bespielt".

Die Städte außerhalb der großen Metropolen sind meist von der ersten Generation geprägt, die vom Land in die Stadt gezogen ist. Deren Väter bzw. Eltern besitzen oft noch ein kleines Stück Land, das zur Absicherung der Grundversorgung mit Lebensmitteln nicht aufgegeben wird. Die Einkindfamilie dominiert, für weitere Kinder muss bezahlt werden.

Das Ländliche zeigt sich daran, dass etwa am Rand des größten Parks von Dongming Karotten und Melonen gepflanzt werden. Zwischen den Mauern, die die Wohnbauten umgeben, und den Gehsteigen werden, wo immer möglich, kleine Gemüsegärten angelegt. Ein Schwätzchen auf der Straßenkreuzung, wenn man sich zufällig trifft, ist auch selbstverständlich, der Verkehr läuft dann einfach drum herum.

Das Denken in Entrepreneurkategorien ist hier eine Selbstverständlichkeit. In Seitenstraßen offene Märkte mit Gemüse, Obst, Fleisch und kleineren warmen Gerichten, ein lebhaftes Treiben, verkauft wird die jeweilige Ware aus Fahrradgepäckskörben bis hin zu großen zweirädrigen Wagen. Oder: eine Gärtnerei etwas außerhalb von Dongming hat ein Restaurant eröffnet. Die Speisekarte: vor allem frisches Gemüse aus der eigenen Gärtnerei - eine ergänzende Nutzung, ein zusätzlicher Ertrag. Geerntet wird erst nach der Bestellung, die chinesische Küche erlaubt die schnelle Zubereitung: ein wunderschönes Essen im Grünen. Der Ehrenplatz, genau gegenüber der Tür, war mir vorbehalten. Die Sitzordnung ist klar geregelt, wenn während des Essens ein Ranghöherer kommt, wird umgruppiert.

Die breiten Gehsteige bieten Raum für "Schanigärten" sehr einfacher Restaurants oder für Tische zum Mah-Jongg- und Kartenspielen. Das Spielen um Geld ist verboten, aber es verleiht den eigentlichen Reiz, deshalb "liegt das Geld unter dem Tisch". Viele Kinder, in der Mehrzahl Buben, vergnügen sich auf den Gehsteigen. In der Abenddämmerung ein sehr schönes, friedliches Bild, leise fahren noch Fahrräder vorbei, einige wenige Fußgänger sind unterwegs und das Leben hat einen ruhigen Gang. Ich schlenderte viel herum, wurde neugierig beobachtet, ein wechselseitiges Schauen, nie bedrohlich.

In Dongming, einer besser gestellten chinesischen Provinz, ist der Gegensatz zwischen Arm und Reich bei Weitem nicht so groß wie in Beijing oder Shanghai. Viel Mittelklasse, Mann und Frau haben einen Arbeitsplatz, eine kleine, aber ordentliche Wohnung und den Traum von der materiellen Verbesserung. In den Neubauten kosten die Apartments (als Eigentum) etwa 1000 RMB/m2, das sind ungefähr 100 Euro (RMB bedeutet Renminbi, Geld des Volkes). Das kann sich die aufkommende Mittelklasse gerade noch leisten. Es gibt kaum teure Restaurants und keinerlei westliche Küche, sehr zum Unterschied von Beijing und Shanghai.

Mais- und Weizenland

Die Vielfalt der chinesischen Küche beeindruckt, Gemüse je nach Saison, Fleisch, oft recht fett, Fische, Tofu in vielen Variationen, bienenähnliche Insekten, Nudeln und Suppen. Reis ist selten, Shandong ist eine Mais- und Weizenprovinz. Essen ist für Chinesen bedeutsam, oft wird zum Gruß gefragt: "Haben Sie schon gegessen?"

