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Subversive Bilderwelten

Von Martin Reiterer

Reflexionen

Moderne Comicromane über den Nahen Osten entfalten im Kontext des Arabischen Frühlings ihre politische Wirkung - als Mittel der Regimekritik und als Korrektiv des westlichen Orient-Bildes.


In seinem Vorwort zu Joe Saccos "Palestine" aus dem Jahr 2003 beschreibt Edward Said, wie sehr Comics in seiner Kindheit im Nahen Osten sein Denken, Sehen und seine Vorstellungskraft befreiten. Die Direktheit der Sprache und Bilder, die Unbekümmertheit gegenüber dem Verbotenen, insbesondere von Sexualität und Gewalt, die skandalösen Figuren, all das stellte eine Gegenwelt zu jener dar, die ihm durch Eltern und Schule vermittelt wurde. Wenngleich Said von einer anderen Zeit spricht, so scheinen Comics im Kontext von Arabischem Frühling und Regimekritik im Nahen Osten abermals eine explosive Wirkung zu entfalten. Diesmal jedoch in Form moderner Comicromane mit politischem Sprengstoff.

Vom Blog zum Roman

Der Comic "Die besten Feinde" von J.-P. Filius/David B. (siehe auch Cover unten) thematisiert die Geschichte der Beziehungen zwischen den USA und dem Nahen Osten.
© Bild: avant-verlag

Die französisch-iranische Comicautorin Marjane Satrapi hat mit ihrem autobiografischen Comic "Persepolis" (2000-2003, dt. 2004) einen außergewöhnlichen Erfolg gelandet und dazu beigetragen, dem hochgradig verstellten Blick auf diese Region eine neue, erfrischend unverbrauchte Sicht gegenüberzustellen.

Hatte der autobiografische Comicroman die Islamische Revolution von 1979 und ihre Folgen im Visier, so ist kürzlich der Comic zur Grünen Revolution im Iran als Buch erschienen. "Zahra’s Paradise" (dt. 2011) von Amir (Autor) und Khalil (Zeichner) - beide vermutlich Exil-Iraner in den USA, die zum Schutz ihrer Familien im Iran unter Pseudonymen auftreten - ist eine Reaktion auf die aktuellen Ereignisse, die von der iranischen Präsidentschaftswahl im Juni 2009 ausgelöst wurden.

Tatsächlich ist der Comic bereits zuvor, nur ein halbes Jahr nach den Protesten, online als Comicblog erschienen und parallel in verschiedene Sprachen übersetzt worden. Hassan, eine zen-trale Figur des Comics, ist Blogger und führt Tagebuch über die verzweifelten Nachforschungen nach seinem Bruder, der während der Demonstrationen verschwunden ist. Obwohl formal gesehen fiktiv, setzt sich der Comic aus einer "Collage" von wahren Begebenheiten und tatsächlichen Vorfällen zusammen, so die Autoren.

Der Titel "Zahra’s Paradise" spielt einerseits auf den größten Friedhof in Teheran an, der allegorisch auch für die Morbidität einer Stadt steht, in der alles "nach dem Tod benannt" ist. Ein Eindruck, der sich bereits in Marjane Satrapis "Persepolis" eingestellt hatte: "Mir war, als würde ich über einen Friedhof gehen . . ." Andererseits spielt der Name auf die iranisch-kanadische Fotoreporterin und nunmehrige Symbolfigur Zahra Kazemi an, die auf brutalste Weise ermordet wurde, nachdem sie vor dem Evin-Gefängnis protestierende Familien von Vermissten fotografiert hatte. Das Evin ist berüchtigt für Folter von politischen Gefangenen. In emblematischen Bildern wird die Justiz des Gottesstaates als monströse Maschinerie des Todes dargestellt: "Sie haben den Islam in eine Strafkolonie verwandelt."

