
Bei diesen Betriebsbesichtigungen übernahm ich geradezu automatisch den klassischen Delegiertenschritt: ruhiges aber zielstrebiges Ausschreiten, gestraffte Haltung, links neben mir die Dolmetscherin, rechts der Fabrikdirektor und leitende Ingenieure. Immer wieder ein Halt für das obligatorische Gruppenbild, alles sehr wichtig, alles vom Prestigedenken bestimmt. Delegationen sind in China sehr beliebt. Die Kleidung ist business casual, wie bei vielen westlichen Firmen anlässlich interner Fortbildungen.

Ungewohnt war die Kommunikation über die Dolmetscherin. Bei offiziellen Begrüßungen im Büro blickt man ernsthaft und aufmerksam den chinesisch sprechenden Direktor an, obwohl beide Seiten wissen, dass man nichts versteht. Dann hört man die Übersetzung durch die Dolmetscherin und antwortet, in diesem Fall auf Englisch, wieder dem Direktor, der nun seinerseits ernsthaft und aufmerksam lauscht, ohne irgendetwas zu verstehen. Da aber nur Höflichkeitsfloskeln, Bewunderungen und Danksagungen austauscht werden, ist das Verstehen von geringerer Bedeutung.
Kommunizieren bei den konkreten Projekten war wesentlich einfacher, die Formelsprache der Chemie gilt international. Der Chef konnte Englisch gut lesen, nur das Sprechen fiel ihm schwer. Offiziöse Mittagessen, bei denen bekanntlich viel "zugetrunken" wird, ermutigten ihn. Das Zutrinken ist ein wesentlicher Ausdruck des wechselseitigen Respekts.
Im Labor wurde mittels Dolmetscherin kommuniziert, ergänzt durch Schreiben und Zeichnen auf Papier zur Festlegung der Reaktionsbedingungen und nonverbal über "charakteristische Handbewegungen". Das gemeinsame Beobachten von Reaktionen förderte den Teamcharakter und das wechselseitige Vertrauen aller Arbeitskollegen sehr. Es hatte für mich einen hohen nostalgischen, auch sentimentalen Wert. Das Labor mit seinen Flaschen, Geräten, Glasgefäßen wird für einen Chemiker über die Jahre zu einem zweiten Zuhause.
Der Ausrüstung des Technikums fehlt noch viel zum westlichen Niveau. Die analytische Abteilung, zuständig für die regelmäßige Qualitätskontrolle, ist sehr gut ausgestattet. Die grundsätzliche Arbeit an der Optimierung der Produktionsprozesse hat noch geringen Stellenwert, gewinnt aber im Rahmen des starken internen und externen Wettbewerbes an Bedeutung.
Wirklich aufgeräumt in dem mir gewohnten Sinne wurde das Labor nur, als das lokale Fernsehen ankündigte, den Gast aus Europa zu filmen. Innerhalb einer Dreiviertelstunde wurde geputzt, neue Reaktionsansätze wurden aufgebaut und - nicht anders als bei TV-Besuchen in Wien - Wissenschaft optisch aufbereitet. Plötzlich gab es Arbeitsmäntel, die sonst nicht getragen werden. In den Produktionsstätten hingegen tragen alle MitarbeiterInnen den international gültigen Vorschriften entsprechende Schutzkleidung. Es wird gerne und viel gelacht, die Arbeitsatmosphäre ist konzentriert, der Arbeitsdruck hingegen nicht sehr groß. Allerdings sind sieben Arbeitstage pro Woche der Normalfall.
Großer Optimismus
Beeindruckend sind der Glaube an eine bessere Zukunft, die Freude und der Stolz auf die Entwicklung, die China genommen hat. Die Grundstimmung ist sehr positiv. Den Eltern ist das Wichtigste eine gute Ausbildung für den Nachwuchs. Finanzielle Opfer sind notwendig, Kosten für Schule und Universität sind hoch.
Der Konfuzianismus prägt die chinesische Gesellschaft seit Jahrtausenden. Der Maoismus bleibt diesbezüglich eine kleine historische Fußnote, denn Konfuzius mit seiner Tradition des gesellschaftlichen Aufstiegs durch Lernen kehrt zurück. Die Tempel werden restauriert und zum jährlichen Gedenktag "bespielt".
Die Städte außerhalb der großen Metropolen sind meist von der ersten Generation geprägt, die vom Land in die Stadt gezogen ist. Deren Väter bzw. Eltern besitzen oft noch ein kleines Stück Land, das zur Absicherung der Grundversorgung mit Lebensmitteln nicht aufgegeben wird. Die Einkindfamilie dominiert, für weitere Kinder muss bezahlt werden.
Das Ländliche zeigt sich daran, dass etwa am Rand des größten Parks von Dongming Karotten und Melonen gepflanzt werden. Zwischen den Mauern, die die Wohnbauten umgeben, und den Gehsteigen werden, wo immer möglich, kleine Gemüsegärten angelegt. Ein Schwätzchen auf der Straßenkreuzung, wenn man sich zufällig trifft, ist auch selbstverständlich, der Verkehr läuft dann einfach drum herum.
Das Denken in Entrepreneurkategorien ist hier eine Selbstverständlichkeit. In Seitenstraßen offene Märkte mit Gemüse, Obst, Fleisch und kleineren warmen Gerichten, ein lebhaftes Treiben, verkauft wird die jeweilige Ware aus Fahrradgepäckskörben bis hin zu großen zweirädrigen Wagen. Oder: eine Gärtnerei etwas außerhalb von Dongming hat ein Restaurant eröffnet. Die Speisekarte: vor allem frisches Gemüse aus der eigenen Gärtnerei - eine ergänzende Nutzung, ein zusätzlicher Ertrag. Geerntet wird erst nach der Bestellung, die chinesische Küche erlaubt die schnelle Zubereitung: ein wunderschönes Essen im Grünen. Der Ehrenplatz, genau gegenüber der Tür, war mir vorbehalten. Die Sitzordnung ist klar geregelt, wenn während des Essens ein Ranghöherer kommt, wird umgruppiert.
Die breiten Gehsteige bieten Raum für "Schanigärten" sehr einfacher Restaurants oder für Tische zum Mah-Jongg- und Kartenspielen. Das Spielen um Geld ist verboten, aber es verleiht den eigentlichen Reiz, deshalb "liegt das Geld unter dem Tisch". Viele Kinder, in der Mehrzahl Buben, vergnügen sich auf den Gehsteigen. In der Abenddämmerung ein sehr schönes, friedliches Bild, leise fahren noch Fahrräder vorbei, einige wenige Fußgänger sind unterwegs und das Leben hat einen ruhigen Gang. Ich schlenderte viel herum, wurde neugierig beobachtet, ein wechselseitiges Schauen, nie bedrohlich.