Das offizielle Arbeitsrecht hat wenig Bedeutung im Arbeitsalltag, SchulabgängerInnen werden zum Teil weiterhin den Betrieben oder auch der Polizei zugeteilt. Wechsel von einem Arbeitsplatz zu einem anderen, auch bei privaten Firmen, bedürfen der jeweiligen Zustimmung der Chefs. Dongming boomt nicht so extrem wie Shanghai oder Guandong, Wanderarbeiterprobleme sind entweder nicht existent oder kaum sichtbar.

Die Frauengleichstellung existiert mehr auf dem Papier. Nach dem ersten und oft einzigen Kind sind die Jobaussichten für Frauen gut, bei einer weiteren Schwangerschaft gibt es aber keine Arbeitsplatzgarantie.

Umweltschutz ist, zumindest verbal, auch im Chemielabor angekommen. Noch werden die anfallenden kleineren Chemikalienmengen über den Ausguss entsorgt, genau wie zu meiner Studienzeit in Wien (Abschluss 1974), aber landesweit wurden hunderte Fabriken wegen Umweltgefährdung geschlossen. Umweltschutz ist ein aktuelles Gesprächsthema. Die offizielle Politik: China übernimmt keine von außen aufgezwungenen Verpflichtungen. Aber der interne Fünfjahresplan fixiert zum ersten Mal feste Ziele für eine bessere CO2-Effizienz.

Solange der Aufstiegsglaube und auch der reale, materielle, Aufstieg in der Bevölkerung existieren, ist das Interesse an Freiheit und Demokratisierung westlicher Prägung für die große Mehrheit der Bevölkerung unwesentlich. In jüngster Vergangenheit war der Westen auch nicht wirklich eine attraktive Alternative. Die Probleme werden sicher größer, wenn die nächste Generation mit Diplom vom Arbeiter zum Angestellten aufsteigen möchte. Arbeitsplätze für Hochqualifizierte sind noch vergleichsweise spärlich, die gut Ausgebildeten werden mehr. 1998 gab es 830.000 Studienabgänger (Techniker, Diplomingenieure, Doktoren) pro Jahr, jetzt sind es über sechs Millionen, Tendenz stark steigend.

Globaler Wettbewerb

Der Vorsprung Europas schrumpft: 2011 haben chinesische Forscher und Unternehmer 391.000 Patente angemeldet, die EU 151.000; in Polen hat eine chinesische Baufirma bereits die Ausschreibung zu einem Autobahnstück gewonnen, sie boten um 60 Prozent billiger an, greifen auf polnische Arbeitskräfte zurück und verwenden Schweizer und deutsche Straßenbaumaschinen (sagen sie). Chinesische Firmen kaufen Grundstücke vom Baltikum bis zum Balkan, chinesische Firmen investieren viel in Ungarn. Der Plan: Osteuropa als Sprungbrett für die restliche EU nutzen. Die KPCh plant langfristig, es geht nicht um den schnellen Gewinn. In diesem Sinne sind auch die Stützungskäufe griechischer, spanischer und portugiesischer Staatsanleihen durch China zu sehen.

Auf der wissenschaftlichen Ebene gibt es zwischen China und Österreich Kooperationen (z.B. Austria Tec Week China während der EXPO 2010), besonders auf dem Gebiet der Elektrifizierung des Verkehrs. Aber solange es in China kein Umdenken zu mehr öffentlichem Verkehr gibt, bin ich, was den Erfolg betrifft, skeptisch. In China sind die Investitionen für Autobahnen dem Zugsverkehr bei Weitem voraus

Wie gut sich Europa in Zukunft behaupten kann, hängt entscheidend von den Anstrengungen bei Bildung, Ausbildung und auch bei der Forschung ab.

Dieter Scholz, geboren 1947, ist habilitierter Medizinalchemiker und arbeitet seit seiner Pensionierung als Berater für den österreichischen ASEP (Austrian Senior Expert Pool, www.asep.at) und das deutsche SES (Senior Expert Service, www.SES-bonn.com).