Während "Zahra’s Paradise" unmissverständlich mit dem gegenwärtigen Regime im Iran abrechnet, setzt Jean-Pierre Filius’ und David B.s politische Geschichte des Nahen Ostens weit im Vorfeld der heutigen politischen Konstellationen an: "Die besten Feinde. Eine Geschichte der Beziehungen der Vereinigten Staaten mit dem Nahen Osten (Erster Teil 1783-1953)" wirft interessante Schlaglichter auf die Zeit, in der sich koloniale Interessen in der Region zu artikulieren beginnen. Nach anfänglicher Zurückhaltung der Vereinigten Staaten gegenüber den französischen und britischen Kolonialmächten gibt der Kampf ums Öl im 20. Jahrhundert den entscheidenden Auftakt zum Ausbau des Einflusses vor Ort. Machttheorien und -projektionen - etwa vom US-amerikanischen Offizier Alfred Mahan - über die zentrale Bedeutung der Kontrolle über den "Nahen Osten" dienen als Untermauerung.

Visualisierter Krieg

Das letzte Kapitel des ersten Teils mit dem Titel "Staatsstreich" stellt einen ersten Höhepunkt dieser Bestrebungen dar. Es geht um den Fall Mohammad Mossadegh, der 1951 Premierminister des Iran wird. Seine kurze Amtszeit dreht sich hauptsächlich um die Verstaatlichung der Erdölindus-trie. Um diesen Schritt zur Unabhängigkeit zu vereiteln, setzen die USA nahezu alle Hebel in Bewegung. Die strategischen Bemühungen, das Land ins Chaos zu stürzen, gelingen. In der "Opera-tion Ajax" führen die Vereinigten Staaten mithilfe der CIA erstmals einen Militärputsch durch, der als Vorbild für weitere Staatsstreiche in anderen Weltregionen dienen wird. "Die Zeit der Kolonialmächte ist zu Ende. Es folgt die Ära der Vereinigten Staaten", schließt der Band über diese bemerkenswerten Beziehungen lakonisch.

David B., der in seinem autobiografischen Comicroman "Die Heilige Krankheit" das Bild des Krieges als epileptischer Anfall etablierte, zeigt sich auch in diesem Band als virtuoser Zeichner kriegerischer Auseinandersetzungen, Schlachten und Gemetzel, ganz gleich, ob zu Wasser, zu Land, mit Schwertern oder mit Kanonen. Symbolische Darstellungen und expressionistische Allegorisierungen verleihen der historischen Inszenierung einiges an Tiefenschärfe.

Zensur in Ägypten

Allerdings mangelt es dem geschichtlichen Aufriss mitunter an Differenziertheit. So ist die Rolle Mossadeghs weit umstrittener als dargestellt, historische Irrtümer um den Mythos des Premierministers bleiben unangetastet.

Das Erscheinen der ersten ägyptischen Graphic Novel war sogleich mit einem Skandal verknüpft: Kurz nachdem "Metro" von Magdy El-Shafee 2008 in Kairo aus dem Druck kam, wurde der Comic von der ägyptischen Zensurbehörde "wegen Gefährdung der öffentlichen Moral" verboten. Sämtliche Exemplare wurden konfisziert, Autor und Verleger - Mohammed El-Sharqawy, der sich als Blogger bereits einen Namen gemacht hatte - wurden vor Gericht beordert und mit einer Geldstrafe belegt. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

Obwohl lange vor dem Arabischen Frühling erschienen, liest sich "Metro. Kairo Underground" (dt. 2012) wie eine Vorwegnahme der ägyptischen Revolution. Anschaulich beschreibt El-Shafee in präzisen Andeutungen die desolate Situation eines Landes, das in Korruption und Willkür, in Armut und Verzweiflung versinkt. Mit erstaunlicher Treffsicherheit registriert der Autor auch das Brodeln knapp unterhalb der Oberfläche, das die Menschen schließlich auf die Straße treibt, weil sie erkennen, wo die Wurzel ihres Elends begründet liegt.

Hier treten bereits die staatlich angeheuerten Schlägertrupps auf, welche Demonstranten (vorwiegend die Frauen) offen gewaltsam angreifen. Das probateste Mittel der Machterhaltung ist, Angst zu verbreiten. Der Comic bewegt sich zwischen historischem Vorbild - der 2004 entstandenen Widerstandsbewegung Kifaja ("Es ist genug!") - und einer dunklen Vorahnung der Ereignisse von 2011.

Wenngleich Sozialkritik und Kritik am Regime in Ägypten keineswegs neu waren, scheinen es tatsächlich die Mittel des Comics zu sein, die die ägyptische Zensur auf den Plan riefen. El-Shafees hastig hingeworfene Zeichnungen wirken in einem autoritären System offenbar genauso verunsichernd wie der umgangssprachliche, von SMS- und Blogger-Sprache beeinflusste Stil.

Metro als Metapher

"Metro" zeigt sich als vielschichtiger Comicroman, der Alltägliches, Soziales und Politisches so aufschlussreich miteinander verknüpft wie die geografische Oberfläche einer Stadt mit ihrem unterirdischen Wurzelwerk - worauf schon der Titel hinweist. Desgleichen weist die zentrale Metapher des Käfigs und des Gefangenseins über das Regime Husni Mubarak hinaus. Tatsächlich formen die beiden U-Bahn-Linien im Zentrum Kairos eine geschlossene geometrische Figur, deren Schnittpunkte die Stationen Sadat (direkt am Tahrir-Platz) und Mubarak bilden. Zusammen mit den Stationen Naguib und Nasser schließt sich ein historischer Kreis der Präsidenten des Landes seit dem Sturz der Monarchie (1952) und dem Beginn der Republik im Jahr 1953.

Die Metro fungiert in El-Shafees Comic nicht nur als Metapher des Widerstands ("Underground"), die Stationen bilden gleichsam das komplementäre Gegenbild zur allgegenwärtigen Ausweglosigkeit. Die Einblendungen des U-Bahn-Plans samt Präsidentenstationen unterlegen dem Comic einen eigentümlichen Rhythmus. Die Haltestellen sind mit Zitaten der historischen Protagonisten versehen. Anders als die deutsche Ausgabe, enthält die italienische einen aufschlussreichen Hinweis zur Station Naguib: "Ritorno all’inizio . . ."

Das "Zurück zum Anfang" ist lesbar als Anspielung auf eine verpasste Demokratisierung: Die Versuche von Ägyptens erstem Präsidenten Mohamed Naguib, die aus einem Militärputsch hervorgegangene Republik aus der Umklammerung durch die Armee zu befreien, wurden vereitelt durch seinen Nachfolger Gamal Abdel Nasser. Die Geschichte der Republik setzt sich fort in einer schicksalhaften Folge von Staatsstreichen und Ausnahmezuständen. Sie führt, jenseits des Buches, zum Tahrir-Platz, der 1952, nach dem Sturz der Monarchie, seinen Namen erhielt: "Platz der Befreiung".

Martin Reiterer, geboren 1966, Germanist und Kulturpublizist, lebt in Wien, befasst sich speziell mit dem Medium Comics.

Marjane Satrapi: Persepolis. Bd. 1 "Eine Kindheit im Iran", Bd. 2 "Jugendjahre". Zürich, Edition Moderne, 2004/2005.Amir & Khalil: Zahra’s Paradise. Die Grüne Revolution im Iran und die Suche einer Mutter nach ihrem Sohn. Aus dem Englischen von Reinhard Pietsch. München, Knesebeck 2011.Jean-Pierre Filiu / David B.: Die besten Feinde. Eine Geschichte der Beziehungen der Vereinigten Staaten mit dem Nahen Osten (Erster Teil 1783/1953). Aus dem Französischen von Uli Pröfrock. Berlin, avant-verlag, 2012.Magdy El-Shafee: METRO. Kairo Underground. Zürich, Edition Moderne, 2012.